1 | September 2018

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Der frisch gestärkte Kragen seines viel zu teuren Hemd kratzte unangenehm am Hals. Fahrig, mit zittrigen Fingern lockerte er den Stoff von der Haut und zwang sich, nicht mit den Nägeln über die brennende Haut zu fahren. Ob er wohl schon wieder rote Flecken hatte?

Dann die nächste Hand, die ihm hingestreckt wurde. Es wurde ein lasches Händeschütteln, das er abhandelte, ohne der Person in die Augen zu sehen. Wie am Fließband arbeitete er die Schlange der trauernden Menschen ab, streckte seine Hand aus, drückte schwitzige, kalte, warme, schwielige Finger. Wie am Fließband bewegte er den Arm nach vorne, umschloss mit seinen Fingern die wechselnden Hände, bewegte ihn einige Male auf und ab, bevor er den Arm wieder an seiner Seite hinabfallen ließ. Seinen Blick hielt er strikt auf den Boden gerichtet, von den Menschen vor ihm, nahm er lediglich die Hände und Schuhe war, wobei er sich wunderte, welche Vielfalt an Schuhen anscheinend für eine Beerdigung angebracht waren. Denn neben schicken Lackschuhen, sah er auch auf farbige Turnschuhe, Riemchensandalen und Trachtenschuhe mit dunkelgrünen Schnürsenkeln, die er schon seit seiner Kindheit nicht mehr gesehen hatte.

Der Kies unter seinen feinen Anzugschuhen war weiß und staubig. Er hatte immer fest daran geglaubt, dass es auf einer guten Beerdigung regnen müsste – schon allein aus Respekt den Verstorbenen gegenüber. Kalt und regnerisch sollte es sein, damit sich die Hinterbliebenen auch der harten Realität stellen müssten, dass sie von nun an auf ein Familienmitglied, Freund oder Nachbarn verzichten würden. Stattdessen schien die Sonne höhnisch auf sie herab und er studierte einen kleinen schwarzen Käfer, der sich durch das Gebirge der sorgfältig gepflegten Steinwüste pflügte.

Die vielköpfige Raupe aus Menschen schob sich einen Schritt nach vorne und streckte seine Fühler neu aus. Diesmal hatte sein Gegenüber üppig manikürte Nägel und war hartnäckig genug, ihn nicht wieder loszulassen, bis er selbst einige tröstende Worte hervorgepresst hatte. Während der kurzen Unterhaltung wünschte er sich nichts mehr, als endlich die juckende Stelle an seinem Hals berühren zu können. Als von ihm abgelassen wurde, hatte sich der rote Fleck in seiner Vorstellung bereits bis zu seinem Kinn vorgearbeitet.

Irgendwann war es vorbei, die Menschen zogen weiter in das Wirtshaus im Dorf und der Friedhof leerte sich. Der Ring um seine Brust begann sich für einen Moment zu öffnen, sodass er wieder etwas Luft in seine lechzenden Lungen ziehen konnte. Gleichzeitig war ihm klar, dass dies erst die Ruhe vor dem Sturm war. Er schloss für einen Moment die Augen und konzentrierte sich ganz auf das Gefühl des gleichmäßigen Luftstroms, der durch Nase und Rachen in seine Bronchien, zählte bis acht. In dieser himmlischen Ruhe, in der er seinen Kopf entleerte, zählte er bis vier. Als er die Augen wieder öffnete, ließ er auch seinen Atem entweichen und blähte dabei die Backen. Das Atmen hatte er in einer Therapiesitzung gelernt und zunächst als völligen Esoterik-Blödsinn abgestempelt. Nach einigen Wochen hatte er zu seinem Leidwesen festgestellt, dass es ihm das Intermezzo besser den Kopf frei räumte als seine heiß geliebten Zigaretten. Allerdings hatte diese Erkenntnis nicht dazu geführt, dass er das Rauchen hätte sein lassen. So ließ er auch jetzt seine Finger in die Innentasche seines Sakkos gleiten und beförderte Schachtel und Feuerzeug hervor. Erst als der bläuliche Rauch vor ihm aufstieg und sich seine Lungenbläschen mit einem Aufschrei gegen die Misshandlung wehrten, fühlte er sich wieder wie ein Mensch.

