12 - Herbst

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Es regnete stark, aber das schien niemanden in Vestervig zu stören. Man kannte das Wetter hier so. 

Die Arbeiten an der nördlichen Wand des Tempels waren fast beendet. Eine Böe blies den Regen gnadenlos in die Gesichter der Sklaven, welche auf Ragnar Sigurdsons Befehl Wind und Wetter hatten trotzen müssen, um den Tempel am Ørumsee aufzurichten. 

Luca aus Fécamp war einer dieser Sklaven. Sein sehniger, starker Körper hatte ihm diese Bürde beschert. Selbst im kältesten Regen würde er nicht zusammenbrechen.

Er hob den Eichenbalken hoch und reichte ihn wortlos dem nächsten Arbeiter, welcher die Latte festnagelte. 

Luca hatte von den anderen Arbeitern gehört, dass sich nicht jede normannische Siedlung den Bau eines Götter- und Opfertempels leisten, geschweige denn dem Priester sein Gehalt für seine Prophezeiungen zahlen konnte. Der Tempel am Ørumsee war dementsprechend ein Symbol der Grosszügigkeit Ragnars. Die rechtzeitige Fertigstellung und der damit einhergehende Einzug des grossen Priesters war für den Jarl von äusserster Wichtigkeit, denn somit konnte er die Stadt am westlichen Ende Nordjütlands als bedeutsamen Wallfahrtsort etablieren. 

Für Vestervig war der Bau des Tempels ein Segen, für Luca eher ein Fluch.

„Reichst du mir noch einen Nagel?"

Luca blickte auf die leere Handfläche seines Kollegen, die ihm entgegengestreckt wurde und gab ihm drei weitere Eisennägel. Dann duckte er sich und hob einen zweiten Balken auf. Seine Muskeln ächzten. Seit mehr als drei Vollmonden waren sie mit dem Bau dieser heiligen Stätte beschäftigt. Im Sommer war die Arbeit in der sengenden Hitze eine absolute Qual gewesen, aber jetzt drang der Regen und der Wind durch die Kleider in die Knochen und liess die Zähne klappern, die Muskeln verkrampfen. Es war beissend kalt. Manche Sklaven waren bereits an Erkältungen verendet. 

Ragnar Sigurdson war berüchtigt für seine erbarmungslose Art. Er trieb seine Sklaven ohne Rücksicht auf Verluste bis zur körperlichen Erschöpfung. Wächter hatte er zur Baustelle beordert, die jeden, der es wagte vor Auszehrung zusammenzubrechen, mit Hieben wieder auf die Beine prügeln sollten. Ragnar tolerierte keine Schwäche. Die Arbeiter durften nicht ruhen, auch wenn das bedeutete, dass sie sich zu Tode schufteten. 

Luca rieb sich die schmerzende Schulter.

„Nägel sind alle", sagte er zu seinem Kameraden, der nur stumm nickte.

Da sie so nicht weiterarbeiten konnten, lief Luca um den Tempel herum, um nach weiteren Nägeln zu suchen. Er wurde nicht fündig. Es schien, als hätte der neue Bauleiter zu wenig Eisenmaterial beim Schmied bestellt. Ihnen waren alle Nägel ausgegangen.

Das war zu Beginn des Baus schon einmal passiert und hatte die rechtzeitige Fertigstellung des Tempels bedroht. Ragnar war blind vor Wut gewesen und hatte den damaligen Bauleiter vor allen Arbeitenden kurzerhand geköpft. So ein Fehler sei inakzeptabel, hatte er gebrüllt — seine Axt blutig, die Augen weit aufgerissen, wie ein Biest im Rausch. Am nächsten Tag war ein einfacher Arbeiter zum neuen Bauleiter ernannt worden. Dieser hatte nun, wie es schien, auch zu wenig Eisennägel bestellt.

Luca trat auf der Suche nach dem Bauleiter in die säulengestützte Haupthalle des Tempels. Das Dach hatten sie bereits montiert und bot genügen Schutz gegen das stürmische Wetter draussen. Der Regen prasselte durch die klaffende Öffnung in der Mitte der Decke — das Guckloch für die Götter.

