Ohne dich, aber bei dir

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Mitten in der Nacht wache ich auf. Ich habe schlecht geträumt, von Tuas Vater, wahrscheinlich von seinem Tod, aber ich erinnere mich schon nicht mehr richtig daran. Nur der kalte Schweiß auf meinem Körper verrät, dass ich vor ein paar Stunden nicht in die angenehmste Art von Schlaf gefallen bin. Tua, der neben mir liegt, wirkt ähnlich ruhelos. Ich überlege, ob ich ihn wecken soll. Vorsichtig fahre ich mit der Hand über seine feuchte Stirn. Die Berührung scheint ihn tatsächlich zu beruhigen, aber er wacht nicht davon auf. Ich trete leise ans Fenster und schiebe den dunklen Vorhang ein Stück zur Seite. Draußen ist der Himmel noch immer kohlrabenschwarz. Weit und breit gibt es keine Straßenlaternen, deswegen funkeln die Sterne gemeinsam einsam am Firmament. Es sind kleine Sommersprossen im schönen Gesicht der Nacht. Ich denke zurück an meine Kindheit und frage mich automatisch, ob man in der ausgeleuchteten Plattensiedlung gleich um die Ecke, in der Tua aufgewachsen ist, genau wie in Marzahn bloß vereinzelte, besonders helle Sterne sieht.
Damals habe ich mich wohlgefühlt in meinem falschen Freundeskreis, ich kannte eben nichts anderes. Bei meinem Freund war es genauso. Als ich einen Blick über die Schulter werfe, kann ich nur seine Umrisse ausmachen. Er wälzt sich nicht mehr hin und her. Ich sehne mich nach einem Glas Wasser und beschließe, mich kurz runter in die Küche zu schleichen.
Die Stufen der Treppe knarzen unter meinen Fußsohlen und ich möchte niemanden wecken, deswegen laufe ich ganz am Rand, so schnell und so leise ich kann. In der Küche angekommen fülle ich schließlich ein Glas mit Wasser und trinke es aus, bevor ich es fast geräuschlos in den Geschirrspüler räume. Gerade will ich zurück nach oben, da dringt ein Wispern an mein Ohr.
"Ive." Es ist Kostja. "Ive, bist du das?"
Natürlich könnte ich so tun, als hätte ich nichts gehört, ich bin immerhin nicht seine Frau, nach der er ruft. Andererseits, was wenn er nun etwas dringend etwas braucht?
Ich schiebe mich durch die angelehnte Tür. "Ich bin's. Iara", erkläre ich hastig, denn im Dunkeln wird er mich wohl kaum erkennen.
"Oh, entschuldige. Ich dachte, du wärst Ivanka."
"Schon okay. Soll ich sie wecken, oder kann ich dir bei irgendwas helfen?", frage ich.
"Nein", erwidert er. Ich bin schon im Begriff zu gehen, da räuspert er sich und ich drehe mich wieder zu ihm um. "Du musst nicht, wenn du nicht möchtest, aber würdest du dich ein paar Minuten zu mir setzen?", bittet er mich.
Als er die kleine Lampe auf seinem Nachttisch anknipst, stehe ich schon bei ihm. "Wo?", frage ich ihn knapp. "Einfach hier aufs Bett?", deute ich auf die Kante.
"Ja, einfach da auf der Ecke." Er nickt in Richtung einer freien Fläche neben seinen Füßen und ich nehme Platz. "Was machst du denn hier unten? Kannst du nicht schlafen?", erkundigt sich Kostja besorgt.
"Nein, nein", winke ich ab. "Ich habe mir nur ein Glas Wasser geholt."
Tuas Vater mustert mich und einen Moment lang schweigen wir beide verlegen. "Ich rede manchmal gern nachts noch mit Ive. Irgendwie kann ich wohl besser denken, wenn die Sonne schon lange untergegangen ist."
Ich lächle sanft. "Tua auch."
Kostja spiegelt meinen Gesichtsausdruck. "Du nennst ihn bei seinem Künstlernamen. Ihm gefällt das, oder?"
"Ich habe ihn so kennengelernt, er hat mich nie korrigiert", zucke ich die Schultern und spüre dabei, wie mir das Blut in die Wangen steigt, als Kostja anmerkt: "Ich wünschte, er hätte es." Man sieht es nicht, wenn ich rot werde, dafür ist meine Haut ein paar Schattierungen zu dunkel. Tua merkt es intuitiv. Sein Vater kennt mich zum Glück nicht halb so gut wie er, sonst wäre es bestimmt gleich peinlich geworden für mich.