Der erste Teil war also geschafft. Der Kies knirschte und raschelte, als er sich zu dem Grab neben ihm umdrehte und er das erste Mal einen Blick hineinwarf. Da lag er nun, der Sarg aus Eichenholz – auf ihm ein Blumenmeer und verstreute Krümel Erde und Sand. Und in der Kiste, eingehüllt in einen schwarzen Anzug, gebettet auf elfenbeinfarbener Seide, lag ein gebrochener Körper. Ein Körper, der einen getriebenen Mann beherbergt hatte und nun den Dienst quittiert hatte. Für manche ein Tag zum Trauern, für andere ein Tag zum Feiern. Er zog wieder an seiner Zigarette, zählte bis acht, quälte seinen Körper, während er vier Takte wartete und blies den Rauch langsam aus, bis die acht wieder erreicht war. So gefiel ihm die Atemübung am besten.

„Michael!", das Zischen seiner Mutter schnitt durch seinen blauen Kokon. „Lass das – wie sieht das denn aus? Mach das aus!"

Michael gönnte sich einen letzten Zug, dann trat er die Zigarette im Kies aus, wo sie einen hässlichen grauen Punkt in der weißen Unbeflecktheit hinterließ. Es gefiel ihm, eine Unregelmäßigkeit zu hinterlassen, eine kleine Sünde auf heiligem Boden. Sein linker Mundwinkel zuckte leicht bei dem Gedanken, welche der Betschwestern morgen seinen Filter aufheben würde, mit einer Miene, als hätte sie in eine Zitrone gebissen.

Er widerstand dem Drang, sich direkt die nächste Kippe anzustecken und fragte stattdessen mit zum Frieden erhobenen Handflächen: „Besser?"

Der Blick, den er sich einfing, hätte Glas schneiden können, aber er wusste, dass er heute ohnehin nicht als Sieger vom Platz gehen würde. Er musste nur den restlichen Nachmittag überstehen, dann den Leichenschmaus, dann zum Auto und ins Hotel, morgen wäre er wieder zuhause und der Alptraum hätte ein Ende. Der Unterschied, den einige Kilometer zwischen den Wohnorten machen konnten, war unbeschreiblich, das hatte er viel zu spät lernen dürfen.

„Ich kann es immer noch nicht glauben, dass sie das letzte Lied nicht gespielt haben im Gottesdienst – ich meine, das war doch abgesprochen!", seine Mutter hatte sich bei seinem jüngeren Bruder untergehakt und stand vor der Öffnung im Boden, in der ihr Mann und damit auch Michaels Vater erst vor wenigen Minuten verschwunden war. Sie sah zerbrechlich aus in ihrem Kleid, das viel zu weit an ihrer knochigen Figur hing. Sein Bruder sah erwachsener aus als beim letzten Mal, an dem sie sich gesehen hatten, und er strahlte die Kraft aus, die sowohl der Mutter als auch ihm selbst fehlten. Mit geraden Rücken stand er da und hielt ihre alternde Frau aufrecht, stützte sie und führte sie.

Und er selbst? Versuchte sich abseits zu halten und nahm nur widerwillig den Platz in der Familie ein, so sehr mit sich selbst beschäftigt, dass er für einen kurzen Moment etwas wie Neid in sich aufflackern fühlte. Felix gehörte dazu, hatte immer dazu gehört. Er war im elterlichen Dorf geblieben, war dabei sich mit seiner Freundin ein Haus zu bauen und ein Leben zu schaffen – war im Schatten der Eltern aufgewachsen und der Stolz der Familie geworden. Jetzt war er in der schweren Stunde der Fels in der Brandung, der sie zusammenhielt und dem Leben verbot, sie in unterschiedliche Richtungen zu spülen, obgleich es für alle schmerzhaft war.

„Mama, das ist doch niemandem aufgefallen!", sagte Felix sanft. „Wir kommen später zurück, lass uns gehen."

„Aber die Blumen...", setzte die Mutter an und deutete auf die Gestecke, die alle am Fuße der Aussegnungshalle drapiert waren und nur darauf warteten, ihren Platz am Grab zugeteilt zu bekommen.

„Das machen doch die Bestatter", erklärte er wie ein liebevoller Lehrer und machte einen Schritt rückwärts, die Mutter vorsichtig in Richtung der Straße ziehend. Kurz trafen sich die Blicke der Brüder. Beide Augenpaare hart, doch aus unterschiedlichen Gründen. „Lass uns zum Wirt gehen. Sonst warten sie doch auf uns."

