Wo bitte geht's zum Krieg?

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Vielleicht kennt ihr das Video auch: Ein russischer Panzer fährt auf ein Dorf zu, bis ihm der Weg von der Bevölkerung verstellt wird - unbewaffnet und ohne jede Aggression stehen die Leute vor ihm und weigern sich einfach, ihn durchzulassen. Ein Mann geht auf die Besatzung zu, spricht kurz mit ihnen und nach einem Moment wendet der Panzer und fährt fort. Jemand sagt dazu: Die Besatzung wollte wissen, wie es nach  Kiew geht. Unser Bürgermeister hat ihnen gesagt, sie sollen heimfahren.

Ob das ein Fake ist oder nicht, kann niemand außerhalb der Ukraine entscheiden. Ich für meinen Teil wünsche mir, dass es keines ist. Und ich stelle mir vor, dass es dann ungefähr so abgelaufen sein könnte.

Knirschend und schwankend kommt das schwere Fahrzeug so abrupt zum Stehen, dass Arkadij von seinem Sitz rutscht und Denis auf seinem Platz ganz hinten auffährt: „Was ist denn los?" Er hat mal wieder geschlafen. Arkadij versteht immer noch nicht, wie man bei dem steten Schaukeln und Holpern überhaupt schlafen kann. Der beneidenswerte Denis hat da kein Problem. Sobald es nichts für ihn zu tun gibt, schläft er ein. Und zu tun hat er zurzeit nichts. Die Funkverbindung ist schon vor zwei Tagen abgerissen und konnte bislang nicht wieder hergestellt werden.

Arkadij wälzt sich zu Pavel vor. „Warum hältst du?"

Der Fahrer weist auf das winzige Sichtfenster. „Da sind Leute. Ich kann nicht weiterfahren."

„Du fährst einen Panzer", erinnert ihn Arkadij. Und erschrickt über seine eigenen Worte. Hat er den Kameraden tatsächlich gerade aufgefordert, Menschen zu überfahren?

„Soll ich dir den Weg freischießen?" Kerko zieht das Bedienelement des Geschützturms zu sich heran.

„Nein!" Pavel schluckt. „Sie – sie sind unbewaffnet. Und sie tun nichts. Sie stehen nur da!"

Arkadij krabbelt zurück zum Sitz in der Kommandantenkuppel und richtet das Periskop aus. Fünf Spiegel liefern ihm verschiedene Ansichten der Außenwelt.

Sie befinden sich noch immer noch auf der unbefestigten, aber geteerten Straße, der sie seit zwei Stunden folgen. Und wie schon die ganze Zeit liegen hinter und neben ihnen vor allem Felder und Wiesen in braun und grau. Die Zeit der Feldarbeit ist noch nicht angebrochen, weder hier noch zu Hause. Einen Moment lang fragt sich Arkadij, wie seine Eltern es ohne ihn schaffen sollen, wenn in wenigen Wochen gepflügt und ausgesät werden muss. Es sieht nicht so aus, als würde er bis dahin wieder zu Hause sein.

Vor ihnen führt die Straße in ein Dorf. Ein Bauerndorf, genau so eines wie das, aus dem Arkadij, Pavel und Denis auch stammen. Nur sprechen die Menschen zuhause russisch und die hier ukrainisch. Aber die meisten verstehen auch russisch und etliche von ihnen sogar nur das.

Zwischen dem Panzer und dem Dorf stehen Menschen. Junge und alte, Frauen und Männer, nur Kinder sind nicht zu sehen. Sie sind in Jeans und Steppjacken gekleidet, in Wollhosen und Lodenmäntel, in Strickpullis und dicke Röcke. Die Füße in Gummistiefeln, derben Schuhen und Boots stehen fest auf der Straße und den Feldern rechts und links. Niemand sagt etwas. Keiner trägt eine Waffe. Und keiner der Menschen wirkt in irgendeiner Weise feindselig. Aber sie stehen dem Panzer unbeirrt im Weg und weichen nicht von der Stelle.

Kerko lugt Arkadij über die Schulter. „Was sollen wir jetzt machen? Ich kann doch nicht auf diese Menschen schießen. Sie greifen uns nicht an."