"Der Name war mein Vorschlag, weißt du?", sagt er. "Ivanka fand ihn toll. Ich schätze, er konnte sich irgendwann nur nicht mehr damit identifizieren." Kostja schluckt und ich höre aufmerksam zu, ziehe meine nackten Beine aufs Bett. Ich trage nur eine von Tuas Boxershorts und ein schlichtes schwarzes Spaghettiträger-Top.
"Je älter er wurde, desto weniger greifbar wurde er für mich. Wir haben uns auseinander gelebt, es war ein schleichender Prozess. Ich wusste gar nicht, dass das bei Vater und Sohn geht. Aber mit dem Alter kommt dann wohl doch die Weisheit. Vielleicht habe ich ihn von mir weggetrieben. Ich war zu hart zu ihm."
Ich schüttle den Kopf. "Manchmal glaube ich, er lebt in zwei Welten. Das Gefühl, dass er nicht greifbar ist, kenne ich nur zu gut."
Kostja nickt andächtig und hustet. Ich versteife mich, aber er fängt sich bald. "Iara, ich will ganz ehrlich mit dir sein. Du bist bei weitem nicht das erste Mädchen, dass er uns vorgestellt hat. Ivanka hat mir erzählt, dass er denkt, mit dir ist es anders. Und sie sagt, er klang am Telefon, als würde er es tatsächlich so meinen. Aber zu meiner Schande ist mein Sohn ein guter Lügner. Ich fürchte, er hat das von mir. Ich will dir die Beziehung mit ihm nicht ausreden, wenn er glücklich ist und dich glücklich macht, dann wünsche ich euch von Herzen alles Gute. Nur bitte sei vorsichtig."
"Er hat schreckliche Schuldgefühle", rutscht es mir raus. Jetzt, wo Kostja ehrlich zu mir war, will ich es auch sein. "Du wolltest nur das Beste für ihn und er hat das mit Füßen getreten. Er schämt sich und er weigert sich zu verstehen, dass du ihn trotzdem liebst."
"Er ist mein Sohn, mein eigen Fleisch und Blut, natürlich liebe ich ihn", erwidert Kostja empört.
"Ich weiß das, aber Johannes nicht. Ihr solltet euch aussprechen."
Kostja starrt grüblerisch ins Leere und ich stehe auf. "Ich sollte raufgehen. Wenn Tua aufwacht und sieht, dass ich weg bin, kriegt er einen Koller." Ich sage es so locker, man könnte meinen, es wäre ein Scherz, obwohl es mir bitter ernst ist mit dieser Aussage.
"Ja, mach das", nickt Kostja. "Danke für das Gespräch."
"Es war ja nur ein kurzes. Immer gern wieder", lächle ich.
Als ich die Tür hinter mir schließe, frage ich mich, ob es richtig war, Kostja etwas zu erzählen, was Tua mir gerade erst anvertraut hatte. Das sind immerhin seine Gefühle, er sollte sie selbst ansprechen. Ich muss wohl darauf vertrauen, dass sein Vater die Sache nicht gezielt adressieren wird und dabei eventuell sogar noch meinen Namen fallen lässt.
Definitiv habe ich unterschätzt, wie fremd mein Freund seinem Vater im Laufe der Jahre geworden ist. Ja, vermutlich gefällt es Tua, dass ich ihn bei seinem Künstlernamen nenne, aber seine Kindheit ist nicht der Teil seiner Vergangenheit, den er von sich abspalten möchte. Nachdem er ausgezogen war, ist in Berlin - weit bevor ich Tua kennengelernt habe - noch ein Haufen Scheiße passiert, von dem seine Eltern nichts wissen. Er hat niemandem von Maschas Schwangerschaftsabbruch erzählt. Seine Jungs haben es unweigerlich mitbekommen und ich weiß es, weil er sich mir geöffnet hat. Ansonsten - "Wo warst du?"
Instinktiv lege ich einen Finger an die Lippen. Tua hat sich vor mir aufgebaut, die Arme verschränkt und er blickt verärgert auf mich herab. Ein schwacher Lichtschein fällt aus seinem alten Kinderzimmer in den oberen Flur. Ich schiebe ihn in den Raum zurück und schließe die Tür hinter uns. "Ich habe mir unten ein Glas Wasser aus der Küche geholt."
"Wie lange brauchst du denn, um was zu trinken?"
Ich verdrehe die Augen. "Tua, was soll das, wieso pampst du mich an? Ich war höchstens fünf Minuten weg."
"Du hast mir versprochen, dass du in meiner Nähe bleibst", echauffiert er sich und ich falte entschlossen seine Arme auseinander, gehe einen Schritt auf ihn zu und dirigiere seine Hände an den Gelenken so, dass sie auf meiner Taille liegen.