„Du hast ja Recht", murmelte sie und blickte auf. Michael folgte ihrem Blick und stellte mit mildem Erstaunen fest, dass sie neben den Bestattern und dem Pfarrer, die sich bei den Parkplätzen unterhielten, die letzten auf dem kleinen Friedhof am Ortsrand waren. Nur Felix Freundin Kerstin stand noch bei ihnen, der Rest war bereits gegangen, um sich auf ihre Kosten den Wanst vollzuschlagen und einige Biere über den Durst zu trinken. Warum Begräbnisse meistens in einem Gelage und einer Familienfeier endeten, war für Michael schon immer befremdlich gewesen – man gedachte weniger der Toten, als zu feiern, dass es einen dieses Mal noch nicht erwischt hatte und trank auf das eigene Leben. Auf das Fortbestehen in dieser Welt, während man sich fragte, ob es die nächste überhaupt gab. Wobei sich diese Frage sicher nicht alle stellten, die am Ende des Tages wankend nach Hause gingen.

Auch wenn der Weg zum Wirtshaus zur Post im Dorf recht kurz war, entpuppte sich dieser als Spießrutenlauf. Während Felix die Mutter stützend vorausging, ordnete sich Kerstin neben Michael ein. Wie bei einem Schulausflug bewegten sie sich in Zweierreihen den Gehsteig entlang. Fehlte nur noch, dass sie ihn an der Hand nahm und diese erst wieder losließ, wenn der Lehrer es ihnen erlaubte. Es kratzte wieder an seinem Hals, der Kragen rieb wieder auf seiner Haut – er hätte sich heute Morgen nicht mit den gebrauchten Klingen vom Vortrag rasieren dürfen. Wann war er eigentlich so eitel geworden, dass ihm der perfekt ausrasierte und penibel gestutzte Vollbart wichtig geworden war?

Es juckte ihn schon wieder in den Fingern, sich eine neue Zigarette anzustecken.

„Weißt du, du kannst dich ruhig heute zusammenreißen", rügte ihn Kerstin. „Du fährst nachher wieder, aber wir können uns noch die nächsten Wochen fragen lassen, was mit dir los war!"

„Was soll das jetzt heißen?", fragte Michael tonlos, während seine Hand doch erneut in die Innentasche glitt und an der mit Plastik folierten Pappschachtel zerrte. Er fragte, obwohl er die Antwort schon kannte. Er wusste, was sie ihm als nächstes vorhalten würde. Dass er geflohen war, dass er Felix zurückgelassen hatte, dass er, das egoistische Arschloch, in die Stadt verschwunden war. Er konnte die Tirade schon hören; verschloss sich vor ihr, bevor sie eine Chance gehabt hätte, auf seine Frage zu antworten.

Statt einer Antwort seufzte Kerstin nur leicht, das einzige Geräusch kam just vom Klicken des Feuerzeugs, das mit einem Funken das Benzin zu einer im Wind flackernden Flamme entzündete, die Michael an die Zigarette hielt, welche zwischen seinen Lippen steckte.

„Das zum Beispiel", sagte Kerstin. Ihre Stimme bebte beinahe mit unterdrückter Wut. „Du weißt, wie sehr sie es hasst. Warum tust du es trotzdem?"

Ja, warum? Michael zählte wieder bis vier, diesmal vier Schritte, bis er dem Rauch aus den Lungen entweichen ließ. War es nur wieder eine Form, sich als Rebell zu fühlen, seine Nonkonformität zu zeigen oder war es eine kleine Rache an der Familie, vor der er geflohen war? Nein, eigentlich tat es ihm leid, seine Mutter zu verletzen, Felix und Kerstin zur Zielscheibe von neugierigen Fragen zu machen, aber er konnte seine Übersprungshandlungen noch immer nicht kontrollieren. Gleichzeitig wusste er auch, dass die Debatte ums Rauchen auf dem Friedhof ein reiner Stellvertreterkrieg war. Andere Themen, enttäuschte Erwartungen und schwelende Konflikte brachten sich dahinter in Stellung und warteten darauf, neues Öl ins Feuer zu kippen und den Flächenbrand auszulösen.

„Du hast schon gesehen, dass die Bestatter auch geraucht haben, oder?", entgegnete er, „Das interessiert doch wirklich keinen mehr."

„Sie schon", ihr Tonfall wurde kälter. „Dass du dich am Grab benommen hast wie ein Vollidiot, lassen sie dir ja noch durchgehen. Immerhin ist dein Vater gestorben. Aber wenn wir da jetzt reingehen, stellst du dich besser an, ja? Schon deiner Mutter zuliebe. Und Felix. Es ist nicht fair, sie jetzt allein zu lassen."

