Die Schuld der Schicksalsweberin

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Ich glaube, hier muss ich nichts weiter erklären. Tut mir leid, dass ich es so lange nicht bemerkt habe.

Von ihrem Fenster aus hat sie einen weitreichenden Ausblick über Dorf, Felder, Wald, Strand und Meer. Sie kann die Menschen beobachten, die winzig klein unter ihr herumwuseln, fischen, bauen, spielen, tanzen, die Felder bearbeiten, die Ernte einbringen, die Tiere versorgen und allzu übermütige Kinder aus Bäumen und Bächen angeln. Das muntere Treiben gefällt ihr sehr. Sie wird nie müde, dabei zuzusehen, wie die Menschen durch Dorf, Wald und Feld laufen, sich treffen, kurz miteinander sprechen und sich dann wieder trennen – oder zusammen weitergehen. Wie sie einander beistehen, sich auch mal streiten, sich aber meistens schnell versöhnen. Und wie sie von hilflosen Babys zu lebhaften, abenteuerlustigen Kindern heranwachsen, dann zu neugierigen, experimentierfreudigen Jugendlichen, um sich später als zuverlässige, arbeitsame Erwachsene zu entpuppen. Und noch viel später als ratgebende, immer hilfsbereite, aber auch mit den Enkeln verschworene Großeltern ihren Lebensabend verbringen, bevor sie eines Tages für immer gehen.

In ihrem Turm ist sie weit entfernt von den Menschen. Sie kann sie nur sehen und hören, nicht aber mit ihnen fühlen, sich sorgen, leiden, staunen und lachen. Dennoch empfindet sie stille, tiefe Freude, wenn sie ihr Leben betrachtet. Und Liebe. Sie liebt die Menschen, die sie kaum jemals berührt und die nicht von ihr wissen. Und die ihre Berufung sind.

Lächelnd kehrt sie zu ihrem Webrahmen zurück. Ihr Bild ist beinahe fertig, sie will nur noch einige letzte Glanzpunkte setzen. Sie nimmt eine Sticknadel zur Hand und ihren Garnkorb, lässt den Blick über das gewebte Bild gleiten.

Das ist es, was sie tagtäglich tut. Bilder weben, welche das Leben der Menschen abbilden. Und ihnen dadurch Leben schenken. Sie ist nur eine von vielen Schicksalsweberinnen, die sich auf diese Weise um die Menschen kümmern. Und sicher nicht die beste, das weiß sie selbst. Aber sie liebt diese Arbeit; sie gibt ihr Bestes und sie versucht immer, es so gut wie nur möglich zu machen.

Auf dem Bild im Rahmen ist die Abbildung eines Dorffestes zu sehen. Keine einzelne Szene, sondern eine Übersicht über den gesamten Platz. Und eine Ansammlung von den vielen kleinen Eindrücken, die das Fest hinterlassen hat. So wollte sie das haben. Denn jeder der Teilnehmer hat das Fest anders erlebt, hat andere Erinnerungen mitgenommen. Die vielen kleinen Momente hat sie einzufangen versucht.

Rechts oben fängt sie an. Dort steht der Ochsenwirt mit nicht mehr ganz sauberer Schürze vor dem dicken Bauch unter dem knorrigen Birnbaum und schimpft zwei Jungen vom reich mit Früchten behangenen Ast herunter. Mit dünnem Garn stickt sie dem Wirt noch dunkle, zornig gerunzelte Brauen und der gerade auf dem Boden aufplatzenden Birne einige gelbe Saftspritzer.

Etwas weiter unten fängt die Schankmagd im letzten Moment einen Bierkrug ein, der vom übervollen Tablett zu fallen droht. Die Weberin fügt etwas Schaum auf dem Hemd des einen Gastes hinzu sowie ein Glanzlicht auf der Bierpfütze, die gerade den hilfreich ausgestrecktem Arm des anderen Gastes herunterrinnt. Als Nachgedanke bekommt dieser Mann noch ein Schmunzeln in den Mundwinkel gesetzt, sozusagen als Kontrapunkt zur angeekelten Miene seines Freundes.

