- Kapitel VI -

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Au Mann! Alessandro kann doch gar nichts dafür. Ich sollte mich bei ihm entschuldigen. Aber eben musste diese innere Spannung einfach raus.
Ich werfe mich auf mein ungemachtes Bett und vergrabe das Gesicht in den Kissen. Am liebsten würde ich in die Matraze boxen. Wenn das meinem Wesen entspräche. Das "ich bin gelassen und freundlich"-Gen ist bei mir aber sehr gut integriert, und so gehorche ich meinem Wesen und boxe nicht. Ich will nichts mehr sehen und nichts mehr hören.

Und nichts mehr fühlen, denn es tobt ein Sturm in mir. Ich habe so viel gelernt und verstanden und gefühlt in den letzten Wochen, dass ich das alles nicht mehr ausschalten kann. Auch wenn es weh tut, merke ich nun dauernd, was ich grade fühle. Das ist eigentlich gut, aber diese Ausweglosigkeit fühlt sich furchtbar an. Ich muss hier verschwinden, sobald mein Bein ganz geheilt ist. Spätestens, wenn der Frühling da ist.

Wir zwei werden keine Revolution anzetteln. Wir werden diese Welt weder gesünder noch gerechter noch irgendwie anders besser machen. Darum muss ich gehen. Damit Alessandro wieder zur Ruhe kommen und in sein normales Leben zurückfinden kann. Das bin ich ihm nach all den Wochen schuldig.

Ich finde noch lange keine Ruhe, schlafe schlecht und stehe schon sehr früh am nächsten Morgen wieder am Fenster. Wieder rasen meine Gedanken wie die Wolken am Himmel bei Sturm. Ich finde keine Antwort auf die Frage, wie es weitergehen soll.

Es klopft. Ich antworte nicht. Ich bin noch nicht bereit. Erst jetzt merke ich, dass ich auch die ganze Zeit weine. Aber Alessandro kommt nach einem Moment auch so herein. Er stellt mir ein Tablett mit Frühstück auf den Tisch, kommt zu mir und zieht mich einfach in seine Arme.
"Es ... es tut mir leid, Alessandro. Bitte entschuldige. Du kannst überhaupt nichts dafür, ich habe absolut kein Recht, dir irgendeinen Vorwurf zu machen. Ich ..."
"Wenn du nicht sofort den Mund zuklappst und mit diesem Unsinn aufhörst, dann ... dann ..."
Er ringt um die richtigen Worte, ist mir zugewandt, klingt gleichzeitig besorgt und tröstend.
"Mensch, ich hab dich gern. Ich will, dass es dir gut geht. Ich will ganz unbedingt mit dir zusammen eine Lösung finden. Dein ICH finden. Irgendeinen Weg finden, der dir ein Leben in Würde ermöglicht. Bitte gib noch nicht auf."

Ein paar Minuten ist es ganz still. Nur unser Atem ist zu hören.
"Gib noch nicht auf, mein Freund. Das Eingesperrtsein ist schlimm für dich. Solange du nichts anderes kanntest, war es normal. Aber jetzt ist es nicht mehr gut für dich."

Mein Freund. Das klingt so schön. Wie kann ich fortlaufen, wenn ich hier so geachtet und gewollt bin?
"Ich ... danke. Ich will nicht undankbar sein. Ich ... können wir versuchen, ab und zu nachts im Wald spazieren zu gehen? Gibt es eine Möglichkeit da raus, wo wir nicht gesehen werden können?"
Alessandro lächelt und lockert seine Umarmung.
"Gegenfrage: wie bist du denn ungesehen reingekommen?"

Ich gehe die paar Schritte und setze mich an den Tisch.
"Ich war vorher schon ein paarmal in deinem Schuppen, wenn es zu doll geregnet hat. Ich habe lange beobachtet, ob es an Zaun und Hecke irgendwelche Bewegungsmelder oder Kameras gibt. Reingekommen bin ich dann über den alten Baum. Ich wollte keinen Geruch in der Hecke hinterlassen."

