Kapitel 45

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Als ich mich nach mehreren Tagen und Dutzenden von Gesprächen vor den Spiegel stellte, konnte ich mich nicht wiedererkennen. Meine Augenringe hatten ein neues Niveau erreicht.

Und obwohl ich meine Psychiaterin ungern sah, fühlte ich immer stärker das Bedürfnis, sie aufzusuchen. Wahrscheinlich fand ich deshalb wieder den Weg zu ihr.

»Möchten Sie nicht wissen, warum ich hier bin?«, fragte ich Dr. Paisley und schaute sie direkt an. Zuvor hatte ich den Blickkontakt vermieden, genauso wie das erste Wort zu ergreifen.

»Ich habe das Gefühl, dass du es mir diesmal sagen wirst.«

Ihr Notizbuch fehlte natürlich nicht, während sie locker vor mir auf ihrem Sessel saß. Mit dem Unterschied, dass ich versuchte, dem weniger Beachtung zu schenken. In der gesamten Zeit hatte sie das blaue Büchlein langsam gefüllt, bald würde sie ein neues brauchen, dabei hatte ich noch nicht allzu viel von mir preisgegeben. Zumindest nahm ich das an.

»Ich habe nicht viel zu erzählen. Das meiste können Sie sich denken, aber Sie werden bestimmt solange nicht lockerlassen, bis Sie Ihre Antworten erhalten«, meinte ich nüchtern. Dr. Paisley lächelte matt. »Das ist durchaus möglich.« Ich schielte auf meine Haarspitzen, die spröde schienen, und zwirbelte sie prüfend zwischen meinen Fingern.

»Ach ja, das Puzzle ist fertig.« Aufgrund meiner relativ hastigen Bemerkung schenkte sie mir ein liebreizendes Lächeln. »Das habe ich bereits gesehen. Was erkennst du darin?«

Ich zog meine Knie eng an meine Brust.

»Wolken, aber das war nicht das einzige, was mich heute überrascht hat«, nuschelte ich nachdenklich, als ich das Klicken ihres Kugelschreibers hörte. Dr. Paisley wurde natürlich hellhörig. »Was wäre es?« Ich legte meinen Kopf schräg, meine trockenen Haare fielen mir zerwühlt über die Schulter.

»Ich habe heute zum ersten Mal seit langem in den Spiegel geschaut, und vor mir stand eine Fremde«, erkannte ich mit schwerem Herzen. Ich musste schlucken, die Spucke schien mir klebrig im Rachen stecken zu bleiben. Andere Worte hätte ich für die Beschreibung des Umstands einfach nicht wählen können.

Meine Ärztin begann, sich meine Worte in ihrem Sinn zu notieren.

»Kannst du mir beschreiben, was du genau gesehen hast?«, forderte sie mich auf, meine Beobachtung genauer zu schildern.

Ich strich mir über mein an den Körper gezogenes Bein. Der Stoff meiner Leggings hing etwas herunter, aber nicht auf eine besorgniserregend Art und Weise. Mir war über die gesamte Zeit nicht bewusst gewesen, dass ich abgenommen hatte.

»Ich weiß aus logischer Sicht, dass es mein Spiegelbild war, und dennoch ist es befremdlich. Ich habe Gewicht verloren«, nuschelte ich abwesend und zupfte an dem dunklen Stoff meiner Kleidung. »Das ist gut, dass du bemerkt hast, wie es um dich steht. Das ist ein großer Schritt in der Selbsterkenntnis. Was ist dir noch aufgefallen?«

Ich musste nicht lange darüber nachdenken, schließlich konnte ich deutlich sehen, wie es äußerlich um mich stand.

»Meine Haut wirkt trocken und kränklich. Mein Körper steht nicht aufrecht, sondern schlaff... Ich habe Augenringe und sehe damit nicht so süß aus wie ein Pandabär. Meine Haare sind leblos, und ich ziehe mich an wie eine Obdachlose, ohne dass ich mich darüber lustig machen will. Sowas ist nicht witzig«, zählte ich ihr meine Beobachtungen auf.

Dr. Paisley schrieb begeistert alles auf. Der Kugelschreiber kratzte hastig über das raue Papier.