Das Taschentuch, mit dem eine der Frauen am Nachbartisch einigen Neuankömmlingen auf der linken Seite des Platzes signalisiert, sich zu ihnen zu setzen, bekommt einen zarten, wie gehäkelt aussehenden lila Rand. Und dem Wollknäuel, welches die lebhaft winkende Frau gerade vom Tisch stößt, verpasst sie einen Faden bis zum Strickzeug der Nebensitzerin.

In der Mitte des Platzes ist der Tanzplatz. An dessem Rand, direkt an der Vorderseite des Webbildes, tummeln sich kleine Kinder mit ihren Hunden. Die Weberin stickt zwischen die gespreizten Finger der beiden Mädchen auf den flachen Stufen die Schnur eines Fadenspiels und dem neben ihnen kauernden Jungen eine rote Kordel, die er vor den gebannt starrenden Augen eines Kätzchens baumeln lässt.

Der Knochen, um den sich zwei Hunde vor dem Tanzplatz balgen, bekommt einige hellbraune Fleischfetzen. Selbst ihre gewebten Hunde möchte sie nicht hungern lassen. Darum auch stickt sie einen roten Wurstzipfel vor die Schnauze des größeren Hundes, der sich auf den Tanzplatz getraut hat. Mit Silber und Kupfer schenkt sie den vier vorwärts tanzenden Mädchen feine Armbändchen und einem der drei rückwärts gehenden Burschen eine Uhrkette. Die haltsuchend ausgestreckte Hand des vierten Burschen, der bei seinem Tanzschritt gerade über den Hund fällt, bekommt einen goldenen Ring. Einen gleichen arbeitet sie auf die an die rosige Wange gelegte Hand seiner Tänzerin, dazu eine Schnur an das unter einem tiefen Atemzug gedehnte Mieder und erhobene Brauen über die erschrocken geweiteten Augen.

Die Matrone, die mit steifem Rücken vor einem jungen Mann steht, der sich vor ihr in einem übertriebenen Tanzschritt verrenkt, bekommt gerunzelte Brauen, mißbilligend herabgezogene Mundwinkel und eine silberne Kette mit blauem Anhänger. Ihr Tänzer erhält einen graubraunen Gamsbart auf den schiefsitzenden Hut, der sich nur mühsam auf dem Lockenschopf hält.

Eines der Mädchen aus der von links in Bild kommenden Gruppe bekommt ein grünes Monogramm auf das Tuch, mit dem sie der Frau am Tisch zurückwinkt. Der Schankknecht, der mit einem Tablett an den jungen Leuten vorbeigeht, wird mit einer ärgerlichen Stirnfalte ausgestattet. Aus einer Schale mit Soße auf seinem Tablett lässt die Weberin einige Spritzer fliegen – knapp vorbei an dem eingetauchten Finger eines der Mädchen und der draufklatschenden Hand des Kellners.

Den Musikern am Rand des Bildes fügt sie die Bespannung der Geigenbögen zu. Der dritte Geiger, der gerade einen Schluck aus dem Bierkrug nimmt, bekommt einen weißen Schaumklecks auf die Nase. Die Miene des Trommlers neben ihm, der gerade mit spitzen Fingern den achtlos gehaltenen Bogen aus dem Haar zieht, bekommt mittels geschickter Stiche einen pikierten Ausdruck. Zum Ausgleich für sein Ungemach verziert sie ihm dann die Trommel mit bunten Bändern.

Als die Weberin den Blick noch einmal über das Bild schweifen lässt, auf der Suche nach weiteren Dingen, mit denen sie die Eindrücke vertiefen kann, hört sie Schritte auf der Turmtreppe. Das kann nur einer sein. Nur der Ungenannte besucht jemals die Schicksalsweberinnen. Sie zuckt zusammen. Sie wird es ihm wieder nicht recht machen können, das weiß sie. Allerdings – sie hat sich besonders viel Mühe gegeben, Leben und Farbe in das Bild zu bringen. Vielleicht wird er heute nicht ganz so enttäuscht von ihr sein.

Sie springt von ihrem Stuhl auf und räumt gerade den Garnkorb beiseite, als der Ungenannte eintritt. Nimmt ihn den grünen Mantel ab und schiebt ihm den Stuhl hin, damit er ihr Bild begutachten kann.