Es war still im Inneren und nur das leise Trommeln der Tropfen erfüllte den Tempel. Luca blickte um sich und fand den Bauleiter in der verbotenen Kammer. Dort sass er auf dem Steinaltar, die Hände im Schoss gefaltet, in Gedanken versunken. Die Gnipahellir, wie man diese Kammer nannte, sollte dem Tempel als Aufbewahrungsort für Heiligtümer dienen, hatte man Luca erklärt. Ein sakraler Ort. Sicherlich durfte sich niemand einfach so mit seinen schmutzigen Kleidern auf den Altar setzen.

Den Bauleiter schien diese Tatsache allerdings nicht zu interessieren. Er sass da und rieb sich die taub gewordenen Hände, als er Luca näher kommen sah.

„Der Hörgr wird morgen geliefert", murmelte er, so als ob er dachte, Luca wolle das wissen.

„Wir haben keine Nägel mehr", kam Luca direkt auf den Punkt. Er hatte keine Zeit für Umschweife. Sie mussten sich beeilen.

Der Bauleiter riss den Kopf hoch und sprang vom Steinaltar. „Was sagst du da? Das kann nicht sein!"

Luca zuckte mit den Schultern. „Doch." Es gab keine Nägel mehr. Er hatte überall nachgeschaut. 

Die Panik blitzte in den Augen des Bauleiters auf. „Ich habe absichtlich zu viele bei Thorvid bestellt!", sagte er, doch als Luca dies nur mit einem gleichgültigen Gesichtsausdruck zur Kenntnis nahm, wurden seine Augen gross. „Dieser hinterlistige Schmied! Der will wohl meinen Kopf rollen sehen." Er rieb sich die Schläfen. „Bist du sicher, dass wir gar keine mehr haben?" Sein Blick richtete sich auf Luca. Voller Angst und Hoffnung.

„Ganz sicher", bestätigte Luca. „Alle Beutel sind leer. An der Nord- und Ostwand können wir nicht weiterarbeiten. Wir brauchen mehr Nägel. Mindestens zwei Dutzend."

Die Augen des Bauleiters jagten auf dem Boden hin und her, weiterhin auf der verzweifelten Suche nach einer Lösung.

„Verdammt!", zischte er. „Ragnar hat seinen Besuch heute Nachmittag angekündigt. Wir müssen die Wände bis dahin fertiggestellt haben." Luca runzelte die Stirn, denn er wusste, dass sie das unter den Umständen niemals schaffen würden. Dafür müsste man ihnen Zauberkräfte verleihen. Das schien auch der Bauleiter zu wissen. „Ich bin tot", stiess er aus und schüttelte seine Hände, als hätte er sich an den Fingern verbrannt. „Der wird mich schlachten."

Luca schluckte bei dem Gedanken schwer. Ragnar würde nicht nur den armen Kerl vor ihm für diesen Fehler bestrafen, sondern die ganze Arbeiterschaft gleich mit. Er überlegte. 

„Wenn du mir das Pferd leihst, dann reite ich runter in die Stadt und rede mit dem Schmied", schlug er vor. „Da lässt sich bestimmt etwas machen." Er glaubte zwar nicht daran, dass er — ein einfacher Sklave — den Schmied zu irgendetwas bewegen könnte, doch musste er es versuchen. Die Peitschenschläge, die ihm drohten, wollte er tunlichst verhindern. „Vielleicht hat er sich ja verrechnet", fügte er beschwichtigend hinzu.

Der Bauleiter wedelte noch immer mit seinen Händen in der Luft. „Was, wenn er keine Nägel mehr hat? Was, wenn er mir absichtlich zu wenig gegeben hat?"

Luca seufzte. „Dann bete zu Gott, dass Ragnar heute gut gelaunt ist."

Der Bauleiter wimmerte. Bei dem Hundewetter wäre selbst der grösste Sonnenschein mies gelaunt. Er kauerte sich nieder, den Rücken an den Steinaltar gestützt.

„Bitte beeil dich!", murmelte er und zog die Knie an.

Luca verliess den Tempel mit klopfendem Herzen und lief zum Pferd, das unweit an einer Tanne angebunden war. Er wollte kein Mitleid für das Elend des Bauleiters empfinden. Die Arbeit als Sklave Ragnars war schon hart genug, da musste jeder auf sich selbst achten.