»Und ist dir vielleicht etwas anderes aufgefallen, wie zum Beispiel dein innerer Werdegang?« Ich schaute sie verunsichert an. »Was soll ich denn dazu schon im Spiegel sehen.«

Sie lächelte nur auf die übliche nette Weise.

»Ist schon okay, aber jetzt wissen wir wenigstens, dass du siehst, wie es um dich steht. Ich finde das toll, besonders weil du erkennst, dass du an Gewicht verloren hast. Wenn es so weitergegangen wäre, hätte ich irgendwann eine Zwangsfütterung in Betracht gezogen.«

Die Mitteilung meiner Ärztin ließ mich aufhorchen. Aus irgendeinem Grund musste ich lächeln. Meine Erinnerungen führten mich zu einem Gespräch, das ich einmal mit Blaze geführt hatte.

Wir waren vielleicht 14 Jahre alt, als Blaze darüber sprach, dass seine Mutter immer über ihn wachte, wenn er krank war. So selten wie es auch vorkam, hatte er dann nie Appetit. Das machte sie sehr besorgt, weswegen sie ihn mit Hühnersuppe zwangsfütterte. Er nannte es sein ›persönliches Trauma‹.

Aufgrund meiner Reaktion zog Dr. Paisley eine Augenbraue hoch und schien über meine Belustigung verwundert zu sein.

»Weshalb bist du so erfreut? Möchtest du etwa mit einem Schlauch gefüttert werden?«, fragte sie mich mit einem sonderbaren Lächeln, das zwischen Argwohn und Amüsierung schwankte. »Nein, ich habe mich nur an etwas erinnert, was mein Bruder mir erzählt hat.«

Verunsichert von dem, was ich von mir preisgegeben hatte, runzelte sie die Stirn. Dr. Paisley blätterte zurück zum Anfang ihrer Notizen und nahm dann auch noch die Mappe mit allgemeinen Informationen über mich. Offensichtlich suchte sie wirklich, ob ich noch weitere Verwandte hatte, also musste ich sie wohl oder übel aufklären.

»Ähm, tut mir leid, mein Kindheitsfreund...nicht mein wirklicher Bruder. Ich habe keine Geschwister. Ich bin ein Einzelkind... keine weiteren Familienmitglieder«, berichtigte ich mich. Etwas erleichtert nickte Dr. Paisley und notierte sich sofort die neue Information.

»Das muss ein guter Freund von dir sein, wenn du dich so über seine Worte freust. Möchtest du mir etwas mehr darüber, oder über ihn erzählen?« Ich nickte zustimmend. Blaze ist wirklich ein toller Freund, was verliere ich schon, wenn ich etwas mit ihr teile.

Dr. Paisley schien tatsächlich interessiert daran, mehr zu erfahren. Gebannt hielt sie ihren Stift bereit, wobei es mehr darum ging, weitere Informationen über mich zu entlocken. Genauso schien sie darüber erfreut zu sein, dass ich mich langsam bemühte, mich ihr gegenüber zu öffnen.

»Ja, ähm...Ich hab an Blaze gedacht. Wir kennen uns schon seit wir klein waren. Er ist mein Nachbar und bester Freund. Wir haben so viel Zeit miteinander verbracht, dass wir einander als Geschwister bezeichnen. Er ist mein großer Bruder und ich seine kleine Schwester«, fing ich an und machte eine kurze Sprechpause. Ich wusste nicht, ob ich das tat, weil ich mich hin und wieder sammeln musste, oder ob ich Dr. Paisley die Zeit zum Aufschreiben gab.

Die ältere Frau gegenüber von mir lächelte mich an und wartete darauf, dass ich weiter in Erinnerungen schwelgte.

Mir schien es, als würde Blaze vor meinen Augen erscheinen, einfach grinsend auf mich zukommen und sich neben mich auf das Sofa fallen lassen. Seine grauen Augen hätten geblitzt, weil er mir etwas Lustiges erzählen wollte und wir schließlich auf einen dummen Einfall gekommen wären, den wir in die Tat umsetzen würden.

Ich erinnere mich noch daran, wie er mit seiner Familie neu in die Nachbarschaft gezogen ist. Meine Eltern und ich gingen, um sie zu begrüßen. Blaze hielt damals die Hand seiner Schwester und den Rockzipfel seiner Mutter fest. Seine Haare waren damals ordentlich gekämmt, weil seine Mutter darauf achtete, dass er gepflegt aussah. Nicht, dass es heute nicht so wäre, nur dass er sie heute gut durchwuschelt.