Irgendetwas passte nicht. Kerstin ließ nicht die Leier los, mit der Michael gerechnet hatte – es hab keine, na ja kaum Beschuldigungen, stattdessen appellierte sie an ihn. Und es stellte ihn vor eine Entscheidung. Sein Plan war von Anfang an gewesen, sich möglichst stumm in eine Ecke zu setzen und den restlichen Tag über sich ergehen zu lassen, als Beobachter eines Spektakels, dem er sich nicht zugehörig fühlte. Ein weiterer nervöser Zug an der Zigarette gab ihm Zeit, um nachzudenken. Er wusste, dass er mittlerweile oft nur noch für sich handelte, aber dieses Privileg hatte er sich hart erkämpft in den letzten Jahren. Dennoch waren sein Bruder und seine Mutter nicht der Auslöser für seine Flucht gewesen. Der Grund dafür war vor wenigen Minuten im alten Familiengrab unter die Erboberfläche gebracht worden. Es kratzte an ihm, dass sie wusste, wie sie ihn packen konnte, wie sie ihn wieder eingliedern konnte, wie einen braven Soldaten, in Reih und Glied bringen konnte.

„Er vermisst dich", brachte sie schließlich hervor. „Weißt du das überhaupt?"

„Ich glaube nicht, dass er das tut", sagte er spitz und zählte bis acht, bevor er seine Lippen wieder vom Filter der Zigarette löste. Die Zigarette brannte weiter. Die Glut fraß sich an Papier und Tabak in Richtung des Filters, der zwischen seinem Daumen und seinem Zeigefinger steckte. Seine Beine bewegten sich selbstständig weiter, im Gleichschritt mit seiner Eskorte. Er war plötzlich wieder das brave Kind, das etwas widerwillig der Familie hinterhertrottete, die seine ganze Welt war, das noch nicht hinterfragte. Was Kerstin sagte, bezog sich natürlich nicht auf die Zigaretten, sie schob sie lediglich als willkommenen Vorwand vor. Sie meinte seinen Widerstand, sich einzufügen. Seine automatische Abwehrreaktion, seinen Unwillen, noch immer den guten Jungen zu mimen. Denn das war er für niemanden hier mehr – nur zum Schein nach außen brauchten sie ihn noch.


Mittlerweile standen sie am Bürgersteig, vor der Treppe, die hinauf in den Schankraum führte. Nach der letzten Iteration der Atemübung trat die Zigarette aus, legte wieder eine Spur auf dem Boden, auf dem er aufgewachsen war und richtete sich auf. Ohne weiter auf Kerstin zu achten, drängte er an ihr vorbei, die Stufen hinauf und trat ein.

Felix hatte den hinteren Schankraum für den Leichenschmaus reserviert und eindecken lassen. Das Kaffeegeschirr stand bereits auf den schweren Holztischen, um die sich die Gäste scharten. Bedienungen in einheitlichen Outfits quetschten sich schwer beladen mit Tabletts voll mit Kuchen, Kaffeesahne und Bier zwischen den Stuhlreihen hindurch und versorgten die älteren Herrschaften mit allem, nach dem ihnen der Sinn stand. Es wurde gelacht und gegessen, bevor die trauernde Familie überhaupt anwesend war. Michael war immer wieder von der Anstandslosigkeit fasziniert, die mit Tradition verwechselt wurden. Andererseits – der Mittelpunkt war nicht der Ort, an dem er sich wohl fühlte.

An der Stirnseite des Raumes stand mittig ein quadratischer Tisch, an dem Felix ihre Mutter vorsichtig platzierte und ihr den Stuhl zurechtrückte, bevor er sich selbst auf die Bank fallen ließ, die den gesamten Raum an der Außenseite umschloss. Gutes Handwerk vom Schreiner aus dem Kaff. Der Gedanke tauchte in der Stimme seines Vaters in Michaels Kopf auf und setzte sich fest. Funktionale Einrichtungen im Bauernhausstil gab es nicht mehr häufig – sie waren ja auch hoffnungslos altmodisch. Insgesamt schien das Wirtshaus aus einer anderen Zeit zu stammen, es hatte konserviert, was anderswo schon lange schon lange einem modernen Ambiente hätte weichen müssen. Der feste Glaube daran, dass was gut war, auch von hier und von Hand war, war ihm schon als Kind zur Genüge eingeimpft worden.

