11 - Sommer

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Schwitzend wachte Aveline auf. Ihr Herz raste in der Brust, so schnell, als wäre sie einen Berg hinaufgelaufen. Sie wischte sich den Schweiss von der Stirn und hievte sich aus dem Bett.

Was für ein schlimmer Traum!

Sie schüttelte den Kopf, um die Bilder abzuwimmeln und erhob sich. Richard war nicht mehr da.

Er hatte das Arbeiterhaus bereits im Morgengrauen verlassen, um mit Hjalmar auf den Markt zu gehen. Sie wollten dort die Schafwolle an die Weberinnen verkaufen und Werkzeuge besorgen, erinnerte sich Aveline. Danach würden sie den ganzen Tag wieder auf dem Feld verbringen und Zwiebeln, Rüben und Kürbisse anbauen. Hjalmar hatte gesagt, dass sie die Gunst der Götter und des guten Wetters nutzen wollten, um möglichst viel anzubauen, bevor der regnerische Herbst einsetzte. 

Aveline war froh, dass sie nicht auf dem Feld aushelfen musste. Obwohl es noch lange nicht Mittagszeit war, brütete die Hitze bereits über dem Arbeiterhäuschen und trieb sie hinaus. Dieser Sommer hatte ihnen zwar prachtvolle Tage und reiche Ernten beschert, aber die stickige Luft, machte ihr sehr zu schaffen.

Salka wollte an diesem Tag eine gute Freundin in der Stadt besuchen und so blieb Aveline nichts anderes übrig, als sich die Zeit alleine zu vertreiben. Das kam ihr ganz gut gelegen, denn somit konnte sie die Gegend auf eigene Faust erkunden und an ihren Fluchtplänen schmieden.

Sie lief über den Hofplatz in die Richtung des Waldes und blickte um sich, um sicherzustellen, dass sie nicht gesehen wurde. Salka war bestimmt noch im Wohnhaus und von Rurik gab es weit und breit keine Spur. Aveline blieb stehen und überlegte. Wenn Rurik nicht auf dem Hof oder bei seinem besten Freund Loki in der Gerberei war, dann musste er auf der Jagd sein. Dies war er in letzter Zeit oft gewesen. Aveline hatte beobachtet, wie er regelmässig mit Rehen, Hasen oder Wildschweinen auf der Schulter aus dem Dickicht gestapft kam.

Sie zögerte. Wenn er an diesem Tag auch im Wald war, dann musste sie vorsichtig sein. Er durfte auf keinen Fall Verdacht schöpfen. 

In den seltenen freien Momenten, die ihr gewährt wurden, war sie immer unter den schattigen Hainen spazieren gegangen. Stets mit dem Ziel vor Augen, den Wald, den See und die umliegenden Hügel auszukundschaften, um die perfekte Fluchtroute ausfindig zu machen. Salka hatte Aveline unter der Annahme frei herumwandern lassen, dass sie Kräuter und Pilze für ihre Salben und Tees sammeln ging, die der Familie in Zeiten von Krankheit dienlich sein würden.

Das war immer ihre Ausrede gewesen und würde es auch heute sein, sollte sie irgendwo Rurik begegnen.

Entschlossen schritt sie in den Wald. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie auf Rurik treffen würde, war sowieso klein. In letzter Zeit hatte sie kaum die Gelegenheit gehabt, an ihren Plänen zu arbeiten. Das wollte sie sich heute nicht nehmen lassen.

Sie hatte nämlich vor ein paar Tagen eine Route entdeckt, die sie durch den Wald und dann unentdeckt um den See führte.

Der einzig mögliche Fluchtweg lag — entgegen ihrer Instinkte — im Norden der Stadt: Durch den dicken Wald, um den See herum. Südlich von ihr befand die Siedlung und die stand als Fluchtroute ausser Frage. Zwischen Ästen, Sträuchern und Büschen war sie besser geschützt.

An diesem Tag wollte sie herausfinden, was sich auf der anderen Seite des Sees hinter der Waldgrenze befand. Ob sie irgendwo Unterschlupf finden könnte, wo sie sich in der Nacht verstecken könnte — es gab noch so viel, was sie in Erfahrung bringen musste.

Sie beschleunigte ihren Schritt. Glücklicherweise schmerzten ihre Rippen nicht mehr so doll, so kam sie schnell voran. Wie immer, wenn sie alleine unterwegs war, trug sie keine Schuhe.

Sie liebte es, den Boden auf ihrer Haut zu spüren. Es gab ihr Sicherheit und ein besseres Gespür für die Natur. Das hatte sie in Fécamp am Strand auch immer getan. 

Barfuss fühlte man sich einfach freier.