"Das ist komplett irrational und du weißt das. Fünf Minuten", betone ich nochmal. "Ich verbringe täglich mehr Zeit allein im Bad als das, da bist du auch nicht dabei. Mein Versprechen gilt nach wie vor, aber wenn du anfängst mich zu bedrängen, fühle ich mich unwohl."
"Warum konntest du nicht schlafen, was ist los?", wechselt er abrupt das Thema
"Ich hatte einen Albtraum und dann hatte ich Durst", seufze ich. "Raste bitte nicht aus, aber ich war danach auch noch kurz bei deinem Vater im Zimmer."
Tuas Augen werden groß. "Bist du irre? Wenn er Hilfe braucht, hättest du mich wecken sollen!", zischt er.
"Tua!", gebiete ich ihm flüsternd Einhalt, bevor er noch so laut lospoltert, dass er seine arme Mutter dadurch weckt. "Es geht ihm gut, wir haben uns nur unterhalten."
"Es geht ihm überhaupt nicht gut und es wird ihm auch nie wieder gut gehen."
"Du machst mich noch wahnsinnig mit deiner Schwarzmalerei", fluche ich.
Er ballt die Hände zu Fäusten. "Mein Vater stirbt, warum muss ich mich immer noch dafür bei dir entschuldigen?!"
"Das ist doch gar nicht das Problem", knurre ich.
"Dann sag mir, was das Scheiß-Problem ist!", fährt er mich an.
"Du dramatisierst alles!", belle ich zurück. "Es ist beschissen, dass dein Vater stirbt und ich verstehe, dass es dir unfassbar schwerfällt, den Tod gerade realistisch als das zu sehen, was er ist: das Ende, und damit gleichzeitig der Beginn von etwas Neuem. Aber dein Pessimismus macht die Sache unerträglich für dich, und mich anzuschnauzen bringt dir gar nichts."
"Worüber habt ihr gesprochen? Über mich? Hast du vor ihm ausgeplaudert, was ich dir anvertraut habe?"
Ich beiße mir auf die Zunge.
"Fuck", spricht Tua meinen Gedanken aus. Er fährt sich über den Schädel, scheint nicht zu wissen wohin mit seinen Händen.
"Er hat Schuldgefühle, so wie du", meine ich kleinlaut.
"Du hättest dich da raushalten müssen", wirft er mir vor.
"Was soll ich denn tun?", platzt mir nun doch der Kragen. "Soll ich mich raushalten, oder soll ich dir nah sein? Das ist kein mal so mal so, wie es dir gerade passt, das ist ein Entweder-Oder!"
"Wir haben vorhin über extrem sensible Themen geredet und es ist nicht deine Aufgabe, das mit meinem Vater zu besprechen, sondern meine. Du hast dich eingemischt, Iara, jetzt hör auf dich rauszureden und übernimm endlich Verantwortung für dein Handeln!", fordert er mich auf.
"Mache ich doch, aber was ist denn mit dir?! Dass dein Vater stirbt, hat nix mit mir zu tun, du kannst also aufhören, mich wie das letzte Stück Dreck zu behandeln. Deine negativen Gefühle hole nicht ich hoch, das schaffst du ganz prima allein. Ich sehe doch, wie du in deinem Innern all den Schmutz von früher aufwühlst. Daran bin ich nicht schuld. Bei allem Verständnis für deine Trauer, deine Angst und deinen Schmerz, aber diesmal habe nicht ich dir wehgetan. Du trägst diesen Kampf mit dir selbst auf meinem Rücken aus. Ich weiß gar nicht, warum ich das überhaupt mit mir machen lasse", schnaube ich.
"Du bist nicht halb so verständnisvoll, wie du immer tust", murmelt er.
"Wie bitte?", gebe ich schrill zurück.
Tua geht blitzschnell auf mich zu und legt mir eine Hand über den Mund. "Meine Mutter schläft." Entschieden drücke ich seine Hand weg und blicke trotzig zu ihm auf.
"Wir müssen uns beide erstmal beruhigen", befindet er und zieht mich versöhnlich zu sich ran. Ich sträube mich einen Moment lang, aber er hat Recht.
"Ich bin sauer auf dich", stelle ich klar und sehe ihm fest in die Augen. Meine Brust hebt und senkt sich in einem schnellen Rhythmus. Mir ist warm geworden von unserem hitzigen Wortgefecht. Sein Blick gleitet in meinen Ausschnitt und ich küsse ihn hungrig. Was auch immer wir jetzt noch nicht geklärt haben, es kann warten. Danach ist die Stimmung zwischen uns ohnehin entspannter.

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