Für einen kurzen Moment noch verharrte er im Türrahmen, um sich für den zweiten Teil des Dramas zu wappnen, der am Abend unausweichlich im Höhepunkt des Trauerspiels enden würde. Es musste Jahre her sein, dass er hier gewesen war und alles wirkte antiquiert, sogar die Zeitungsausschnitte und Vereinswappen, die an den Wänden ausgestellt wurden. Das helle Sonnenlicht, das durch die mit Spitze verhangenen Fenster fiel, brach sich an den verglasten Bilderrahmen und machte träge wirbelnden Staub bis unter die Decke sichtbar. Die Holzbalken waren wohl bei der letzten Renovierung ausgespart wurden, denn deutlich zeigten sie noch die Spuren von unzähligen Abenden, als man noch in Innenräumen rauchen durfte. Eine Gesetzeslage, die sich Michael sehnlichst zurückwünschte.

Mittlerweile waren so viele Gäste in dem kleinen Raum versammelt, dass er sich fragte, ob er tatsächlich all die Hände geschüttelt hatte. Hatten sie alle kondoliert?

Am anderen Ende des Raumes, setzte sich eine schmale blonde Gestalt neben Felix. Sie schob ihren gertenschlanken Körper grazil auf die Bank. Natürlich war sie vorschriftsmäßig in schwarz gekleidet, beugte sich mit sorgfältig besorgt zusammengezogenen Brauen zu seiner Mutter, fasste ihre Hand und fand sicherlich wärmende Worte. Die Falschheit dahinter, konnte er sogar von hier an ihrer spitzen Nase ablesen. Das bisschen Mut, das er sich auf dem Weg hierher erarbeitet hatte, den Trotz, den er nach dem Gespräch mit Kerstin in sich hatte aufwallen fühlen – all das war fort.

Atmen, atmen, atmen.

Acht, vier, acht.

Es funktionierte nicht, seine Brust hob sich zu schnell, zu flach, zu unkoordiniert. Na gut, dann eben anders. Anstatt sich, wie geplant, auf den Platz neben Felix zu setzen und von dort den restlichen Tag möglichst unbeteiligt auf das Ende der Veranstaltung zu warten, lenkte er seine Schritte zum Tresen.

Während er auf sein Bier wartete, versuchte er verzweifelt seine Gedanken zu kontrollieren. Warum war sie hier? Na gut – zugegeben, sie wohnte hier im Ort. In einem recht geräumigen Haus auf zwei Etagen, Garten, Hund. Hund? Ob Ginny wohl noch lebte? Die Schäferhund Dame war schon in die Jahre gekommen, als er ausgezogen war. Aus seinem Haus.

Der Schaumkrone auf seinem Bier gab er keine Zeit, in sich zusammenzufallen. Stattdessen nahm er einen großen Zug, schluckte, nochmal. Was denn noch alles heute? Reichte es denn nicht, dass das halbe Dorf schon einen Blick auf das schwarze Schaf der Familie hatte werfen können? Reichte es nicht, dass er sich den alten Zwängen aussetze? Reichte es denn nicht, dass er Felix und seine Mutter heute schon wieder enttäuscht hatte? Dass er damit fertig werden musste, dass der Mensch, der ihm sein ganzes Leben lang Angst gemacht hatte, jetzt ein recht würdeloses Ende gefunden hatte? Dass er... die Liste war lang. Aber auch sie war noch da, Julia. Schleimte sich bei seiner Familie ein, zeigte ihnen, wie eine gute Schwiegertochter war, hätte sein können, und bildete wie immer ein wunderbares Gegenbeispiel zu ihm.

Sein Kopf raste, sein Herz flatterte. Auch die Ehrlichkeit, die ihm Kerstin entgegengebracht hatte, brachte ihn durcheinander. Was sollte das schon heißen, dass Felix ihn vermisste? Michael wurde nicht vermisst, vor allem nicht von seiner Familie – verflucht, verabscheut, verscheucht. Ja, das schon aber doch nicht vermisst.

„Michael", eine warme Hand legte sich auf seinen Unterarm, „mein Beileid! Aber, es ist schön, dich wieder zu sehen. Wie lange ist es jetzt her, dass du weggezogen bist?" Eine ältere Dame stand vor ihm, leicht gebückte stützte sie sich auf ihren Gehstock. Frau Müller lächelte ihr sanftes Frau Holle Lächeln und sah zu ihm auf. Mit der Zeit schien sie geschrumpft zu sein, doch die Erinnerungen an die endlosen Nachmittage in ihrem Haus drängten sich übermächtig in sein Bewusstsein.

„Ah, danke", er nahm noch einen Schluck von seinem Bier.

„Erzähl doch, was machst Du jetzt?"

Michael senkte den Blick. Sie hatte ihn direkt aus seinem Gedankenstrudel gerissen und hinderte ihn daran, weiter im Selbstmitleid zu baden. Gleichzeitig sah sie ihn so erwartungsvoll an, dass ihm schlecht wurde.