"Okay, auf dem Weg werde ich mein Grundstück bestimmt nicht verlassen, das ist mir zu anstrengend. Und auch zu auffällig. Gegenvorschlag: der Garten hat ein ziemlich eingewachsenes Tor zum Wald hin. Efeu ist immergrün. Ich könnte versuchen, das Tor so freizuschneiden, dass es immer noch blickdicht ist und dass man von außen nicht sieht, dass das Tor wieder benutzbar ist. Die meisten Nachbarn wissen wahrscheinlich gar nichts mehr von dem Tor. Ich gehe dann ganz normal vorne raus und den offiziellen Weg zum Wald, du kommst an der Seite dazu. Und ich schlage vor, dass du ab jetzt mein Duschgel, Shampoo und so weiter benutzt. Wir sollten versuchen, deinen Eigengeruch abzuschwächen."
Und da ist es wieder. Ich darf nicht so riechen, wie ich nun mal rieche, weil ich dann leichter gefunden werde.


Traurig senke ich den Kopf, und Alessandro muss nicht lange nachdenken, warum.
"Ich weiß, dass das ein fauler Kompromiss ist. Aber ich weiß auch, dass Bewegung nicht nur dem Körper sondern vor allem der Seele gut tut. Wir wollten doch das Bein röntgen. Komm, lass uns das jetzt endlich machen. Bevor mein Personal kommt - es ist Montag."
Wieder kommen mir die Tränen.
"Ich möchte eines Tages nicht mehr mogeln, nicht mehr Licht abdämpfen, nicht mehr im Dunklen umherschleichen. Muss ich mir denn Ohren und Schwanz aboperieren lassen, damit nicht jeder sofort sieht, dass mit mir was nicht stimmt???"

Einen Augenblick ist es sehr still zwischen uns. Dann stehen wir auf und gehen runter, ohne ein Wort über diesen spontanen Ausbruch zu reden. Er bleibt wie unsichtbar feiner Nebel zwischen uns schweben und geht nicht mehr weg.

Wir laufen sofort rüber in die Praxis. Alessandro bereitet alles vor und macht dann aus verschiedenen Blickwinkeln Bilder von meinem Schienbein. Das Ergebnis ist erfreulich. Der Knochen ist noch nicht wieder ganz verheilt, aber auf dem besten Wege.
"Eine Woche noch, dann kann der Gips ab. Und in zwei Wochen können wir sicher schon in den Wald."
"Das nehme ich wörtlich! Dann habe ich was, worauf ich mich freuen kann."
Gemeinsam wenden wir uns zurück zum Haus.

"Pass auf. Ich werde schon vorher ab und zu spazieren gehen und im Wald nach Wegen suchen, wo wenig Leute rumlaufen. Und du kannst mir dann dein Versteck zeigen. Vielleicht gibt es auch noch ein paar Spuren, die wir beseitigen sollten."
Falsches Stichwort. Ich will auch nicht alle meine Spuren verwischen müssen. Es ist zum Auswachsen!
Beim Frühstück oben in meinem Zimmer ist es wieder einmal sehr still zwischen uns. Wissend, dass es mir nicht gut geht, macht sich Alessandro fertig für den Tag, verabschiedet sich und geht rüber in die Praxis. Ich bleibe allein.

Es ist Abend, und ich bin froh, dass ich endlich nach Hause gehen kann. Die Woche wird anstrengend, weil so viele Leute meinen, über Weihnachten krank werden zu müssen. Heute haben wir sogar die Mittagspause durchgearbeitet. Und ich will auch zu ICH. Es fiel mir nicht leicht heute Morgen, ihn in dieser Stimmung allein zu lassen. ICH ist einfach zu gut für diese Welt.
Wir kochen und essen, wir lesen und diskutieren, wir machen den Kamin an und eine Flasche Wein auf. Er gibt sich alle Mühe, gefasst und gelassen zu wirken - aber er kann mich nicht darüber hinwegtäuschen, dass es ihm ziemlich dreckig geht.

Auch mir schießen so viele Gedanken durch den Kopf.
Wird es für ihn Freiheit geben? Wird es vielleicht sogar für seine Leidensgenossen Freiheit geben? Mit was für einer Organisation nehme ich es hier auf? Welches Geflecht von Machtstreben, Korruption und Größenwahn steckt dahinter? Wie komme ich an Informationen, ohne dabei aus Versehen in ein Wespennest zu stoßen?
Wahrscheinlich kann ich froh sein, wenn ich den einen Hybriden retten kann. Und mich. Alle zu retten, ist doch ziemlich utopisch. Ich habe allerdings die Befürchtung, dass er seine Freiheit nicht voll genießen könnte in dem Wissen, dass das Leiden der anderen, dass der Wahnsinn einfach immer weiter geht.