Als Blaze und meine Blicke sich trafen, ließ er seine Mutter los, weil sie ihm etwas zuflüsterte. Dann kam er schon, wenn auch zögerlich, auf mich zu und reichte mir seine Hand. Sie war klebrig, weil sein Vater unter dem Stress vergessen hatte, sie sauber zu wischen, nachdem er eine Fruchtschnitte gegessen hatte.

Wir sprachen nicht miteinander, nur sein freundliches Lächeln mit den Milchzähnen und die paar Sommersprossen luden mich dazu ein, nach seiner Hand zu greifen. Er brachte mich im Kinderlauftempo in sein neues Kinderzimmer, wo er mir sein Rennwagenbett zeigte. Ich weiß nicht mehr, was er mir genau erzählt hatte, an so viele Details vor vielen Jahren kann ich mich auch nicht mehr erinnern.

Es war so einfach, mit ihm befreundet zu sein. Anders als mit anderen.

Eine Schwere legte sich leicht über mich und ich spürte, wie sich meine Augenlider senkten, als hätte ich tagelang nicht geschlafen.

»Worüber hast du gerade nachgedacht, Aella?«, riss mich die Frage von Dr. Paisley aus meiner sich entwickelnden Erinnerung an kurze honigblonde Locken, die plötzlich neben Blaze auftauchten. Wir Rauch löste sich alles auf.

Ich blinzelte mehrmals und hatte ein kratziges Gefühl im Hals. Ich zog an meinem T-Shirt, weil es plötzlich so eng erschien.

»Nichts wichtiges... ähm... Blaze hat sich immer versteckt, wenn er spürte, dass er krank wurde. Seine Mutter würde ihn nämlich mit Suppe und selbstgemachten Vitaminsäften zwangsfüttern«, machte ich dort weiter, wo ich mit den Gedanken abgeschweift war.

Meine Psychiaterin strich sich eine graue Strähne aus dem Gesicht.

»Das hört sich nach einem humorvollen jungen Mann an. Hat er dir dabei geholfen, dich weniger einsam zu fühlen?« Von ihrer Frage überrumpelt, verkrampfte ich mich. »Einsamkeit ist keine Krankheit, die man heilen kann... Ich bin eigentlich daran gewöhnt.« Meine Stimme klang sich kühl und schlapp.

»›Eigentlich‹«, sagte sie und signalisierte mit den Fingern Anführungszeichen, »verrät mir, dass es nicht immer so ist. Das würde bedeuten, dass du dich nach menschlicher Nähe sehnst. Stört es dich deswegen, dass du derzeit alleine bist? Würdest du nach der Nähe anderer suchen?« Die Frage kam aus dem Nichts. Ich verstand nicht, wie sie das aus der Sache mit Blaze entnahm.

Menschliche Nähe... Suche ich nach Bindungen? Auf welche Weise?

»Meine Freunde fehlen mir, aber die meisten anderen eher weniger«, gab ich daraufhin trocken zurück. Ich wischte mir an meinem schwarzen T-Shirt die schwitzigen Hände ab.

»Was unterscheidet deine Freunde von anderen auf einer emotionalen Ebene?«

Ich starrte sie irritiert an. Emotionale Ebene...

Langsam versank ich in meine Gedanken und Fragen. Sie schwirrten wild durcheinander. Ein merkwürdiger Nebel legte sich um mich.

Was soll ich fühlen? Was meint sie damit? Ich mag sie mehr als andere. Sie sind mir wichtig... bringen mich zum Lachen. Machen mich froh... Tun mir weh... Schlagen mich nicht körperlich aber tun mir weh...

In meiner Brust verkrampfte es sich, so dass ich den Eindruck hatte, schwer zu sein.

»Aella?« Ich blickte auf und sah das besorgte Gesicht meiner Ärztin. Ihr Ausdruck wurde weicher. »Möchtest du eine kleine Pause machen?«

Ich wusste nicht, dass ich eine Auszeit brauchte. Es war seltsam, auf einem Stuhl zu sitzen und Saft zu trinken, während ich aus dem Fenster starrte. Ich bekam zwar keinen freien Kopf, war aber nicht mehr so angespannt von all den Reizen.