„Nichts Besonderes. Immer noch die Marketingagentur", zwang er sich zu sagen, „und es sind jetzt fast zwei Jahre, dass-"

„Ist schon gut", sie tätschelte seinen Arm, „ich will dicht nicht am Begräbnis von deinem Vater ausfragen. Aber schau doch auf einen Kaffee vorbei, wenn Du wieder in der Gegend bist, ja?"

„Danke. Und gern."

Mit einem letzten Drücken ihrer Finger wandte sie sich ab und verschwand zu einem der Tische, an dem sich einige Senioren aus dem Dorf bereits prächtig unterhielten und die Sahnetorte, eine Spezialität des Hauses, auf ihre Kuchengabeln luden.

Der restliche Nachmittag verlief schon eher so, wie er es sich ausgemalt hatte. Nur, dass er nicht an der Seite seiner Mutter und seines Bruders saß, sondern an der Bar stand und die meiste Zeit dem Raum den Rücken zugewandt ließ. Ab und an versuchte jemand, ich in ein Gespräch zu verwickeln, aber seine kurz angebundenen Antworten verleiteten niemand, dieses Interesse lange aufrecht zu erhalten. Das Bier erstickte langsam auch die bitteren Gedanken daran, dass Julia auf dem Platz saß, auf dem er sitzen sollte. Dass sie genau dort geblieben war, wo hin er nach ihrer Trennung am liebsten nie wieder zurück wollte, fraß ein ätzendes Loch in seine Brust, das nur Alkohol und Zigaretten stopfen konnten. Als seine Mutter ihren Kopf auf Julias Schulter ablegte und lautlos an ihrem Hals schniefte, schnürte eine unsichtbare Kordel Michaels Hals zu, sodass ihm die Luft wegblieb. Flüchtig fing er Felix Blick auf, der ihn mit harten Gesichtszügen musterte.

Es reichte. Er musste an die Luft.


Noch im Gang zog er die Schachtel Zigaretten aus Hosentasche und steckte sie sich an, sobald sich seine Schuhspitzen über die Türschwelle schoben.

Acht. Vier. Acht.

Erst nach einigen Zügen bemerkte er, dass die Hand, die die Zigarette zu seinem Mund führte, zitterte. Warum war er überhaupt gekommen? Damit seine Mutter ihren Freundinnen nicht erklären musste, dass er eine Niete war? Als Sohn, als Ehemann, als Bruder.

Er kratzte sich ausgiebig am Hals und genoss, das süße Brennen. Bestimmt hatte er jetzt hübsche Kratzer auf der Haut.

„Kommst Du noch mit zum Grab?", während sich Felix hinter ihm materialisiert hatte, hüpfte Michaels Herz.

„Mama?"

„Kommt nach. Ich will erstmal sehen, ob die Bestatter alles richtig hergerichtet haben und die Blumen gießen. Spart uns später Diskussionen", er fuhr die Nähte seines Sakkos nach und spielte mit einem losen Faden, der aus dem Knopfloch ragte. „Kommst Du?"

„Mhh", Felix zog ob Michaels Antwort die Brauen nach oben, doch dieser gestikulierte nur in Richtung der Straße, der zum Friedhof am Dorfrand führte und setzte sich in Bewegung. Was ihn ritt, noch einmal freiwillig zurück zum Grab zu gehen, war ihm nicht klar, bis sich Kerstins Satz wieder in sein Bewusstsein schob. Er vermisst dich.

Den Weg bis zum schmiedeeisernen Gatter des Friedhofs legten sie schweigend zurück, beide hatten die Hände in den Hosentaschen vergraben und bemühten sich, die Anwesenheit des jeweils anderen möglichst nicht zu quittieren. Wortlos steuerte Michael die Gießkannen an, die grün und unförmig neben dem Wasserhahn standen.

Absichtlich drehte er den Wasserstrahl beim Befüllen der Kannen nicht voll auf, um die Zeit hinauszuzögern, mit der er mit Felix allein sein musste. Als er damals mit gerade 18 Jahren von zuhause ausgezogen war, um in nahegelegenen Stadt zu studieren, hatte sich das Verhältnis seinem Bruder deutlich verschlechtert. Mit seinen frischen vierzehn hatte er die Gründe noch nicht verstanden, warum er ihn bei ihren Eltern zurückließ und sich kaum noch meldete. Nach der Trennung von Julia und dem Streit, der auch innerhalb der Familie entbrannt war, hatten sie nicht mehr miteinander gesprochen. Seit fast zwei Jahren herrschte also Funkstille zwischen ihnen und es schmerzte, dass ausgerechnet ihr Vater die beiden wieder zusammenbrachte.