Den Dolch fest in ihrer rechten Hand umklammert schlich sie über den Waldboden. Die Erde war trocken und die Äste knackten unter ihren Füssen. Es war noch früh am Morgen, aber die Vögel zwitscherten bereits. Erste Sonnenstrahlen stachen durch die Baumkronen. 

Aveline beeilte sich. Sie achtete darauf, dass sie über keine Wurzel stolperte und stieg vorsichtig über einen umgefallenen Baumstamm. 

Ein leises Rascheln liess sie aufhorchen. Sie blieb abrupt stehen.

„Was machst du hier so tief im Wald?", fragte eine bekannte Stimme.

Ihr Bauch verkrampfte sich. Rurik kam von der Seite auf sie zu. Er war tatsächlich auf der Jagd und hielt den Bogen in seiner Hand, den Köcher mit den Pfeilen über die Schultern. Warum musste er sich ausgerechnet an diesem Tag hier herumtreiben?

„Kräuter sammeln", antwortete sie reflexartig auf Nordisch. Diese Worte hatte sie schnell gelernt, denn sie waren für sie überlebenswichtig.

Rurik runzelte die Stirn.

„So weit weg vom Haus? Welche Kräuter wachsen denn hier? Ich seh' nur Moos." Er deutete mit dem Kinn auf den Boden, auf welchem kein einziges Kraut wuchs.

Avelines Gedanken rasten, während sie weiter nach einer Lüge suchte. Wie hiess diese eine Pflanze nochmals auf Nordisch? Sie kam nicht mehr darauf. Sie hatte das Wort, welches sie suchte, gerade erst gelernt. Es war noch nicht in ihrem Gedächtnis verankert. So stellte sie sich dumm — in der Not die beste Taktik.

„Kräuter sammeln", wiederholte sie in der Hoffnung, dass er von ihr ablassen würde.

Rurik schmunzelte, wahrscheinlich amüsiert über ihren unbeholfenen Sprechversuch. „Verstehe ...", erwiderte er und hob den Blick in die Ferne. „Ich bin gerade auf der Jagd." Seine Augen richteten sich wieder auf sie. Fordernd. „Willst du mitkommen? Du kannst mich ein Stück weit begleiten."

Aveline blieben die Worte im Hals stecken. Diese blauen Augen, welche sie so eindringlich anblickten, konnten sie wie Eiszapfen zum Erstarren bringen. Verdammt! Eine gute Ausrede, warum sie ihn nicht begleiten könne, fiel ihr auf die Schnelle nicht ein.

Ihr Plan war ruiniert.

Innerlich seufzte sie, aber besann sich dann eines Besseren. Zeit hatte sie ja genug. Sie würde schon noch einen Weg finden. Wenn nicht heute, dann eben morgen.

Sie räusperte sich. „Gut", willigte sie ein.

Er ging los und sie folgte ihm tiefer in den Wald hinein, immer drei Schritte hinter ihm.

Sie stapften schweigend über den trockenen Waldboden. Der Wind strich den Bäumen durch die Kronen und liess die Blätter rascheln.

„Wie geht es deinen Rippen?", fragte Rurik nach einer Weile, während er das Gelände nach Spuren absuchte.

Er kniete nieder und berührte den Boden mit seinen Händen. Aveline folgte seinem Blick. Eine Fährte zeichnete sich von der Erde ab und führte sie geradewegs zu einer Lichtung. Er folgte der Spur mit langsamen Schritten. 

„Mein Rücken geht gut", antwortete sie in normaler Lautstärke. Sie stolperte noch immer über viele nordische Wörter. Es war schwierig, diese Sprache im Mund so zu formen, dass die Betonungen richtig klangen. Aber solange sie verstanden wurde, kümmerte es sie wenig, wenn sie Fehler machte. 

Mit einer Handbewegung gab Rurik ihr zu verstehen, dass sie still sein solle.

Sie blinzelte etwas überrascht, denn sie hatte nicht erwartet, dass er so schnell fündig werden würde. Sie folgte ihm mit behutsamen Schritten. Rurik kauerte sich hinter einen Baum und winkte Aveline zu sich. Sie setzte sich neben ihn und spähte in dieselbe Richtung wie er. Abgesehen von Bäumen, Tannen, Sträuchern und einer Lichtung sah sie nichts. Da war nur Wald. 

Rurik deutete in die Lichtung. „Da vorne!" Seine Stimme war bloss noch ein Hauchen.

Aveline reckte ihren Hals und kniff die Augen zusammen. Ein Reh stand in der Lichtung und graste in der Sonne. Das braune Fell war eine gute Tarnung, einzig der weisse Hintern verriet es.

„Wie heisst das?", fragte Aveline leise.

