30. Fragen an den Herrn, freudlose Kräcker

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Zur Georgskirche ging man nicht, man stieg hinauf. Man besuchte auch nicht den Gottesdienst, man beehrte ihn mit seiner Anwesenheit. Kirchenschiff, Turm und das mit Efeu überwucherte Pfarrhaus waren weithin sichtbar, und wurden darin lediglich vom einzigen Hochaus der Stadt übertroffen, das einsam auf einer Kuppe am Rand der Stadtautobahn stand.

Das Geläut der Georgsglocken drang bis in den hintersten Winkel der Stadt, bis in jede Ecke der umliegenden Dörfer. Ihr Klang war feierlich und erdig, zugleich jedoch mahnend und zurechtweisend.

Ich war bereits auf dem Weg und unterquerte gerade die Stadtautobahn (an der Tunnelwand prangte schon seit Jahren ein übergroßes RAF-Logo in Knallrot), als mir auffiel, dass ich so gar nicht sonntäglich gekleidet war. Ungebügeltes Hemd, kurze Hose, Sportschuhe. Für eine Umkehr war es zu spät, der Gottesdienst begann in nicht einmal fünfzehn Minuten.

Zum Abschließen des Rades blieb keine Zeit, daher schob ich es einfach hinter eine Buschreihe, welche neben der Toreinfahrt stand, auch wenn es hier verdächtig nach Hundepipi roch. Die Glocken hatten ihr Geläut beendet. Schon von weitem sah ich die hoch gewachsene Gestalt des Pastors am Kirchenportal aufragen. Ein schwarzer Schatten. Unbeweglich, starr, wie gemeißelt und dort eingepflanzt. Noch hatte ich die Chance umzukehren, um dem Spuk zu entkommen. Ich konnte meine Koffer packen, den nächsten Zug besteigen, und erst morgen irgendwo im Norden, Süden, Westen oder Osten wieder aussteigen, mich in einer einsamen Pension einquartieren, die ich dann für die kommenden Wochen nicht verlassen würde.

Gleichzeitig wusste ich, dass ich dazu viel zu feige war. Ich hing viel zu sehr am Gewohnten und Vertrauten, auch wenn es manchmal schmerzte. Insofern passte ich wahrscheinlich ganz gut in diese Stadt.

„Hopp, hopp, guter Freund! Beeilung!" Lauenstein zückte ein Klemmbrett und schrieb etwas auf. Bestimmt führte er penible Listen mit all den Sünderinnen und Sündern, die er, genau wie mich, heute zu sich zitiert hatte. Ich war offensichtlich sein letztes Häkchen für heute. Ich konnte mir gut vorstellen, dass die Sünderlisten der vergangenen dreißig Jahre sauber abgeheftet und verschlossen in seinem Büroschrank standen. Nein, ein Einzelner hatte einfach nicht das Recht, seine Mitmenschen dermaßen zu drangsalieren, schon gar nicht wenn er selbst voller Makel war. Die Hasenscharte in seinem Gesicht war da noch das Harmloseste, wobei ich annahm, dass genau diese für Lauensteins Unmenschlichkeit verantwortlich war, denn wie hatte schon der gute Erich Fromm geschrieben: Nur wer sich selbst aufrichtig liebt, kann auch seine Mitmenschen lieben.

„In der ersten Reihe ist reichlich Platz!", raunte Lauenstein mir im Vorbeigehen zu. Ich blickte ihm ins Gesicht. War das etwa Erstaunen, was ich darin sah? Erstauen darüber, dass ich es war, den er im Copyshop getroffen und nicht als Lupo Scholz erkannt hatte? Seine Selbstsicherheit bekam sichtlich Risse. Doch nur für einen kurzen Moment, dann war sein Blick wieder starr, eiskalt, die Gesichtszüge hart wie Stein.

