45. Auftragsschnitt mit Raubtieraroma

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Ich war so in das Betrachten der Bilder vertieft, dass ich jäh zusammen fuhr als Amanda auf den Tisch sprang. Die Fotos segelten herunter und verteilten sich weitläufig auf dem Boden. Da lagen sie nun, düstere Landschaften, verwinkelte Räume voller Schatten, Zeugnisse der anderen Seite. Es waren genau diese Dinge, die ich sah, wenn ich den Bernstein abnahm. Somit stand fest, dass es alles andere als Zufall war, dass ich den alten Scheck hatte beschwören können. Als Wittich hatte ich offenbar eine besondere Beziehung zu alldem, was Normalsterbliche nicht sahen.

Am nächsten Tag stand ich Punkt elf im Friseursalon. Ich wollte das Ganze schnell hinter mich bringen, gleich danach Svens Bulli holen, ihn vollpacken und so schnell es ging verschwinden.

Fritsch kam mir bereits am Eingang entgegen. Er schüttelte mir die Hand, sein freundliches Lachen war ansteckend, und ich bereute es nicht mehr ganz so sehr, dass ich hier war. Fritsch wies mir einen freien Stuhl zu. Wann hatte ich mir zuletzt von einem Friseur die Haare schneiden lassen? Als ich noch zu Hause wohnte, hatte Mama Beauty allen die Haare geschnitten, nur sich selbst nicht, sie war immer zu Fritsch gegangen und hatte sich verwöhnen lassen. Ich weiß noch wie ich immer dachte: das ist nicht deine Mutter, die da zur Tür herein kommt, das ist die reiche Tante aus Amerika, der Filmstar, so schick sah sie immer aus.

Das Haareschneiden bei uns zu Hause lief immer gleich ab. Kochtopf auf den Kopf, alles was unten rausguckte wurde abgeschnitten. Manchmal mussten mehrere Töpfe ausprobiert werden, weil mein Kopf gewachsen war, meine Mutter es aber nicht wahrhaben wollte. Pottschnitt hieß das ganze, daher auch mein Spitzname in der Grundschule. Potti. Und Potti wurde gern in der Pause vermöbelt. Später dann, ab der fünften oder sechsten Klasse, bin ich dann immer zu meiner Oma gegangen, die mir die verschnittenen Haare mit viel Liebe und viel Brax-Haarcreme so herrichtete, dass ich mich wieder unter Menschen wagen konnte. Später dann hat Mara mir die Haare geschnitten, ohne Topf, jedoch mit viel Fingerspitzengefühl und einem Blick für die Tücken meiner Haarwirbel und einem Sinn für modischen Schick. Seit es mit Mara und mir nicht mehr so rund lief, waren auch meine Haare etwas vernachlässigt.

Ich ließ mich in das knarzende Kunstleder des Frisierstuhls fallen. Fritsch trat von hinten an mich heran, band mir eine weiße Krepppapierbinde um den Hals und warf mir mit einem eleganten Schwung den dunkelgrauen Haarkittel über.

„Wie darf's denn heute sein, Lupo?"

Das klang als wäre ich erst gesten hier gewesen, dabei war mein letzter Besuch bei Fritsch bestimmt schon über fünf Jahre her.

„Geht ja heute auf Erika. Hab schon gehört, vollbringst ja neuerdings wahre Wundertaten!"

Hatte ich mit Frau Scheck nicht vereinbart, dass sie mit niemandem über diese Sache reden sollte? Offenbar hatte sie es vergessen, oder bewusst ignoriert. Fritsch kämmte mein Haar. Hinten, vorn, an den Seiten. Über dem rechten Ohr musste er mehrmals ansetzen, die Haare waren verklebt. Es ziepte. Ich nahem mir eine von den Fachillustrierten, die auf einem kleinen Beistelltischchen lagen, und blätterte lustlos darin herum. Scheinbar war der Oberlippenbart stark im Kommen. Da hatte mich mein Bauchgefühl nicht getäuscht. Die Haare wurden im Nacken lang getragen, der Pony kurz geschnitten. Die reinsten Zuhälterfrisuren! Dauerwellen waren auch in, Koteletten eher auf dem Rückmarsch.

„Bitte einfach nur kurz. Rundherum. Keine Extras."

War das ein enttäuschter, leicht beleidigter Ausdruck in Fritschs Gesicht? Hatte er das Schnittexperiment des Jahrhunderts für heute Vormittag erwartet? Da musste ich ihn leider enttäuschen.

„Ich habe den Auftrag, sie richtig schick zu machen!"