„Der General würde Schießbefehl erteilen", sagt Arkadij tonlos. Dazu muss er nicht einmal nachfragen. Was er ohnehin nicht tun kann. Der Funk ist immer noch gestört.

„Denis?"

Der zuckt die Schultern. „Technisch ist alles in Ordnung. Ich habe alles mehrfach überprüft. Und gerade eben habe ich wieder versucht, Verbindung zu bekommen, aber ich hatte keinen Erfolg."

„Gerade eben?" Pavel wendet sich um. Denis grinst. „Ja, gerade eben. So kannst du das ins Protokoll schreiben, Arkadij."

Sein Kommandant nickt. „Das werde ich tun." Kein Wort davon, dass sie alle Denis' Schnarchen gehört haben, aber keine Störgeräusche aus dem Funkgerät.

„Was machen wir jetzt?" Pavel kaut auf der Unterlippe. „Wir können ja schlecht so stehen bleiben, bis der Krieg zu Ende ist."

„Nein." Arkadij steht auf, soweit es der kleine Raum ihm erlaubt. „Ich geh mal raus."

„Hältst du das für eine gute Idee?"

„Hast du eine bessere?"

„Nein."

Arkadij öffnet die Luke, zieht sich hoch und schwingt sich aus dem Panzer. Das hat er in den letzten Wochen wieder und wieder geübt. Während des Manövers, aus dem dann ohne jede Vorankündigung Ernst wurde.

„Nimm eine Waffe mit", ruft Kerko noch hinterher, aber da steht Arkadij schon auf der Straße.

„Hätte er nicht gemacht", bemerkt Denis. „Und das wäre auch nicht gut gewesen, solange die Leute da unbewaffnet sind."

Arkadij geht unterdessen einige Schritte auf die wartenden Menschen zu und bleibt dann stehen. Er müsste mit ihnen reden, denkt er. Leider beherrscht er das Ukrainische nur sehr unzureichend.

Ein einzelner Mann kommt nun auf ihn zu. Auch er trägt nichts, was man als Waffe benutzen könnte. Er ist etwa um die Fünfzig, breit und kräftig gebaut, mit angegrautem Haar, freundlichen Augen und tief ins braune Gesicht eingegrabenen Sorgenfalten. Bei diesem Anblick muss Arkadij an seinen Vater denken.

„Was macht ihr hier?" Der Mann klingt nicht wütend oder aggressiv. Nur leicht vorwurfsvoll. Und er spricht Suržyk, die gebräuchliche Mischsprache aus Russisch und Ukrainisch. Das kann Arkadij einigermaßen verstehen.

„Wir sind auf dem Weg nach Kiew", erklärt er. Auf Russisch. Verstehen ist das eine, sprechen das andere.

Der Mann schüttelt den Kopf. „Nicht durch unser Dorf." Er hat nun auch zum Russischen gewechselt. Gut. Verständigen können sie sich wenigstens.

„Du meinst, der Weg führt nicht dort entlang?" Das hat Arkadij schon fast vermutet. Seit sie den Funkkontakt verloren haben, irren sie durch die ihnen fremde Ukraine, versuchen die Straßenschilder in einer von dem ihnen bekannten Kyrillisch abweichenden Schrift zu entziffern und den Anschluß an den Rest der Truppe wiederzufinden. Arkadij weiß nur, dass sie nach Kiew fahren sollen. Was sie dort zu tun haben, hat der General gemeint, erfahren sie noch früh genug. Arkadij und seine Kameraden haben noch die stille Hoffnung, dass sie dort nur Straßen blockieren sollen. Sie sind erst seit kurzem in der Armee und noch sehr unerfahren.

„Wie es nach Kiew geht, werde ich dir nicht sagen", erwidert der Mann ruhig. „Wer bist du überhaupt?"

„Arkadij", irgendwie kommt es ihm nicht in den Sinn, etwas anderes als seinen Vornamen zu nennen.

„Freut mich. Ich bin Kyril und der Bürgermeister dieses Ortes. Wir sind friedliche Bauern, wie du vielleicht sehen kannst und möchten eigentlich nur in Ruhe unsere Felder bestellen. Panzer und Maschinengewehre brauchen wir hier nicht."