Mit kräftigen Hieben trieb er das Pferd in den Galopp, die Zügel fest in der Hand. Der Regen prasselte ihm schmerzhaft ins Gesicht, sodass er kaum sehen konnte, wohin er ritt. Er wusste, wo der Schmied Thorvid seine Werkstatt hatte und liess das Pferd erst dann in den Trab übergehen, als er das Stadtzentrum erreicht hatte. 

Es war schon ungewöhnlich, dass ein Sklave ohne seinen Herrn auf einem Pferd durch die Gegend ritt. Die Bürger Vestervigs könnten misstrauisch werden, was für Luca weit tragende Konsequenzen hätte. Wurde ein Sklave des Flüchtens bezichtigt, war das sein Todesurteil.

Luca schob diesen Gedanken weit von sich und konzentrierte sich auf seine Aufgabe. Er musste so schnell wie möglich zum Schmied und abklären, ob es sich hier um ein Missverständnis handelte und ob Thorvid dem Bauleiter unabsichtlich zu wenig Eisennägel mitgegeben hatte. Wenn das Gegenteil der Fall war, dann würde auch Luca keine Chance haben, den Schmied davon zu überzeugen, ihm genügend Nägel mitzugeben. Wenn der Wikinger einen Groll dem Bauleiter gegenüber hegte und ihm den Tod wünschte, dann war auch Luca machtlos.

Mit einem kräftigen Ruck an den Zügeln blieb das Pferd stehen. Luca schwang sich vom Rücken und führte die Stute die Gasse hinunter, in welcher sich die Werkstatt des Schmiedes befand.

Trotz des starken Niederschlags waren viele Menschen auf dem Markt, als ob sie sich nicht vom schlechten Wetter abhalten liessen, ihren täglichen Beschäftigungen nachzugehen. Selbst der Schlamm, der sich in der Gasse gebildet hatte, störte niemanden. Luca hatte Mühe, sich und das Pferd durch die Menschenmasse und den Matsch zu pferchen.

Die Zeit drängte. 

Er band die braune Stute an einem Pfahl vor der Werkstatt fest. Der Schmiedemeister Thorvid stand vor dem Ofen voll glühendem Torf, in einer Hand seinen Schmiedehammer, in der anderen die Zange. Er war gerade damit beschäftigt, einen Axtkopf zu schmieden. Das Eisen zwischen der Zange glühte wie ein Auge des Teufels. Als Luca sich unters Dach der Werkstatt begab, hob Thorvid den Kopf.

„Was willst du, Unfreier?"

Luca zögerte. Er wollte seine Worte weise wählen und nichts Falsches sagen.

„Ich komme vom Tempel, oben beim Ørumsee", sprach er auf Nordisch, wohl bedacht, die Worte korrekt und deutlich auszusprechen. „Ich gehöre zu den Arbeitern von Ragnar Sigurdson. Die Bauarbeiten sind bald beendet. Uns fehlen aber noch etwa zwei Dutzend Eisennägel."

Thorvid schwieg und hievte den glühenden Axtkopf auf seinen Amboss. Mit kräftigen Hammerschlägen bearbeitete er das schwelende Eisen. Sein Blick war fest auf seine Arbeit gerichtet. Luca trat von einem Bein aufs andere. Hatte ihn Thorvid nicht verstanden? 

„Wir brauchen wirklich nur noch zwei Dutzend Nägel", wiederholte er. „Dann sind wir fertig. Ich glaube der Bauleiter hat falsch gerechnet, als er kürzlich bei dir war."

Thorvid schlug weiter auf das Eisen ein. Mit einem zischenden Geräusch schreckte er es im Wasserbad ab und warf den noch stumpfen Axtkopf in eine Kiste. Dann wandte er sich Luca zu. Grimmig.

„Ich habe keine Nägel für deinen Bauleiter. Er bekommt das, was er bestellt hat", sagte er.

Luca nickte. Es war also tatsächlich ein Fehler des Bauleiters gewesen. Sein Blick huschte auf eine Kiste hinter dem Schmied. Sie war voller Nägel.

„Und was ist, wenn ich diese Nägel bestelle? Hast du dann ein paar davon, die du mir verkaufen könntest?"

Thorvid schüttelte den Kopf. „Einem Sklaven verkaufe ich keine meiner Eisenwaren. Jetzt mach, dass du wegkommst. Ich muss hier arbeiten."

Luca biss sich auf die Zähne. Es lief nicht gerade so, wie er sich das vorgestellt hatte. Mutig trat er einen Schritt auf den stämmigen Schmied zu.

