44. Rien ne va plus!

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Ich versuchte Hieronymus im Kopierladen zu erreichen, doch er nahm nicht ab. Dann versuchte ich es bei ihm zu Hause. Ich ließ es lange klingeln. Endlich ging jemand dran, doch es war nicht Hieronymus.

„Bei Teufel." Eine träge, monotone Stimme, die ich kannte.

„Armbrecht? Sind sie es? Kann ich Herrn Teufel bitte sprechen!"

Es schmatzte im Hörer, als pule sich Armbrecht Reste vom Mittagessen aus den Zähnen.

„Muss ich gucken!"

Der Hörer wurde zur Seite gelegt. Jetzt stellten sie also auch bei Hieronymus zu Hause alles auf den Kopf. Ich hörte es rumsen und poltern. Es klang als würden sie Bücher oder Aktenordner auf den Boden werfen. Weit entfernt hörte ich mehrere Leute miteinander reden, jemand bellte einen Befehl. War das Kurt gewesen? Ich klemmte mir den Hörer zwischen Schulter und Wange und öffnete meinen Anrufbeantworter. Ob ich den wieder hinbekam? Das verknotete Magnetband lag noch immer so wie ich es vor einigen Tagen hineingestopft hatte. Was hatte ich auch erwartet? Dass Amanda es reparieren würde, oder dass es sich von selbst wieder instand setzte?

Ich zog die Kassette heraus und wickelte mir das Band ums Handgelenk. Sah schick aus.

Nach einer gefühlten Unendlichkeit wurde der Hörer wieder aufgenommen, Armbrecht war dran.

„Zwei Minuten Herr Scholz, nicht mehr! Herr Teufel muss heute nämlich noch eine kleine Reise antreten. Aufs Revier!"

Armbrecht lachte heiser. Der hatte ja doch Humor!

„Lupo?"

Hieronymus' Stimme klang matt, alles Leben schien daraus entwichen zu sein. Er tat mir leid. Ich hörte Vogelgezwitscher. Wahrscheinlich war er, eingeklemmt von Polizeibeamten, auf seinem Balkon, wo er so gern saß, Musik aus einem alten Kofferradio hörte und Kreuzworträtsel löste. Ich versuchte es mit einer guten Nachricht.

„Das mit dem Geld ist erledigt. Bis auf den letzten Schein!"

Ich erwartete Weißgott keine Jubelschreie, keine Lobeshymnen, irgendein Zeichen der Erleichterung aber schon. Stattdessen hustete er bloß ein lahmes „Danke, Alter!" durch die Muschel, gefolgt von einem Seufzer.

„Mensch Hieronymus, die Sache ist erledigt, die Blüten, in Nichts aufgelöst, pulverisiert, weg, komplett aus der Welt geschafft, verstehst du! Die können dir nichts, und mir auch nichts, sie können deinen Laden nicht, Hieronymus, sie haben nichts in der Hand! Hieronymus?"

Wieder ein Seufzer, tief wie die Spalten der Mönchskuppe.

„Ach, Lupo, alles scheiße! Du hast großartige Arbeit geleistet. Danke dafür."

Was wurde das hier? Eine Abschiedsrede?

„Sie haben alles auseinander genommen, jeden verdammten Kopierer."

„Na und, lass sie doch schrauben, wenn es ihnen Spaß macht!"

„Ach Lupo!"

Ich kam mir vor wie Kleindoofi. Verstand Hieronymus nicht, oder kapierte ich nicht worum es ging? Im Hintergrund hörte ich Armbrecht murmeln, dass die zwei Minuten gleich vorbei seien.

„Farbkopierer Nummer drei. Das war kein Hardwarefehler. Da hatte sich an einer dämlichen Stelle Papier verklemmt, das ich übersehen habe. Es war ein Geldschein, ein Geldschein hatte sich im Gerät versteckt und nur darauf gewartet von einem schnöseligen Kripobeamten gefunden zu werden. So, mein Lieber, das war's. Rien ne va plus. Es sollte wohl so kommen."

Ich redete weiter auf Hieronymus ein, versuchte ihn zu überzeugen, dass es immer einen Ausweg gab, noch nicht alles bewiesen war, eine Tür sich schloss, damit eine andere aufgehen konnte und solche Sachen. Ich merkte jedoch wie sinnlos mein Gerede war und verstummte.

„Nimm dir im Laden was du gebrauchen kannst, hast ja den Schlüssel. Geld habe ich keins mehr. Tut mir leid, Mann, tut mir verdammt leid!"

Es knackte im Hörer. Ich vernahm noch Armbrechts Stimme, dann war das Gespräch beendet. Das Magnetband an meinem Handgelenk gefiel mir plötzlich garnicht mehr. Ich griff danach, riss es mir mit aller Kraft herunter und schleuderte die Kassette aus dem offen stehenden Wohnzimmerfenster. Ich hörte wie sie draußen auf den Ziegeln aufschlug, das Dach hinunter rutschte und im Nachbarhof auf das Pflaster knallte. Vielleicht fand sie dort jemand, nahm sie mit nach Hause, klebte das Magnetband, spulte es sauber auf und legte es in seinen eigenen Anrufbeantworter. Die fordernde Stimme von Mama Beauty, die zarte Entschuldigung von Mara und die anklagende Rede von Krypto-Club-Andreas waren dann für immer seins.