ICH reißt mich aus meinen Gedanken.
"Hast du das Puzzle schon wieder weggeräumt? Ich ... würde mir gerne nochmal ansehen, was wir da alles draufgeschrieben haben."
"Kein Problem."
Ich freue mich, hole wieder die Schachtel aus dem Schrank und mache ihm gutes Licht am Tisch an. Zunächst ziellos, dann immer schneller sammelt er genau die Teile aus der Schachtel, auf denen etwas zu ihm hinten drauf steht. Er liest meine Stichworte. Er schiebt sie auf dem Tisch hin und her, bildet Gruppen.

"Kann ich ein paar Blatt Papier oder einen Notizblock haben?"
"Klar. Und hier sind Stifte."
Ich reiche ihm beides an. ICH klappt den Collegeblock auf, reißt ein paar Seiten raus und schreibt die ganzen Stichworte auf. Er reißt die Seiten in lauter einzelne Wortschnipsel. Dann schiebt er wieder.
"Schau mal. Zwischen den ganzen anderen äußeren Merkmalen gehen die Ohren und der Schwanz ziemlich unter. So fühlen die sich herrlich unwichtig an."
"Was von deinem Äußeren magst du selbst denn am liebsten?"
Die Antwort kommt wie aus der Pistole geschossen.
"Meine Augen."
Ich nicke.
"Das verstehe ich gut. Ich finde sie auch wunderschön. Und noch mehr das Strahlen, wenn du dabei lächelst. ... Es steht dir!"

Er sieht zufrieden aus, während er nun still beginnt, seine "inneren Eigenschaften" zu sortieren. Seine nächste Frage verblüfft und verwirrt mich.
"Du schaust mir jetzt schon seit Wochen zu - wie ich bin, was ich kann. Fällt dir ein normaler Beruf ein, für den ich geeignet wäre?"
Wo ist er denn jetzt angekommen? Ein normaler Beruf? Will er arbeiten? Will er raus und unter andere Menschen gehen? Wie soll das denn klappen? Hat er das mit dem Wegoperieren vorhin etwa ernst gemeint???
ICH scheint meine Verwirrung zu spüren. Verstehen huscht über sein Gesicht, und er schiebt eine Erklärung gleich hinterher.
"Einfach nur so. Das ist doch auch ein Teil vom ICH, oder?"
"Natürlich. Ich höre dabei allerdings ein bisschen zu viel 'ich muss gut, richtig, leistungsfähig, brauchbar sein' heraus. Dein ICH zeigt sich vor allem in deinem Wesen. In deinen Besonderheiten, in deinen Ideen. Es gibt dich nur dieses eine Mal auf der Welt. Du bist nicht austauschbar, nicht ersetzbar. Finde heraus, was dich so einzigartig und liebenswert macht."

Jetzt zieht sich ein Schleier von Unzufriedenheit und Ungeduld über sein Gesicht. Aber er sagt nichts mehr dazu. Er sortiert noch eine Weile seine Puzzlestücke und Zettelchen und schreibt sie dann ab in sein Tagebuch. Stumm räumt er das Puzzle weg. Es ist eindeutig. Er hat Stoff zum Denken bekommen, aber im Moment will er nicht weiter mit mir darüber reden. Also lasse ich ihn in Ruhe.

Er stellt meine Geduld allerdings gewaltig auf die Probe, denn so richtig ins Gespräch kommen wir erst wieder am Freitag, an Neujahr. Und das macht mich ziemlich nervös. Er ist nicht mehr der totkranke, gehetzte Hilflose vom Anfang. Er ist gesünder, stärker, er hat seinen Verstand geschärft an den vielen Büchern, in unseren Gesprächen. Er ist seinen Gefühlen, dem Fühlen an sich auf die Spur gekommen. Er hat seinen Blick in die Zukunft gerichtet und versucht, einen Wert, ein Ziel für sein Leben zu finden. Und er schweigt.