„Also soll ich Ragnar Sigurdson sagen, dass sein Tempel nicht rechtzeitig fertiggestellt werden konnte, weil du nicht in der Laune warst, seinen fleissigen Arbeitern die Nägel zu liefern?"

Thorvid schmiss den schweren Hammer in die Ecke, sodass es laut krachte. Das war zu viel. Damit hatte Luca ihn endgültig erzürnt. Keine gute Strategie, das war ihm durchaus bewusst, aber er war verzweifelt. Er musste diese Nägel haben!

„Was denkst du, wer du bist?", fauchte Thorvid und marschierte auf Luca zu, welcher sogleich rückwärts stolperte. „Kommst in meine Werkstatt, um mir mit unserem Anführer zu drohen! Was stellst du dir vor, wem Ragnar wohl mehr Glauben schenken wird? Einem elenden Sklaven oder einem ehrlichen Handwerker?" Er baute sich vor Luca auf, die Hände vor der Brust verschränkt, der Blick finster. 

„I-Ich ...", stammelte Luca, doch er wusste nicht, was er sagen konnte, um ihn zu besänftigen.

„Ich habe sehr wohl genügend Nägel hier in meiner Werkstatt!", rief Thorvid. Seine Stimme bebte vor Zorn. „Ich werde Ragnar einfach sagen, dass ihr nie gekommen seid, um diese abzuholen. Jetzt verpiss dich, bevor ich dich in die Glut werfe!" 

Mit diesen Worten schubste er den Sklaven in den Regen.

Luca strauchelte und fing sich auf. Die Furcht stieg ihm in den Bauch. Er hatte auf ganzer Linie versagt. Der Bauleiter würde heute seinen Kopf verlieren — und Luca selber auch, wenn er sich nicht schleunigst wieder auf den Weg zurück zum Tempel machte. Man warf ihn schon schiefe Blicke zu.

Er nahm die Zügel seines Pferdes und ging geknickt die Strasse hinauf. Gerade als er in den Sattel steigen wollte, hörte er eine bekannte Stimme hinter sich.

„Luca!"

Er drehte sich um und erkannte das lächelnde Gesicht. Aveline. Das Mädchen, das mit ihm zusammen von Fécamp nach Vestervig gebracht worden war — auf demselben Schiff. Seine einzige Freundin in diesem schrecklichen Land.

Sein Herz erwärmte sich. Sie trug einen schwarzen Umhang. Die Regentropfen perlten vom Rand ihrer Kapuze, ihre braunen Augen leuchteten trotz des miesen Wetters. Es war schön, ein bekanntes und ihm freundlich gesinntes Gesicht zu sehen. 

„Hallo, es ist schön, dich zu sehen", grüsste er sie.

„Ebenso. Wie geht es dir beim Errichten des Tempels? Sind die Essensrationen noch immer so spärlich?"

Luca nickte stumm. Aveline hatte von der schlechten Behandlung der Sklaven auf der Baustelle gehört, als sie das letzte Mal mit ihm auf dem Marktplatz gesprochen hatte. Er wusste, dass sie stets um das Wohl ihrer eigenen Landsleute besorgt war, obwohl ihr selbst die Hände gebunden waren. Dennoch schätzte er es sehr an ihr. Sie war ein guter Mensch. 

Die zwei sprachen auf Fränkisch, sodass die vorbeigehenden Leute sie nicht verstanden. Sie mussten sich allerdings beeilen, denn viel Zeit hatten sie nicht, um zu quatschen. Den Sklaven wurde nur selten Zeit zusammen gewährt.

Sie flüsterten.

„Was machst du heute auf dem Markt? Bist du wieder mit deiner Herrin unterwegs?", wollte Luca wissen.

Er wusste, dass Aveline von allen Sklaven aus Fécamp das beste Los gezogen hatte. Sie war im Gegensatz zu den anderen Frauen keine Hure geworden und wurde von ihren Besitzern verhältnismässig respektvoll behandelt — so weit er gehört hatte.

Davon konnte Luca nur träumen. Er schlief mit zehn anderen Kerlen im selben Raum auf dem Boden mit den Ratten und konnte sich freuen, wenn er einmal täglich eine ekelhafte Brühe zu essen bekam.