Ich fühlte mich wie ein flügge gewordenes Vögelchen auf dem Rand seines Nestes. Der Weg zurück war versperrt. Es ging nur nach vorn und nach unten. Ich musste die Flügel aufspannen und springen. Springen und fliegen, denn hinter mir lauert die Katze und will mich fressen. Keine warme, weiche mit freundlichen Augen, wie Amanda eine war, sondern eine rabenschwarze mit eitrigen Triefaugen, abgebrochenem Reißzahn und löchrigen Ohren. Kein Geld, kein Job, umzingelt von Menschen, die mir an den Kragen wollten, das war meine Lage.

Ich ließ mich aufs Sofa fallen und griff nach dem Telefon. Amanda sprang von ihrem Kissen und legte sich neben mich.

„Ach Amanda, was sollen wir nur tun?" Sie sah mich an, und wieder hatte ich das Gefühl, dass sie mich verstand, und jeden Augenblick anfangen würde zu sprechen. Sie legte die rechte Pfote auf den Hörer. Das gab mir Kraft. Ich wählte Svens Nummer. Er nahm nach dem zweiten Klingeln ab. Sven war gerade dabei, seine Sachen für eine längere kulinarische Reise durch den Thüringer Wald zu packen.

„Du fährst nach drüben?"

„Ein neues Projekt. Ich will einen Restaurantführer über die DDR schreiben."

„Gibt es da nicht bloß Massenabfertigung? Tisch zugewiesen bekommen, bestellen, schnell, schnell, kaum fertig, zack, ist der Teller wieder weg, und raus?"

„Ein Vorurteil, Lupo. Ein ganz scheußliches Vorurteil! Warst du denn schon mal in einem Restaurant der Deutschen Demokratischen Republik?"

Ich musste nachdenken. Wie Sven „Deutsche Demokratische Republik" sagte, klang es fast als wäre es das bessere Land, als würde er für immer dort hin ziehen.

„Siebte Klasse, wir haben eine kirchliche Jugendgruppe in Nordhausen besucht. Wir hatten Schokolade und Bananen dabei. Ein paar von meinen Mitschülern haben sich wie die letzten Idioten benommen. War alles in allem nicht so toll."

Sven fragte, ob bei mir alles in Ordnung sei, ich würde mich so belämmert anhören.

„Kann ich deinen Bulli für ein paar Tage haben? Ich muss hier dringend mal raus."

„Wenn du ihn hinterher saugst und wäschst! Ich habe ja noch meinen kleinen Flitzer."

Der kleine Flitzer, das war ein roter Mercedes mit Klappdach. Sehr schick. Gerade im Sommer. Sven wollte in der nächsten Stunde aufbrechen, daher beschrieb er mir wo er den Autoschlüssel verstecken würde. Hinter dem großen, vermoosten Stein in der Auffahrt.

„Doch nicht etwa der, auf den Sonja bei der Party damals gekotzt hat?"

Doch, es war genau der. Na gut, das war zehn Jahre her.

Sven war ein Engel, mein Retter in der Not. Am liebsten hätte ich den Wagen gleich abgeholt und wäre noch heute Abend losgefahren, aber da war noch der Friseurtermin am morgigen Vormittag, und ich wollte Frau Scheck nicht enttäuschen, und meine Haare hatten es wirklich nötig. Trotzdem lief ich in den nächsten zwei Stunden wie aufgescheucht durch meine Wohnung und suchte zusammen, was ich für einen mehrwöchigen Zelturlaub brauchte. Unterwäsche, T-Shirts, kurze Hosen, Hemden, Socken, zwei Paar Schuhe, Waschzeug, Handtücher, ein Skizzenbuch, in dem ich die zweite Ausgabe von Silva Mystica planen wollte, meine Fototasche, zwei weitere Objektive, je ein Zehnerpack Farb- und Schwarzweißfilme.

Am Ende standen zwei prall gefüllte Reisetaschen im Flur. Dazu kamen das Zelt, die Luftmatratze, die Fußpumpe, der Schlafsack, der Bunsenbrenner und der Klappstuhl. All das befand sich draußen im Schuppen. Ich wollte es erst herausholen wenn ich losfuhr. Lebensmittel konnte ich unterwegs einkaufen.

In der Küche öffnete ich mir eine Sinalco. Als ich den ersten Schluck nahm, fielen mir aus irgendeinem Grund Rebeccas verschmorter Fotoapparat und die Bilder, welche sie gemacht hatte ein. Weshalb gerade jetzt, konnte ich nicht sagen. Entwickelt waren sie schon seit einigen Tagen, genauer angesehen hatte ich sie mir jedoch noch nicht. Ich hatte sie einfach vergessen. Ich ging in die Dunkelkammer, holte die Abzüge und setzte mich mit ihnen an den Küchentisch.

Neun Aufnahmen hatte ich retten können, die anderen waren Feuer-Schecks Hitze zum Opfer gefallen. Ich bildete drei Reihen mit jeweils drei Bildern. Drei mal drei gleich neun. Wie hatte ich mir das eigentlich vorzustellen? Hatte Rebecca selbst auf den Auslöser gedrückt während sie mit Scheck, durch ihn hindurch, oder wie auch immer geflogen war? Hatte die Kamera selbst ausgelöst? Was hatte ich hier vor mir liegen? Aufnahmen aus dem Jenseits? Ich sah vertraute Formen, bekannte Farben. Wellen, schwarze Wellen. Wasser, dunkel wie Lakritz. Und tief, so unendlich tief. Tief wie die Stollen auf der Mönchshöhe, düster wie das Nass, welches in ihren Bäuchen schwappte.

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