Das neue Jahr hat angefangen. Wir sitzen beim Mittagessen, plaudern über Belanglosigkeiten. Ich bewundere Alessandros schier unerschöpfliche Geduld mit mir. Er drängt nicht, er hält das Nichtwissen mit mir aus. Plötzlich habe ich das Gefühl, dass ich endlich eine Entscheidung fällen muss, wie es mit mir weitergehen soll. Ich kann das nicht ewig vor mir herschieben. Ich kann mich nicht weiter zurücklehnen in diesem warmen, wie für mich gemachten Nest. Ohne lange nachzudenken, schießt eine Frage aus mir heraus.

"Wenn ich ... wenn ich ein normales Leben führen will, muss ich angepasst sein, unauffällig sein. Würdest du mir dafür die Ohren und den Schwanz aboperieren? ... Damit ich frei sein kann?"
Ich halte den Atem an, bin selbst schockiert über meine Frage, bin gespannt, was er nun antworten wird.
Aber erstmal bleibt er ganz still, rührt sich nicht mehr, schaut mich nicht an. Es fühlt sich an wie eine halbe Ewigkeit.
"Das ... kommt drauf an, aus welcher Motivation heraus du mir ... diese Frage stellst."
Wunderbar. Jetzt muss ich wirklich drüber nachdenken, warum ich das gefragt habe.

Erst einige Stunden später wird mir etwas bewusst. Alessandro hat recht mit dieser Frage. Ursprünglich war ich auf der Suche nach meinem ICH. Eine richtige Antwort habe ich noch immer nicht, immerhin aber einige Puzzlestücke. Ist es nicht eine Kapitulation vor dem Leben, wenn ich diese Frage aufgebe, wenn ich bereit bin, Teile meines körperlichen ICH's dranzugeben, um nur endlich so was wie frei zu sein? Werde ich dadurch wirklich frei? Denn das Versteckspiel ginge damit nur in anderer Gestalt weiter.
Was ist meine Motivation? Dazugehören wollen? Etwas Sinnvolles tun wollen? Diesen vier Wänden entkommen wollen? Oder noch irgendwas, was ich selbst noch nicht durchschaue?

Ich verschwinde nach dem Essen zügig in die Bibliothek, um weiter nachdenken zu können. Mir brummt schon wieder der Schädel vor lauter Grübelei. Ich mache mich auf die Suche nach Alessandro. Der ist aber im ganzen Haus nicht zu finden.
Seltsam. Heute ist doch Feiertag. Also kann er eigentlich nicht drüben in der Praxis sein.
An der Garderobe sehe ich dann, dass seine Winterstiefel und seine dicke Jacke weg sind. Und auf dem Tisch liegt ein Zettel.
"Bin im Wald."
Ach so! Na dann.

Noch viel näher an der Selbstaufgabe kann man eigentlich nicht sein - als ICH, der mir diese ungeheuerliche Frage gestellt hat. Es hat mich meine gesamte Selbstbeherrschung gekostet, so ruhig zu bleiben und ihm diese Rückfrage zu stellen. Mich schreckt nicht, dass das eine sehr komplizierte Kopfoperation wäre, weil ich im Grunde sein Gehör verlegen müsste. Auch die Tatsache nicht, dass er ja immer noch nach sich selbst riechen würde und darum mitnichten in Sicherheit wäre. Ich habe mich nicht nur an seine Anwesenheit gewöhnt - er gehört jetzt zu mir wie ein Sohn oder ein Freund.
Was mich so erschreckt, ist die Tatsache, dass ich keinerlei Trotz oder Trauer in seiner Stimme gehört habe, als er das sagte. Immerhin hat er unmittelbar danach selbst ziemlich verblüfft ausgesehen und sich dann bald in die Bibliothek zurückgezogen. Es scheint also kein im Verborgenen gereifter Entschluss sondern mehr ein spontaner Test gewesen zu sein - ein "wie sich das wohl laut anhört und anfühlt?" Das lässt noch hoffen.

Meine innere Unruhe treibt mich schließlich in den Garten. Und angesichts des unberührten Schneeteppichs und der glitzernden vereisten Zweige der Bäume beschließe ich, jetzt gleich einen längeren Spaziergang zu machen. Das lüftet den Kopf und verschafft uns beiden eine Pause. Ich hole meinen Rucksack, denn ich mag den Geruch brennender Tannenzapfen. Ich will einige sammeln und trocknen, damit ich sie bei Bedarf mit in den Kamin stecken kann. Ich lege ICH einen Zettel hin, damit er weiß, wo ich bin, dann ziehe ich los.