Pastor Lauenstein raffte seinen Talar, schritt zum Kirchenportal und zog die Türflügel mit einem kräftigen Ruck zu. Mit einem dumpfen Knallen fielen sie ins Schloss. Ohne mich eines weiteren Blickes zu würdigen rauschte er an mir vorbei, ins Kirchenschiff hinein, nach vorn zum Altar, und das alles lautlos. Es schien als würde er dabei nicht einmal den Boden berühren.

Die Kirchenbänke waren nur zur Hälfte gefüllt. Ich hätte überall einen freien Platz gefunden, doch ich schlich brav bis zur ersten Reihe und ließ mich dort auf das erstbeste Sitzkissen fallen. Von allen Seiten durchbohrten mich missbilligende Blicke, entweder weil ich so spät gekommen war, oder weil ich so schlampig gekleidet war. Vielleicht auch wegen beidem, oder etwas Drittem, von dem ich nichts mitbekommen hatte.

Unendlich lange schien es her zu sein, dass ich einem Gottesdienst beigewohnt hatte, doch an den Abläufen, Ritualen und Geschichten hatte sich naturgemäß nichts geändert seit ich vierzehn Jahre alt gewesen war. Begrüßung, gemeinsames Gebet, Predigt, An- und Abkündigungen, das Vaterunser, dann, gegen Ende, der Klingelbeutel, zwischendurch regelmäßige Kontrollblicke des Pastors, ob ich auch wirklich bei der Sache war, nicht in der Nase bohrte und keine Pimmelmännchen ins Gesangsbuch kritzelte.

Nach Ende des Gottesdienstes blieb ich wie versteinert sitzen und starrte den Allmächtigen, Gekreuzigten über dem Altar an. Er sprach nicht zu mir, und ich nicht zu ihm. Ich wusste auch gar nicht was ich ihm hätte sagen sollen. Vielleicht fragte ich ihn mal nach dem alten Scheck, weshalb Gottvater ihn nicht aufnehmen wollte und ihn stattdessen als feuergeilen Dämon durch die Gegend geschickt hatte. Oder weshalb Mara nichts mit mir zu tun haben wollte, oder weshalb meine Mutter mir erzählen wollte, dass ich einen anderen Vater hatte, oder weshalb Rebecca mich ans Bett gefesselt hat und Lauenstein mich zu sich zitiert. Auf einmal hatte ich doch eine Menge Fragen, aber der Pastor ließ mich nicht.

„Kommen Sie, Lupo!" Widerspruch unmöglich. Lauensteins Stimme klang  als würde er seinen Hund zu sich rufen, um ihm das Fell über die Ohren zu ziehen. Auf der Empore sah ich die Orgelspielerin ihre Partitur zusammenschieben und in einer alten Ledertasche verstauen. Der Küster begann die Lampen zu auszuschalten und die Kerzen zu löschen.

Sein schwarzer Talar flatterte in der lauen Mittagsluft als Pastor Lauenstein über den gepflasterten Kirchhof hinüber zum Pfarrhaus eilte. In der geöffneten Tür wartete seine Frau. Sie schien sich kaum verändert zu haben. Noch immer trug sie ihr Haar zu einem strengen Dutt gebunden, noch immer war sie hager und wirkte mindestens zehn Jahre älter. Frau Lauenstein war das Bild einer Frau, die mit jeder Faser ihres Körpers Demut und Abstinenz lebte.

Als ich bei ihr ankam streckte sie mir die Hand entgegen und drückte die meine mit einer solchen Zartheit und Kraftlosigkeit, dass ich glaubte ein Säugling hielte sich daran fest.

„Guten Tag, Herr Scholz. Einen wunderbaren Sonntag ihnen! Im Arbeitszimmer stehen Kaffee und Ingwerplätzchen!" Wollen wir doch mal sehen, ob dieser Sonntag so wunderbar wird, dachte ich. Und die Kekse, die waren schon vor vierzehn Jahren so trocken, scharf und ungezuckert, dass ich bis heute nicht verstand wie man solche freudlosen Kräcker ernsthaft als Keks bezeichnen konnte.

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