Während Felix die Gestecke wässerte, rang Michael mit sich, ob er derjenige sein sollte, der das längst überfällige Gespräch begann. Auch wenn er gegangen war – Felix hatte seine Entscheidung äußerst bereitwillig akzeptiert und hatte sich nach dem Streit ebenfalls nicht gemeldet.

„Wie geht es Mama?"

„Willst Du das wirklich wissen?", Felix klang bissig.

„Mhh", musste er es ihm so schwer machen? Immerhin kannte er die Gründe für seinen Weggang.

„Nicht gut. Was glaubst Du denn?", fauchte Felix und drehte sich zu ihm um. Wütend kniff er seine Augen zusammen. „Und überhaupt, spiele jetzt bloß nicht den besorgten Sohn! Du lässt deine Exfrau deine Mutter trösten, während Du dir die Kante gibst. Also bitte!"

„Hey!", Michaels Wut war ebenbürtig. „Julia war doch schon immer mehr ihre Tochter als ich ihr Sohn."

„Ja und warum?" Felix raufte sich frustriert die Haare.

„Weil ich mit unseren Eltern noch nie gut ausgekommen bin?"

„Nein, verdammt. Weil Du manchmal ein richtiges Arschloch sein kannst, Michi", Felix Stimme war noch immer fest, doch bei seinem letzten Satz sah er zu Boden.

„Ach, natürlich, jetzt bin ich schuld, dass ihr nicht damit klarkommt, dass ich... dass ich...", Michael konnte es einfach nicht aussprechen.

„Dass Du deine Frau betrogen hast?", spie ihm Felix entgegen.

„Nein, dass..."

„Was? Denkst Du ich habe ein Problem damit, dass Du schwul bist? Ernsthaft? Damit kommst Du jetzt an?", da sich einige Gräberreihen weiter jemand an einem Grab zu schaffen machte, um dort eine Kerze anzuzünden, senkte Felix seine Lautstärke auf ein zorniges Flüstern.

Michael schnaubte, fühlte sich aber seltsam ertappt. „Ich bin nicht schwul."

„Weißt Du, hör einfach auf, alle Fehler immer bei anderen zu suchen. Nicht ich bin hier das Problem, sondern Du!", Felix bohrte bei den nächsten Worten mehrfach seinen Zeigefinger in Michaels Brust. „Du hast richtig scheiße gebaut, weil Du deine Frau betrogen hast! Du bist einfach verschwunden und hast alles über deinen Anwalt regeln lassen. Du hast uns hier alle behandelt, als wären wir dir nicht mehr würdig und hast nicht mehr mit uns gesprochen. Dass deine Affäre ein Mann war, ist mir so egal. Aber wie... wie..." Verzweifelt warf er seinen Arm in die Luft, nur um sich dann über das Gesicht zu fahren und sich einige Tränen von den Wangen zu wischen. Seine Wut war während seines Monologs verpufft.

Trotzig hob Michael das Kinn. „Ich bin nicht schwul."

„Das ist doch nicht der verdammte Punkt! Nenn es doch wie Du willst! Du hast uns hier allein gelassen. Du hast mich allein gelassen mit Mama und Pa! Meinst Du es war schön, wie sich die beiden an die Gurgel gegangen sind, wegen des Anwaltschreibens zum Kredit? Hm?"

„Pa hat mich schon immer gehasst."

Kurz stockte Felix in seiner Anklage und seufzte. „Stimmt, das hat er. Und das tut mir wirklich leid. Vor allem das mit dem Jungen damals... Aber Mama und ich sind doch nicht er!"

„Lass das mit Dave da raus", Michael weigerte sich, die Worte seines Bruders wirklich zu hören.

„Mann Michi, jetzt sei doch nicht so. Das, was passiert ist, ist richtig... beschissen gewesen alles. Weißt Du, Julia war danach wirklich oft bei uns. Ihr ging es richtig schlecht und das mit dem Haus... Du hast ihr ja auch nicht geholfen, dabei warst Du es doch..."

„Ah, also nur weil ich gegangen bin, bin ich jetzt für alles verantwortlich?", giftete Michael.

„Ehrlich gesagt – so wie Du gegangen bist: Ja", Felix sah ihn direkt an. „Warum?"

„Warum was?"