Lange betrachtet er ihre Weberei. Befühlt die lockigen Haare des Wirtes, für die sie das Garn extra gekräuselt hat, die lange, flatternde Mähne des Mädchens mit dem Ring, die sie aus besonders feingekämmten, langen Wollfäden gearbeitet hat. Beugt sich vor und betrachtet die Schattierungen auf dem faltigen Gesicht der Matrone aus nächster Nähe. Und seufzt schließlich.

„Nicht gut?" Sie schafft es niemals, zu schweigen, bis er zu sprechen beginnt.

Der Ungenannte schüttelt den Kopf. „Handwerklich ist das eine großartige Arbeit", stellt er fest. „Du weißt genau, wie du die verschiedenen Garne einsetzen kannst. Und du webst so fein, dass es wie gemalt aussieht."

Sie unterdrückt ein „Aber...?" Sie weiß, worauf er jetzt zu sprechen kommen wird. Hoffentlich sieht er jetzt endlich einige Fortschritte.

„Nach wie vor", sagt er hart, „kein Leben. Keine Dynamik. Kein Schwung. Deine Figuren stehen da wie Puppen. Man sieht nicht, dass sie sich bewegen, man erkennt keine Interaktionen, keine Gefühle, nichts, was sie auszeichnet. Sie sehen alle gleich aus. Ohne die Gegenstände, die du ihnen in die Hand gibst, könnte man nicht unterscheiden, wer Gast ist und wer serviert. Oder wer zu wem gehört." Er weist auf die tanzenden Paare. „Den beiden hast du gleiche Ringe geben müssen, um zu zeigen, dass sie verlobt sind. Man sieht es weder in ihren Blicken noch in ihrer Haltung zueinander. Und das ist nur ein Beispiel von vielen."

Er steht auf und sieht ihr fest in die Augen. „Du machst keinerlei Fortschritte. Und wie lange webst du schon? 4 Jahrhunderte?" Sie nickt. „Deine Aufgabe ist es, das Schicksal der Menschen dort zu weben. Freude, Liebe und Farbe in ihr Leben zu bringen, das sonst vom grauen Alltag überschattet würde. Du hingegen protokollierst nur, was sie tun. Als würdest du Marionetten arrangieren. Deine Bilder sind gut, aber tot. Du webst das Äußere der Menschen. Aber du erfaßt ihr inneres Wesen nicht. Dabei ist es ganz einfach. Mit winzigen Stichen kann man feinste Nuancen zaubern und damit die Gefühle zum Vorschein bringen. Und ich bin mir sicher, dass du das beherrschst. Du tust es nur nicht."

Als der Ungenannte gegangen ist, steht sie weinend am Fenster. Sie hat gehofft, dass sein Urteil dieses Mal ein klein bisschen besser ausfallen würde. Aber trotz aller Mühen hat sie in alle den Jahrhunderten nichts gelernt. Sie kann es immer noch nicht.

Sie blickt auf die Menschen herunter. Ungesehen geht der Ungenannte zwischen ihnen hindurch, zu seinem Boot, welches nur sie sehen kann. Die Menschen bei ihren täglichen Verrichtungen zu beobachten gibt ihr immer wieder Kraft. Und die braucht sie jetzt nötiger denn je.

Aber diesmal fließt ihr keine Kraft mehr zu. Die Menschen laufen nicht mehr fröhlich durcheinander, zeigen keinerlei Schwung. Sie bewegen sich steif und hölzern, stolpern ungeschickt herum und sprechen nicht miteinander. Wenn sie sich begegnen, nicken sie sich ruckartig zu und gehen ihrer Wege. Ungerührt sehen sie zu, wenn sich andere abplagen, als hätten sie vergessen, wie man Hilfe anbietet. Sie weinen nicht, wenn sie sich verletzen und sie lachen nicht, wenn ihnen etwas Gutes widerfährt.

Die Weberin beginnt zu verstehen, dass sie die ganze Zeit einer Illusion erlegen ist. Die leichte, fließende, alles durchdringende Vitalität hat sie sich immer nur eingebildet. Die Menschen dort unten sind so tot wie ihre Bilder. Sind es nur, weil ihre Bilder schlecht sind. Handwerklich gut, aber ohne Ausdruck.

Sie hat gerne in die Ferne gesehen. Jetzt weicht sie dem Ausblick aus, sieht direkt am Turm nach unten.

Seltsam. Sie hat nie gewußt, dass er so hoch ist.

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