Arkadij nickt. Kyril hat recht. Arkadijs Vater hat ähnliches zu ihm gesagt, als Arkadij zur Armee ging. „Nur einige Monate", hat ihm Arkadij damals versprochen. „Wir brauchen das Geld." Jetzt ist es schon beinahe ein Jahr und Arkadij irrt in einem fremden Land umher, mit dem Befehl, Menschen zu töten, die ihm nichts getan haben.

„Wir wollen euch auch nichts tun. Wir wollen nur wissen, wie wir nach Kiew kommen."

„Um den Menschen dort etwas zu tun?" Kyril schüttelt ungehalten den Kopf. „Geht wieder heim. Das hier ist unser Land. Ihr habt euer eigenes und braucht unseres nicht. Wir wollen hier keinen Krieg haben."

Arkadij sieht auf die Menschen, die hinter ihrem Bürgermeister stehen. Keiner von ihnen bedroht ihn in irgendeiner Weise. Und in keinem der Gesichter ist Hass zu sehen. Nur die feste Entschlossenheit, den Panzer nicht weiter vorrücken zu lassen. Die Heimat, die Menschen, vor allem die Kinder zu schützen.

Es sind Menschen wie die in seinem Dorf daheim. Arkadij blickt in junge, frische Gesichter und in alte und müde. Bemerkt ein vages Lächeln um die Lippen bei einem, misstrauisch gerunzelte Brauen bei einem anderen. Abgearbeitete Hände und von der Feldarbeit gestählte Muskeln. Eine Frau trägt eine reichbestickte Bluse. Arkadijs Mutter stickt andere Muster und mit anderen Farben. Könnte sie ihn jetzt sehen, würde sie ihn sicher auffordern, das Muster abzuzeichnen. Wäre sie jetzt hier, würde sie sich mit der Ukrainerin austauschen – auf Russisch, auf Ukrainisch, auf Suržyk, wie auch immer. Die Sprache der Sticknadeln ist international.

Kyril scheint in Arkadijs Gesicht zu lesen. „Fahrt nach Hause, Kinder", sagt er etwas sanfter. „Dies hier ist weder euer noch unser Krieg. Tötet niemanden und bleibt selbst am Leben. Fahrt einfach heim. Eure Familien warten auf euch." Dann dreht er sich um und geht zu seinen Leuten zurück, die weiterhin die Straße blockieren.

Arkadij steigt wieder in den Panzer. Die Mienen seiner Kameraden sagen ihm, dass sie mitgehört haben. Und nun sehen sie ihn hoffnungsvoll und ängstlich an.

Es wäre so einfach, weiterzufahren. Der Panzer würde diese Menschen mit Leichtigkeit überfahren und die Häuser würden dem Beschuß aus den beiden Kanonenrohren nicht standhalten. Der General würde genau das von ihnen erwarten.

Aber Arkadij kann diesen Befehl nicht geben. Es ist etwas anderes, Gebäude kaputt zu schießen und sich dabei zu sagen, dass man nur den Feind bekämpft. Aber hier hat der Feind Gesichter bekommen. Und die sind nicht wesentlich anders als die der Lieben daheim.

„Dreh um", sagt Arkadij zu Pavel. „Aber auf der Straße."

Pavel nickt. Der weiche Ackerboden wäre kein Hindernis für den Panzer. Aber wie Arkadij stammt Pavel aus einem Dorf und vor dem Eintritt in die Armee hat er selbst die Felder bestellt, die so leicht zerstört werden können. Geschickt lenkt er das schwere Gefährt, bis es mit dem Heck zum Dorf steht und lässt es die Straße zurückrollen.

Schon bald haben sie die Kreuzung erreicht, die sie vorhin überquert haben. Vier Wege treffen sich hier. Vorwärts geht es dahin, wo sie hergekommen sind, nach Russland. Rechts oder links muss es nach Kiew gehen. Vielleicht direkt, vielleicht durch andere Dörfer wie dieses hindurch. Mit anderen Menschen. Die aber ebenfalls keinen Krieg wollen.

Pavel stoppt und dreht sich zu Arkadij um.

„Und wohin jetzt?"

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