Dr. Paisley zog einen Stuhl neben mich und wir starrten gemeinsam nach draußen.

»Geht es dir besser?«, wollte sie von mir wissen und ließ sich neben mich sinken. »Ja.«

Eine Stille breitete sich über mich aus. Es fühlte sich an, als wollte ich plötzlich meine verletzte Seele frei sprechen.

»Sie sind mir wichtig...meine Freunde. Ich weiß nicht genau, wie ich es beschreiben soll. Manchmal bin ich glücklich und lache viel. Manchmal weiß ich nicht, was dazwischen steht. Ich kann vieles nicht einordnen«, erklärte ich, was los war. Mein Blick blieb auf das gerichtet, was sich hinter dem Fenster verbarg.

»Und was genau kannst du nicht erklären? Der Versuch reicht aus...« Ich hielt inne und schaute in das Glas mit dem Kirschsaft.

»Ich bin so oft sauer.« Die rote Flüssigkeit in meiner Hand bewegte sich still. »Gibt es ein bestimmtes Beispiel dafür?«

Ich begann, ihr ausführlich von der Kontaktlinsensache, von Clara und auch von der Angelegenheit bei der Abschiedsfeier zu erzählen. Es waren vielleicht triviale Dinge für andere, aber für mich waren es einige Situationen, die mich in ein Chaos versetzt hatten.

Warum bin ich so wütend?

»Aella, es scheint, als reagierst du stark auf die Reaktionen anderer bezüglich deiner Selbst. Ich möchte, dass du weißt, dass du diesen Beschimpfungen selbst Bedeutung gibst. Warum denkst du, dass du das tust?«

Will ich es jedem recht machen? Was versuche ich zu erreichen? ›Du willst doch, dass niemand an deiner Integrität zweifelt.‹ Ja, so ist es, so muss es sein.

»Ändert es etwas daran, wenn ich das beantworte?«, hauchte ich mit gedämpfter Stimme. »Was meinst du damit?«

Als ich erneut in den Saft blickte, hatte ich den Eindruck, Risse in meinem Gesicht zu sehen. Nichts schien mehr so zu sein, wie es eigentlich sein sollte.

»Man kann sowieso nichts reparieren, was kaputt ist. Ich bin irreparabel. Man kann versuchen, mich zu flicken, aber die Splitter meiner Selbst bleiben sichtbar. Ich bin doch hier, aus genau diesem Grund. Mit mir ist nicht alles richtig, aber das werde ich wohl nie wissen, wenn ich nicht einmal sagen kann, was ich überhaupt fühle«, stellte ich aus dem Zusammenhang gerissen fest.

Ich hörte, wie ein Buch zuklappte. Ich konnte meinen Blick nicht von meinem roten Spiegelbild abwenden. Es war so seltsam, mich nach all der Zeit wieder anzusehen.

»Glaubst du das wirklich, Aella?«

Irgendwie wurde alles um mich herum in Rot getränkt. Mir war nicht klar, was ich fühlen sollte. Mir war nicht klar, wen ich da im Saft sah.

»Aella?«, hörte ich dumpf, aber meine Umgebung verschwamm in einem unstrukturierten Durcheinander aus Scherben und Rot.

»Aella, vielleicht ist es besser, wenn wir hier aufhören.« Meine Augen blieben auf mein Gesicht fixiert. »Wieso ist so vieles falsch mit mir? Ich dachte, Stärke zu zeigen ist gut, wütend zu sein gehört auch dazu... Aber jetzt, ich weiß nicht, was noch richtig ist, was ich machen soll, und was los mit mir ist.«

Ich spürte Dr. Paisleys Hand auf meiner Schulter. Sie war fest.

»Wie wäre es, wenn wir...«, fing sie an und mir war klar, dass irgendeine dämliche Meditation folgen würde. Ich rollte meine Schulter, sodass ihre Hand von mir wegfiel. »Nein, ich will wissen, was mit mir falsch ist.«

Langsam spürte ich, wie der Zorn in mir aufkeimte, wusste aber nicht warum. Alles geriet durcheinander und meine Atmung beschleunigte sich.

»Aella, achte auf mich, mach mir nach«, verlangte Dr. Paisley von mir und zeigte mir eine Atemübung, die ich nachahmte.

Langsam einatmen und ausatmen.

Langsam einatmen...

...ausatmen.

Langsam.


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