Die paar hundert Meter bis zum Waldrand sind schnell gelaufen. Ich atme tief die kalte, klare Winterluft ein und freue mich an der Stille. Nur das Knirschen unter meinen Schuhen ist zu hören. Ab und zu fällt ein Schneeklumpen mit einem leisen Plopp von einem Ast in eine Schneewehe. Ich sehe kaum andere Menschenspuren, nur die Abdrücke von Wildtieren, die den Weg gekreuzt haben.

Die ganze Zeit schweifen meine Augen aufmerksam hin und her, es dauert aber eine Weile, bevor ich selbst begreife, was ich eigentlich suche. Sein Versteck. Wo könnte sich ICH in diesem Wald versteckt haben, bevor er zu mir gekommen ist? Da er anscheinend gut klettern kann, vermute ich einen Platz in einer dicken Astgabel irgendwo oben in den Bäumen.
Mein Blick richtet sich nach oben. Die Laubbäume in diesem Mischwald sind durch den Winter kahl, ich kann weit sehen, aber einen passenden Baum kann ich nicht entdecken.
Wie schützt man sich in einem Wald vor Feinden? Vor Spürhunden? Wie schafft man es, keine Spuren zu hinterlassen? Im Grunde muss er sich da oben bewegt haben. Aber dennoch müsste es einen Aufstiegspunkt geben.

Ich spaziere weiter den Hauptweg in den Wald hinein. Nach einer Weile komme ich an die Brücke über den Waldbach. Nachsinnend bleibe ich am Geländer stehen. Hier beginnt ein sehr viel dichterer Teil des Waldes. Mehr Unterholz, weniger Wege, schlechtere Sicht.
Soll ich überhaupt noch weiter suchen?

Da fällt mein Blick auf einen kräftigen, schräg abwärts zum Eis verlaufenden Ast etwa 50 Meter weiter bachabwärts. Der Bach ist inzwischen bei der lang anhaltenden Kälte zugefroren, Tierspuren sind auf dem Eis zu sehen. Neugierig schaue ich am Geländer der Brücke hinunter, und dann wird mir klar, wo das Versteck von ICH sein muss. An den tragenden Streben unter der Brücke sind Stellen, die wie sauber geputzt aussehen. Die Stellen, wo er beim Klettern Hände und Füße angesetzt hat.

Ich schwinge mich übers Geländer, folge diesen Spuren nach unten und teste, ob das Eis mich trägt. Es scheint stabil zu sein, und das Wasser ist ja auch nicht tief. Ich bin bald bei dem Ast angekommen und finde auch hier feine Kletterspuren - ein gebrochenes Zweiglein, eine Schürfung in der Rinde. Ich habe keine Mühe, auf den Ast zu gelangen und darauf ins dichte Geäst zu laufen. Bald bin ich sicher fünf bis sechs Meter über dem Boden.

Ein paar Kronen weiter dann bin ich am Ziel. Drei alte Bäume sind so nah beieinander gewachsen, dass ihre dicken Äste sich ins Gehege gekommen und umeinander herum gewachsen sind. Gemeinsam bilden sie eine erstaunlich große, waagerechte und schlecht einsehbare Plattform. Ich lasse mich für einen Moment nieder. Persönliche Gegenstände sind hier oben keine zu sehen.
Er wird in jener Nacht alles bei sich gehabt haben.

Ich schaue mich suchend um, schiele auch über den Rand der Plattform. Was ich dabei erspähe, lässt mir das Blut in den Adern gefrieren. Abgebrochene Äste an den Stämmen von unten bis oben, die beweisen, dass hier jemand raufgeklettert ist. Und ICH war das nicht! Auf dem Waldboden viele Fußspuren von Menschen - und Hunden. Alte und jüngere Spuren, doch selbst die haben schon wieder etwas Schnee darauf. Das ganze muss also länger her sein, und wenn sie den Weg zu mir bis jetzt noch nicht gefunden haben, dann war das hier für sie wohl eine Sackgasse.
Gott sei Dank!
Um die Bäume herum liegen die Fetzen einer Wolldecke, aufgeschlitzte Plastikflaschen und mehrere kleinere, zertretene Gegenstände, die ich von hier oben nicht identifizieren kann. Die Verfolger haben das Versteck aufgespürt und alles zerstört, was ICH hier verborgen hatte. Und sie müssen sehr systematisch gesucht haben, sonst hätten sie hier weit weg von jedem Weg dieses Nest nicht entdecken können. Ich fotografiere alles, wie ich es vorgefunden habe.