„Nein, heute bin ich mit Hjalmar unterwegs. Er wollte mich mitnehmen, denn wir brauchen ein paar Utensilien und er möchte Wolle verkaufen. Er hat erfahren, dass ich im Frankenreich Fischerin war. Da hatte er die Idee, dass ich ihm einmal zeigen soll, ob ich effektiv fischen kann, denn glauben wollte er es nicht", sagte sie und lachte dabei herzlich. Ein glockenhelles, fast fröhliches Lachen. „Jetzt wollte ich Fischerhaken beim Schmied bestellen", fuhr sie fort. „Ich bin mir nicht sicher, ob er genau verstehen wird, was ich brauche." Sie schürzte die Lippen und zuckte mit den Schultern.

Luca musste sich zusammenreissen. Er war neidisch. Neidisch auf ihr unbeschwertes Leben. Neidisch, dass ihr zum Lachen zumute war, während er hier verzweifelt um ein paar Eisennägel flehen musste und wahrscheinlich noch Peitschenhiebe für seinen vergeblichen Versuch kassieren würde. Neidisch, weil ihr Leben so viel einfacher war als seins.

Aveline musste seinen Kummer bemerkt haben, denn ihr strahlendes Lächeln verstarb augenblicklich. „Luca, was ist los? Geht es dir nicht gut?", fragte sie. Ehrliche Sorge drang durch ihre Worte.

Luca schüttelte den Kopf. Zähneknirschend erzählte er ihr von seiner Situation. Dass der Schmied ihm keine Nägel verkaufen wollte, dass er jetzt zurückreiten müsse, ohne Nägel, um dem Bauleiter klar zu machen, dass er heute wohl sterben werde und dass er selbst wahrscheinlich auch noch Prügel einstecken werden müsse.

Aveline blickte ihn bedrückt an. „Du sagtest, Thorvid hätte genügend Eisennägel in seiner Werkstatt, er will sie dir aber nicht verkaufen?", wollte sie wissen.

Luca nickte. „Ja, das hat er gesagt."

„Alles klar, warte hier", sagte sie und verschwand in der Menschenmenge.

Luca hatte gar keine Zeit, um sie aufzuhalten, so schnell war sie davongerannt. Er blinzelte die Regentropfen weg und versuchte, ihre schwarze Kapuze in der Masse zu erkennen, aber es war zwecklos. Sie hatte sich davongemacht.

Etwas ungeduldig wartete er an derselben Stelle, schwer darum bemüht, möglichst unauffällig auszusehen. Die Leute, denen er im Weg stand, warfen ihm abschätzige Blicke zu. 

Er seufzte in sich hinein. Wie sehr er es hier doch hasste! Kaum hatte er den Gedanken fertig gedacht, schubste ihn jemand zur Seite, sodass er stolperte und im Matsch landete.

„Dreckshund!", schrie der Mann, der ihn gestossen hatte. „Steh gefälligst woanders hin!"

Luca richtete sich auf und wischte sich den Schlamm von den Ärmeln. Jetzt war er nicht nur durchnässt, sondern auch bis zu den Ellbogen in Schlamm getaucht. Diese Normannen waren wirklich kein freundliches Volk. Grob und gemein — so würde er sie beschreiben. Er hätte diesem Mann so gerne mit etwas Unanständigem gekontert, aber er war in keiner Position, dies zu tun, ohne sein Leben dabei aufs Spiel zu setzen. 

Wenn sich Aveline doch bloss beeilen könnte! Die Zeit drängte so und er wollte nur noch weg von hier.

・・・

Nach einer halben Ewigkeit erblickte er ihre schwarze Kapuze in der Menschenmenge. Sie rannte und kam ausser Atem vor ihm zum Stehen, einen kleinen braunen Beutel ihm entgegenstreckend.

„Hier, deine Nägel!", sagte sie immer noch nach Luft schnappend.

Luca konnte es nicht fassen. Seine Augen klebten auf dem Beutel. „Wie hast du das geschafft?"

Sie winkte lachend ab.