Ach, dachte ich, und was bin ich jetzt, ein verlotterter Lude? Unter dem Begriff „schick sein" verstand ja bekanntlich jeder etwas anderes. Im Spiegel sah ich Fritschs ratloses Gesicht, dahinter, an der mit Blümchentapete verzierten Wand, seine zahlreichen Urkunden und Auszeichnungen, allesamt hübsch gerahmt. Weiter hinten im Salon gab es einen breiten Durchgang, hinter dem der Damensalon lag. Eine kleine Frau mit Lockenwicklern in den Haaren und einer monströsen Trockenhaube über dem Kopf winkte mir zu. Es war Frau Scheck. Sie hatte mich im Blick, und ihre Gesten ließen keinen Zweifel zu. Ich kam hier erst wieder raus, wenn ich tippi toppi geschniegelt war. Fluchtversuch: undenkbar.

„Okay Fritsch, was schlägst du vor, soll ich den Bart behalten?"

Fritsch überlegte, während er bereits hier und da an meinen Haaren herumzuschneiden begann.

„Erstmal müssen die Löcher raus. Sieht ja aus wie Haarausfall! Dann sehen wir weiter. Der Bart? Ganz heiß im Moment, ganz heiß. Vielleicht nur nicht ganz so buschig. Ich dünne ihn ein bisschen aus. Dieser Typ aus dieser neuen US-Serien, wie heißt er denn noch, superheiß sage ich dir, superheiß!"

„Okay, fang einfach an!"

„Koteletten?"

„Etwas kürzer!"

Ich versuchte mich zu entspannen, griff nach einer weiteren Illustrierten und ließ Fritsch einfach mal machen. Diana und Charles im Glück, zu Hause bei Roberto Blanco, die unglückliche Liebe des Roy Black. Honigsüßer Boulevard tröpfelte mir ins Hirn. Die Leute hatten Probleme! Hier bei Fritsch war die Welt noch in Ordnung, während draußen allmählich das Chaos Überhand gewann. Von Zeit zu Zeit warf ich einen Blick in den Spiegel, überprüfte Fritschs Bemühungen und schaute was Frau Scheck machte. Eine schwarzhaarige Frau saß jetzt neben ihr, die ich vorher nicht bemerkt hatte. Sie unterhielten sich angeregt miteinander während die Friseuse die Trockenhaube zur Seite klappte und die Lockenwickler aus Frau Schecks Haaren entfernte. Die Fremde schien Frau Scheck gut zu kennen, ich sah es an ihrem Gesichtsausdruck. Wenn zwei Menschen sich zum ersten Mal sehen, dann schauen sie anders in die Welt. Jetzt zeigte Frau Scheck kurz auf mich, die andere folgte ihrem Blick, dann plauderten sie weiter. Zu gern hätte ich gewusst, worüber sich die beiden so lebhaft austauschten.

Ich blätterte noch ein weitere Zeitschrift durch, bevor Fritsch mir mit einem „So!" signalierte, fertig zu sein. Aus einer großen Tube drückte er sich etwas Haarcreme in die Handfläche und arbeitete sie anschließend großzügig, vom Ansatz nach hinten, in meine Frisur hinein, so dass meine Haare wie kurze Igelstacheln nach allen Seiten abstanden.

Fehlte nur noch der Bart. Fritsch umrundete den Stuhl und begann mit seiner Arbeit. Dumm nur, dass er mir damit den Blick in den Damensalon versperrte.

Eine Viertelstunde später löste Fritsch sichtlich zufrieden den Haarkittel, zog mir das Krepp vom Hals und sah mich erwartungsvoll an. Ich dankte ihm, ich lobte ihn. Ja, das hatte er gut gemacht. Besser als ich befürchtet hatte. Rauflustig sah ich aus, etwas verwegen, aber gepflegt. Ich gefiel mir. Fritsch nahm einen kleinen Flakon aus dem Regal und besprühte mir den Hals mit einem Hauch Moschusduft. Das war nur wirklich nicht meine bevorzugte Duftnote, doch es gehörte wohl zu Fritschs Servicepaket. Die Sicht auf Frau Scheck und ihre elegant gekleidete Gesprächspartnerin war wieder frei. Wie die Scheck sich heute in Schale geworfen hat! Weiße Bluse, Perlenkette, ein heller knielanger Rock, dunkle Schuhe. Nur die dünnen, von Krampfadern durchzogenen Beinchen passten nicht dazu. Die Schwarzhaarige trug ein dunkelblaues Kostüm und hohe Schuhe, dazu knallroten Lippenstift, der ihr wunderbar stand. Sie war deutlich jünger als Frau Scheck, fünfzig, vielleicht fünfundfünfzig.