„Warum hast Du dich nie bei mir gemeldet?", Michael hatte Schwierigkeiten seine gehauchten Worte zu hören. Doch, als er sie verstand, hatte er Schwierigkeiten den Kloß in seinem Hals herunterzuschlucken. Die Antwort war schrecklich einfach, aber er hatte sich noch nicht getraut sie laut auszusprechen. Plötzlich juckte die Stelle an seinem Hals erneut, doch er hatte Angst, sie wieder zu kratzen, um sie nicht blutig zu scheuern.

Acht. Vier. Acht.

„Weil...", seine nächsten Worte waren kaum wahrnehmbar und er wunderte sich selbst, dass er sie zu Stande brachte. „Weil ich mich geschämt habe." Als Felix ihn nur weiter fixierte, fuhr er fort. „Nach dem Streit, da war ich mir so sicher, dass ihr nichts mehr von mir wissen wollt. Ihr alle. Als Pa dann diese Sachen gesagt hat über... na Du weißt schon", er machte eine ausladende Geste, „da dachte ich, er spricht für euch alle."

„Spinnst Du?", Felix stutzte. „Den Schwachsinn glaubst Du?"

„Warum hast Du dann nichts gesagt?", jetzt war es an Michael, vorwurfsvoll zu klingen.

„Ich war so wütend auf dich, Michi. Aber es tut mir leid, dass ich dich in der Situation nicht unterstützt habe. Aber, man versteh mich doch! Ich war einfach so enttäuscht..."

„Deswegen denkst Du, ist es eine gerechte Strafe, wenn Du mich im Glauben lässt, Du hättest ein Problem mit meiner Sexualität", es brach Michael, wie schuldbewusst sein Bruder die Augen abwendete. Eigentlich, und das wusste er, traf Felix keine Schuld. Alles, was er ihm vorgeworfen hatte, war richtig. Er hatte sich benommen, wie ein verletzter Teenager und hatte um sich geschlagen. Wie so oft. Bevor Felix etwas sagen konnte, setzte Michael nach: „Es sollte mir leidtun, dass ich nicht mehr da war."

„Was dir wirklich leidtun sollte, ist dass Du nicht mehr mit uns gesprochen hast. Mit mir", er verzog das Gesicht, „Du kannst manchmal wirklich anstrengend sein, so wie jetzt auch..."

„Danke!", stöhnte Michael.

„...aber Du bist mein Bruder, und ich stehe zu dir. Auch, wenn Du mir das nicht glaubst. Und – manchmal solltest Du das vielleicht auch."

„Was meinst Du?", Michel verschränkte die Arme vor der Brust.

„Ich verstehe, dass dir das peinlich war. Und gut, dass es dir peinlich ist!", er schnaubte leise und ein Mundwinkel versuchte sich an einem müden Grinsen. „Aber, dass Du einfach den Schwanz einziehst, weil Du denkst, ich hätte ein Problem damit, dass Du schwul bist", als Michael undefinierbar knurrte, hob Felix abwehrend die Hände. „Ja, klar, du bist nicht schwul, ich hab's verstanden. Aber, steh zu dir. Und vergiss das, was Pa gesagt hat. Er ist nicht mehr da."

Unwillkürlich wanderte Michaels Blick zu dem über und über mit Blumen geschmückten Grab. Rosen steckten zwischen grünen Kränzen, die mit verschiedenen Vereinswappen und Widmungen versehen waren. Auf den Grabstein war eine kleine goldene Plakette angebracht worden. Geliebter Ehemann, Vater und Freund. Ja, er war sein Vater gewesen, aber war er es immer noch? Und hatte Felix recht, dass er sich zu sehr an dem orientiere, was war? Dass er zu viel Wert auf die Meinung eines Menschen legte?

Verlegen rieb sich Felix den Hinterkopf. „Sag mal...", setzte er an, „hast Du eigentlich... hast Du eigentlich wieder jemanden?"

„Nein", Michael lachte trocken auf. „Wieso?"

„Also... ist daraus nichts geworden?"

„Aus der Affäre?", fragte Michael und wartete das Nicken seines Bruders ab. „Nein. Nein, daraus ist nichts geworden." Das warum ließ er an dieser Stelle unbeantwortet und hoffte, dass Felix nicht nachfragen würde.

„Hättest Du gerne, dass was draus geworden wäre?", diese Frage war zwar ebenso unangenehm, aber deutlich unverfänglicher zu beantworten.

„Damals schon, ja. Aber mittlerweile bin ich froh, dass es nicht geklappt hat", nach einer kurzen Pause fragte er: „Hey Felix?"

„Hm?"

„Kommst Du mich bald mal besuchen?" 

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