„Das ist ein Reh", flüsterte Rurik und zog in einer fliessenden Bewegung einen Pfeil aus dem Köcher. Seine Hände waren so geschickt, dass er dabei kein Geräusch machte.

„Ein Reh", wiederholte Aveline leise für sich — ein neues Wort.

Rurik legte den Pfeil auf seinen Bogen, aber ohne die Waffe anzuspannen und näherte sich in geduckter Haltung der Lichtung. Aveline dachte, dass das Reh ihn jederzeit wittern müsste, aber der Wind wehte in die entgegengesetzte Richtung. Mit leisen Sohlen pirschte er sich heran, das Reh war nur noch knappe vierzig Schritte von ihm entfernt.

So nah!

Aveline hielt sich die Hände vor den Mund. Rurik wirkte konzentriert, sein Blick entschlossen auf sein Ziel gerichtet. Er spannte den Bogen an. Nach einem tiefen Atemzug zerschnitt der Pfeil die Luft und tötete das Reh augenblicklich. 

Rurik blieb regungslos stehen.

Im Wald war es plötzlich still geworden, so als ob die Natur den Tod des Tieres beklagte. Dann begannen die Vögel wieder zu zwitschern und die Insekten zu summen. Das Leben ging weiter.

Aveline kroch vorsichtig aus ihrem Versteck. Sie war schwer beeindruckt. Noch nie hatte sie einem Jäger bei der Jagd zuschauen dürfen. Nie hätte sie gedacht, dass es so elegant sein konnte, so würdevoll.

Rurik kniete sich zu dem toten Tier nieder und zog den Pfeil aus dessen Brust. Das Reh war sofort gestorben. Ein präziser Schuss ins Herz. 

Er verharrte einen Augenblick lang vor dem Tier und legte beide Hände auf den dampfenden Körper ab, die Augen geschlossen. Er schien zu beten. Dann band er die Hinter- und Vorderläufe des Tieres zusammen und hob es über seinen Kopf auf die Schultern.

Aveline trat näher und strich mit den Fingerspitzen über das Fell. Es war noch weich.

„Skadi war nett." Sie wollte gütig sagen, aber dafür fehlte ihr noch der richtige Wortschatz. 

Rurik blickte sie von der Seite an. „Ja. Das war sie." Er klang überrascht. „Woher weisst du von Skadi?"

Aveline begann zu grinsen. „Richard", antwortete sie. „Richard hat mir eure Götter erklärt."

Rurik nahm dies mit einem stummen Kopfnicken zur Kenntnis und verstärkte seinen Griff um die Beine des Tieres. „Er erzählt dir hoffentlich nur Gutes von unseren Göttern?", fragte er. 

Aveline lachte auf. „Nicht einfach bei den Geschichten, die ihr habt!", gab sie zu.

Ein scheues Schmunzeln huschte dem Wikinger übers Gesicht.

„Ja, das stimmt. Unsere Geschichten können den Leuten grosse Angst einjagen", pflichtete er ihr bei. „Was hat dir Richard denn über Skadi erzählt?", wollte er weiter wissen.

Aveline überlegte einen Moment und erinnerte sich an das Gespräch mit ihrem Zimmerkameraden zurück. Es waren so viele Götter gewesen, aber Richard hatte gemeint, dass Skadi für Rurik und seine Familie besonders wichtig war.

„Sie ist die Göttin der Jagd", sagte sie fast ein bisschen stolz, dass sie sich noch so gut daran erinnern konnte.

Rurik nickte und ging los. Er warf Aveline einen erwartungsvollen Blick zu, damit sie ihm folgte. Sie gehorchte und lief schweigend hinter ihm durch das Dickicht.

„Was ist mit deinen Kräutern?", fragte er, während er über einen Baumstamm stieg.

Aveline winkte ab. „Morgen", entschied sie und kletterte ihm hinterher.

Sie gingen nebeneinander.

„Was dir Richard sicher nicht über Skadi erzählt hat, ist wie sie ihren Ehemann ausgesucht hat", sagte Rurik dann und schaute Aveline in die Augen.

Sie schüttelte den Kopf und wandte ihren Blick von seinem ab. Sie mochte es noch immer nicht, ihm zu lange in diese kalten Augen zu schauen. 