War es Zufall oder kühle Berechnung, dass die zwei Frauen sich im selben Moment von ihren Stühlen erhoben, in dem Fritsch meinen Stuhl herumdrehte und „Voila!" rief? Frau Scheck kam auf mich zugeeilt.

„Herr Scholz!" Sie fasste mich an der Schulter, besah sich meinen Haarschnitt und lobte Fritschs Arbeit. Hinter ihr stand die Frau in Dunkelblau und lächelte mich etwas zu gewollt an. Aus der Nähe sah sie älter aus, als ich gedacht hatte. Ihr Gesicht kam mir bekannt vor. Ich hatte sie schon einmal gesehen. Wo konnte das gewesen sein? Es fiel mir bestimmt wieder ein.

„Herr Scholz, darf ich ihnen Frau Schlesinger vorstellen. Sie haben bestimmt von ihr gehört oder gelesen ..."

Peinliche Stille. Mein Hirn lief auf Hochtouren, wollte unbedingt Namen und Gesicht mit tief versunkenem Wissen verknüpfen. Dann fiel der Groschen. Er sauste mit einem Zischen durch die Luft landete mit einem lauten Klimpern auf dem mit Haaren übersähten Linoleumboden. Natürlich, das war sie. Weshalb war ich nicht gleich darauf gekommen? Jeden zweiten Tag war ihr Bild in der Zeitung, wegen irgendeiner Spende, einer Wohltätigkeitsveranstaltung, einem Kinderfest, der Geburt eines Tigerbabys oder der Neuanschaffung einer selten Antilopengattung. Vor mir stand Dorothea Schlesinger, die Direktorin des Grubenhagener Tierparks, der einzigen Attraktion, die diese Stadt zu bieten hatte. Außer Mara natürlich. An manchen Sommertagen, wenn der Wind aus Westen kam und es dazu noch besonders heiß war, dann roch es in unserem Städtchen bis in den hintersten Winkel nach Heu und Wildtierkacke. Hinzu kamen Gerüchte über Frau Schlesingers autoritären Führungsstil, ständig wechselnde Mitarbeiter, wild gefangene Tiere. Vor ein paar Jahren war ein alter Mann verschwunden als er aufs Klo gehen wollte, einem Kind waren von einem verhaltensgestörten Affen die Finger abgebissen worden. Doch der Park spülte Geld in die Rathauskasse, und das allein zählte.

Weshalb ließ sich eine wie die Schlesinger ihre Haare bei einem Normalfriseur wie Fritsch machen? Viel interessanter fand ich jedoch die Frage, woher Frau Scheck sie kannte.

Ich streckte Frau Schlesinger die Hand entgegen und wir begrüßten uns. Sie trug keinen Hochzeitsring. Stimmte ja, da war ja was gewesen. Die Trennung des Märchenpaares vor zwei Jahren, angeblich wegen eines Liebhabers, den er sich angelacht hatte. Direktor Schlesinger hatte quasi über Nacht Tierpark und Stadt verlassen und war nach Kanada verzogen. Das war sehr weit weg. Eine merkwürdige Geschichte.

Frau Schlesinger bemühte sich noch immer um ein Lächeln, doch so ganz wollte es ihr nicht gelingen. Ihr Blick war sorgenvoll, die Augen gerötet.

„Erika hat mir von ihrer Heldentat berichtet." Erschrocken und ein wenig zornig blickte ich zu Frau Scheck hinüber, die jedoch die sanfte Unschuld mimte. Frau Schlesinger trat ganz nah an mich heran, ich konnte ihr Parfum riechen, Rose, Butter, Minze und ein Hauch von Pferde-Aa.

„Sie haben doch dafür gesorgt, dass Erika nicht mehr von ihrem Mann belästigt wird ..."

Ja, so konnte man das auch betrachten.

„Ich meine, sie kennen sich doch mit so was aus ..."

Ich machte einen halben Schritt nach hinten, um mir die Schlesinger wieder auf Abstand zu bringen. Sie kennen sich doch mit so was aus, das war genau die Formulierung, welche Frau Scheck damals gebraucht hatte, damals, als sie so verzweifelt in meinem Wohnzimmer gesessen und von der unheimlichen Erscheinung in ihrer Küche erzählt hatte.

Sie kennen sich doch mit so was aus. Diesen Satz würde ich mir irgendwann auf Visitenkarten drucken lassen. Lupo Scholz. Ich kenne mich mit sowas aus! Wenn mich nicht alles täuschte, dann war ich geradewegs in ein Auftragsgespräch geschlittert.

„ Wie kann ich ihnen helfen, Frau Schlesinger?"

Fritsch nahm den Besen und begann den Boden zu fegen.

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