„Oh, mein kleiner Waschweibertrick", erwiderte sie. „Ich wasche jeden siebten Tag die Kleidung am Fluss. Der Zufall will es, dass ich letzthin Thorvids Frau am Fluss kennen gelernt habe. Sie hatte von Salka erfahren, dass ich Kenntnisse über die lokalen Kräuter und ihre heilende und kraftspendende Wirkung habe. Beim Waschen erzählen sich die Weiber so einiges, weisst du. Wer mit wem schon wieder was getrieben hat und so weiter. Unglaubliche Geschichten - ich sag's dir. Da hat mir Thorvids Weib von den kleinen Problemchen ihres Mannes erzählt. Dass er nachts beim Liebe machen wohl Mühe hat, seinen Mann zu stehen. Und das geht anscheinend schon seit einer Weile so. Der Dummkopf säuft zu viel. Aber naja, dann hab ich ihm angeboten, einen anregenden Trunk zu brauen, um ihn von seinem Problem zu erlösen. Wenn er mir die Nägel dafür im Tausch gebe, dann werde auch sonst niemand von seinem Problemchen erfahren. Du glaubst nicht, wie schnell der mir die Nägel in die Hand gedrückt hat!"

Sie lachte auf. Ein so klarer Ton, dass Luca mit einstimmen musste. Ihr glückliches Gesicht war wirklich ansteckend.

„Ich kann's nicht fassen, dass das geklappt hat!", stiess er aus und packte sie an den Schultern. „Aveline!" Er schüttelte sie sanft, was sie nur noch mehr zum Lachen brachte. „Du bist meine Rettung!", sagte er und schenkte ihr zum Dank eine Umarmung.

Sie drückte ihn. „Selbstverständlich", murmelte sie in seine Schulter und löste sich wieder von ihm. Sie blickte ihm in die Augen. „Ich helfe, wo ich kann, Luca."

Die Worte einer wahren Freundin. Luca legte eine Hand auf seine Brust. 

„Ich schulde dir was!" Das meinte er. Wenn er jemals konnte, dann würde er ihr dies irgendwann zurückzahlen.

Sie schüttelte den Kopf, sodass es die Perlen von ihrer Kapuze regnete. „Ach, lass sein", sagte sie. „Das habe ich gerne gemacht."

Luca schwang sich auf sein Pferd. „Danke tausend Mal! Wirklich." Er musste schleunigst zurück und brachte das Tier in den Trab.

„Bis bald, hoffentlich!", rief Aveline ihm winkend hinterher.

„Wir sehen uns!", antwortete Luca, doch Aveline war schon wieder in der Menschenmasse verschwunden. „Danke, du bist ein Engel", murmelte er.

Nach der unfreundlichen Begegnung mit dem Schmied hatte er nicht damit gerechnet, dass er mit guten Nachrichten zurück zum Bauleiter reiten würde. Diese Aveline war schon ein gerissenes Mädchen. Sie wusste, wie sie ihre Waffen einsetzen konnte. Er hatte grosse Hochachtung vor ihr. Eine wirklich kluge Frau. 

Sie würde es hier weit schaffen, dachte er sich. Er hingegen wohl eher nicht.

Lucas Gedanken wanderten zurück zu seiner Arbeit. Jetzt müssten sie die Nord- und Ostwand rechtzeitig fertig bekommen, bevor Ragnar die Baustelle besuchte.

Am nächsten Tag stand der letzte und härteste Teil an, hatte man ihm gesagt. Der Transport des drei Mann hohen Hörgr-Steins, welcher in der Mitte des Tempels platziert werden sollte, sodass die Spitze des ovalen Steins unter der Öffnung im Dach stand und zu jeder Zeit den freien Himmel über sich hatte. Der Stein solle die Sterne sehen können, die Sonne solle ihn wärmen und der Regen ihn rein waschen können.

Der Hörgr diente den Wikingern als Götzenbild für ihren Gott — Odin. Vor diesem Stein würden sie ihre Opfergaben erbringen und um die Gunst des Göttervaters bitten.

Luca schüttelte in Gedanken den Kopf.

Nach einem kurzen Galopp erreichte er den Tempel, wo ihn der Bauleiter verzweifelt erwartete. Er warf ihm den Beutel zu. Die Erleichterung war dem Bauleiter deutlich anzusehen.

Mit hastigen, aber sicheren Bewegungen beendeten die Arbeiter die Nordwand und halfen bei den letzten Hammerschlägen an der Ostwand weiter. Nach so vielen Tagen des gemeinsamen Blut-, Schweiss- und Tränenvergiessens, waren sie endlich am Ziel angekommen: Sie hatten den Tempel am Ørumsee erbaut.

Es fehlte nur noch der Stein.

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