„Skadis Vater wurde von den Göttern getötet", fuhr Rurik fort. „Da reiste sie nach Asgard mit zwei Bitten. Die erste Bitte war, dass sie für den Tod ihres Vaters einen Ehemann bekomme. Die zweite, dass man sie zum Lachen bringe. Die erste Bitte wurde erfüllt, aber unter der Voraussetzung, dass sie ihren zukünftigen Ehemann nur anhand seiner Füsse auswählen solle. Skadi hoffte, dass sie Balders Füsse erkennen würde, denn er war so schön und sie liebte ihn sehr. Sie glaubte, dass auch die schönsten Füsse zu Balder gehören mussten. So wählte sie das schönste Fusspaar. Die Füsse gehörten jedoch Njödr, dem Gott des Windes und des Meeres und nicht Balder. Sie musste sodann Njödr heiraten, was sie nicht unbedingt glücklich machte, denn er war alles andere als schön. Die zweite Bitte erfüllte ihr Loki, der sie mit einer Ziege zum Lachen brachte."

Rurik blieb kurz stehen, um das Reh auszurichten, damit dessen Gewicht auf beide Schultern gleich verteilt war. Das Blut tropfte allmählich aus der tödlichen Wunde den Hals hinab. Aveline hoffte, dass dies keine Wölfe anziehen würde. Doch Rurik schien sich nicht darum zu scheren.

„Odin wollte besonders gütig sein und warf die Augen ihres Vaters ins Himmelsfirmament, wo sie für immer als zwei Sterne funkeln sollten", beendete er seine Anekdote.

Aveline blieb stehen. Wahrlich, diese Geschichte hatte sie noch nicht gehört. Ausnahmsweise mal eine weniger blutige Erzählung, ja fast poetisch.

„Ehemann mit Füssen auswählen ... schwierig", dachte sie laut. „Und Loki brachte Skadi mit Ziege zum Lachen? Das ist nicht lustig." Eigentlich wollte sie sagen, dass sie nicht verstand, was an einer Ziege witzig sein sollte, doch sie wusste nicht, wie sie sich ausdrücken konnte.

Rurik grinste. Er hatte sie verstanden.

„Naja, doch", sagte er und sein Grinsen wurde breiter. „Er band seine Eier am Bart der Ziege fest und machte mit ihr ein Tauziehen. Skadi fand das vorzüglich!"

Das laute Lachen, das Aveline aus der Kehle rutschte, konnte sie nicht unterbinden. Die Wikinger waren wohl doch nicht so poetisch, eher humorvoll. Sie schüttelte kichernd den Kopf.

„Ich verstehe deine Götter nicht!"

Rurik musste ebenfalls lachen. „Ich manchmal auch nicht!"

Sie gingen weiter und erreichten den Waldrand. Dahinter lag bereits der Bauernhof.

„Mein Gott ist nicht so lustig", meinte Aveline ganz gedankenverloren. Die lustige Legende hatte sie nachdenklich gemacht. Die Geschichten ihres Gottes waren mit weniger Humor bespickt. Zumindest jene, die sie kannte.

Rurik musterte sie von der Seite. „Was können denn deine Götter?", wollte er wissen.

Aveline hob die Hand und streckte einen Zeigefinger in die Höhe. „Keine Götter, einen Gott", korrigierte sie ihn, woraufhin er die Stirn runzelte. „Wir haben nur einen. Aber mein Gott ist sehr gross", fügte sie an.

„Dein Gott ist ein Riese?" Ruriks Erstaunen war deutlich hörbar.

Aveline musste wieder lachen. Sie hielt sich die Hand an den Mund, um es abzuklemmen.

„Nein!", rief sie. „Nicht so. Er ist überall. Mein Gott ist mächtig, er ist gut. Er hat die Welt gemacht", versuchte sie zu erklären. Ihr fehlten die nordischen Worte, um Rurik den allmächtigen christlichen Gott näherbringen zu können. Diese spärliche Erklärung musste ausreichen.

Sie kamen am Waldrand an. Der Hof erhob sich vor ihnen. Am Wegesrand erblickte Aveline einen Strauch Brennnesseln. Das war ihre Chance, um Rurik wieder abzuwimmeln.

„Kräuter!", sagte sie laut und bückte sich, Rurik ging derweil weiter zum Hof.

„Bis später", rief er und liess sie zurück.

Aveline stiess erleichtert die Luft aus den Lungen, als Rurik im Wohnhaus verschwand. Das war gerade nochmal gut gegangen! Das nächste Mal müsste sie vorsichtiger sein und nur dann auf Wanderschaften gehen, wenn sie wusste, dass Rurik ausser Sichtweite war. 

Sie hoffte, dass ihm heute nichts aufgefallen war. 

Sorgfältig schnitt sie die Brennnesseln von ihren Stielen und wickelte sie in ihre Schürze. Dann würde sie heute wohl Brennnesseltee für Salka kochen — für ihre Beine, die in den letzten Tagen wieder sehr geschwollen waren. Das Kraut half nämlich beim Entwässern des Körpers. 

Aveline wusste, dass es nicht mehr lange dauerte, bis das Kind auf die Welt kommen würde.

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