6- "Die weißen Bohnen"

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In [DD 5.1] kommt Namjoon allmählich an seine eigenen Grenzen der Belastbarkeit, und Tina "zwingt" ihn, mal einen Tag lang "verantwortlich sein"-Pause zu machen. Sie bettet das ein in einen allgemeinen Wohlfühltag mit einer kleinen Achtsamkeitsübung. Dazu erzählt Tina eine Geschichte, in der es darum geht, auch die kleinen Dinge wahrzunehmen und sich in Dankbarkeit zu üben.

Ich selbst habe das im Rahmen einer Gruppentherapie erlebt und sofort schätzen gelernt. Man richtet seinen Blick auf den Tag und die eigene Situation neu aus, wird wachsam gegenüber seiner Umgebung, kommt weg vom "sich im Kreis"-Drehen und fühlt sich schleichend immer besser und zufriedener. Kurz danach waren wir als Familie im Urlaub, und gleich der erste Tag war völlig verregnet. Markus (der gar nicht Markus heißt) wollte unbedingt trotzdem raus und die Gegend erkunden, ich brauchte das jetzt nicht unbedingt, hab aber natürlich mitgespielt, die Kinder haben sofort gegenan gemault. Toller Auftakt für einen Familienurlaub ... Als wir am zweiten Tag den nächsten größeren Supermarkt angesteuert haben, habe ich die weißen Bohnen gesehen und spontan zugegriffen. Wieder zu Hause bekam jeder eine Handvoll davon, und ich habe diese Geschichte erzählt. 

Die weißen Bohnen

In Süditalien lebte einst ein sehr alter Mann. Er genoss sein Leben, und niemand hatte ihn je in schlechter Stimmung erlebt. Jeder kannte ihn und jeder mochte ihn.
Eines Tages fragte ihn ein kleines Mädchen, wie alt er denn sei. Er setzte sich neben sie auf den Rand des Dorfbrunnens und antwortete: "Ich bin 97 Jahre alt, und ich habe schon sehr viel gesehen und erlebt." Das Mädchen staunte, denn so eine große Zahl an Jahren konnte es sich gar nicht vorstellen.
Da erzählte ihr der alte Mann: „Weißt du, ich verlasse niemals mein Haus, ohne mir zuvor eine Hand voll Bohnen einzustecken. Ja, es stimmt, ich nehme mir immer eine Handvoll Bohnen mit. Ich nehme sie mit, um all die schönen Momente meines Tages einzufangen. So kann ich sie noch lange genießen. Für jede schöne Kleinigkeit, die ich tagsüber erlebe, lasse ich eine Bohne von der linken in die rechte Jackentasche wandern.."

„Was sind das für Kleinigkeiten?", fragte ihn das Mädchen, das aufmerksam zugehört hatte.
„Nun. Zum Beispiel so ein fröhlicher Plausch, wie ich ihn jetzt mit dir führe. Das Lachen meiner Frau, ein köstliches Essen, ein schattiger Platz in der Mittagshitze, ein Glas guten Weines am Abend. Der Ruf eines Vogels oder der Duft der reifen Feigen an diesem Baum dort. Alles, was meine Sinne und mein Herz erfreut. Manchmal sind es gleich zwei oder drei Bohnen.
Abends sitze ich dann zu Hause und zähle die Bohnen aus der rechten Tasche. Ich genieße diese Minuten. So erlebe ich noch einmal, wie viel Schönes Gott mir an diesem Tage geschenkt hat. Und immer wieder staune ich darüber, werde dankbar und freue mich. Selbst an einem Abend, an dem ich nur eine Bohne zähle, ist der Tag gelungen. Dann hat es sich zu leben gelohnt."

Dann schenkte der alte Mann dem Mädchen ein paar seiner Bohnen. Und als er die Freude in ihrem Gesicht sah, steckte er gleich noch eine Bohne in seine rechte Jackentasche."

Wie lange mein lieber Mann diese Aktion durchgehalten hat, habe ich nicht so recht mitbekommen. Aber die Kinder waren mit Feuereifer dabei und haben fleißig Bohnen von links nach rechts geschoben. Simon (der gar nicht Simon heißt) hat am ersten Tag tatsächlich noch vor dem Mittagessen weitere Bohnen gebraucht, weil die ersten 20 nicht gereicht haben. Dieser Urlaub war von so viel Zufriedenheit geprägt wie schon lange keiner mehr. Und hinterher habe ich noch wochenlang mitgewaschene weiße Bohnen aus der Waschmaschine gepult ...

Ich möchte - und schon gar nicht als Frau - bestimmt nicht im Mittelalter gelebt haben. Aber in einer Hinsicht hatten diese Menschen einen Reichtum, den wir heute völlig verloren haben. Sie hatten keinen Strom, keine Tante in Amerika, keinen Arzt und keinen Urlaub. Viele Menschen kamen für ihr ganzes Leben nicht aus dem Ort raus, in dem sie geboren wurden. Aber wenn sie an den langen Winterabenden zusammen saßen, die Frauen spannen und webten, die Männer reparierten das Werkzeug fürs nächste Jahr - dann gab es immer eine oder einen, der eine Geschichte zu erzählen hatte, grade so, wie ihm der Schnabel gewachsen war und seine Phantasie es hergab. Einander Geschichten zu erzählen oder etwas vorzulesen, ist ein wunderbares Gemeinschaftserlebnis. Und das müssen nicht Grimms Märchen sein. Das kann auch ein Kinderwitzebuch oder "Per Anhalter durch die Galaxis" von Douglas Adams oder einer der saukomischen Erdmännchen-Krimis von Moritz Matthies sein. (Obwohl - nein, diese Hörbücher werden von Christoph Maria Herbst so genial gesprochen, und an den kommt keiner ran.) Egal. Wenn Maja und Simon (die gar nicht so heißen und inzwischen 14 und 18 sind) beim Abendessen fast das Kauen vergessen, weil "der kleine Hobbit" so spannend ist, oder vor lauter Lachen gar nicht mehr essen können, weil sie sich grade mal wieder über Bonsai, einen total durchgedrehten Hund in einem Kinderbuch, kringeln müssen, dann sind wir Familie und genießen die gemeinsame Zeit. Ohne Handy, Tablet, Dates und pubertierendes Gemaule. Das sind unsere "Weiße Bohnen"-Momente gegen den grauen Alltag an.

Und manchmal verschenke ich diese Geschichte auch. Dann stecken in einer kleinen Karte mit Steckfach diese Geschichte und ein Tütchen mit Bohnen. Ich kann noch was dazu schreiben, und irgendjemand hält dann einen Moment lang inne, bevor er/sie - vielleicht ein bisschen langsamer und aufmerksamer als zuvor - durch seinen oder ihren Alltag geht.

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20.6.2019

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