Ich klettere vorsichtig an den Aststümpfen hinunter und versuche von dort aus, die Fetzen und Reste einzusammeln. Auf dem Waldboden will ich keine Spuren hinterlassen. Es gelingt mir, einiges zu erreichen, was ich dann zu den schon gesammelten Zapfen in den Rucksack stecke. Es ist kläglich wenig und halb vergammelt. Den Rückweg lege ich zurück wie den Hinweg. Ab der Brücke beschleunige ich meine Schritte. Ich fühle Unruhe. Am liebsten würde ich ICH nun überhaupt nicht mehr alleine lassen. Und ich weiß auch, was ich nun ganz sicher nicht tun werde - das alte Gartentor zum Wald freischneiden.

Eine Stunde später kommt Alessandro durchgefroren nach Hause. Er freut sich, dass der Kamin bereits brennt und ein heißer Tee auf ihn wartet. Er wirkt sehr ernst. Nachdem er sich aufgewärmt hat, holt er einen vollen Rucksack aus dem Flur und stellt ihn mir wortlos hin.
Ich nehme den Rucksack, mache ihn auf und erstarre. Vor mir sehe ich die wenigen Sachen, die ich in meinem Versteck hatte. Zerstört. Von Menschen. Sie waren hier. Sie sind ganz nahe. Angst kriecht mir den Rücken hoch, während ich Alessandro anschaue. Der zückt sein Handy und hält mir eine Reihe von Bildern hin.
Spuren im Schnee. Um mein Versteck herum. Auch Hundespuren. Die Spürhunde. Sie wissen, dass ich da war.

Die Zeit steht scheinbar still. Durch einen Nebel aus Angst höre ich irgendwann Alessandros beruhigende Stimme.
"Mach dir bitte noch nicht all zu viele Sorgen. Dein Versteck war gut. Sie müssen lange gesucht haben. Diese Spuren sind unterschiedlich alt, sie waren also mehrfach da. Aber keine dieser Spuren führen auch nur in die Nähe unserer Siedlung. Durch die wochenlangen Schneefälle können sie auch deine Spur nicht aufgenommen haben. So lange ich mich nicht auffällig verhalte, können sie uns eigentlich nicht miteinander in Verbindung bringen."
"Jetzt schon. Denn jetzt werden deine Spuren sie zu uns führen."

Er lächelt gequält, auch er hat wohl Angst.
"Nein, können sie nicht. Ich vermute, auch du hast dich dort so bewegt - von Baum zu Baum. Meine Fußspuren führen gar nicht bis dorthin. Ich bin von der Brücke aufs Eis. Dort bis zu dem niedrig hängenden Ast. Und dann habe ich mich einfach kreuz und quer in den Bäumen auf die Suche gemacht."

Ich atme etwas auf.
"Was glaubst du, wie lange sie noch brauchen, bis ich hier nicht mehr rauskomme?"
"Das kann noch eine ganze Weile dauern. Ich vermute, sie weiten ihre Suche wieder in andere Gegenden aus, weil du jetzt so lange nicht mehr aufgetaucht bist. Sie werden sicher frühestens dann hier suchen, wenn der Schnee weggetaut ist und sie eine Chance haben, dass die Hunde deine Witterung aufnehmen können. Wenn das überhaupt möglich ist. Es sind jetzt aber erstmal noch wochenlang Schneefälle angesagt. Der Winter ist hartnäckig in diesem Jahr. Wir können gerne über ein brauchbares Versteck innerhalb des Hauses nachdenken, aber ich glaube, dass wir in aller Ruhe deine vollständige Heilung abwarten können."

Ich höre selbst die Bitterkeit in meiner Stimme.
"Hier riecht es inzwischen überall nach mir. Wenn sie erstmal vor der Tür stehen, habe ich keine Chance mehr. Und du auch nicht."
"Noch mal - du bist hier noch eine ganze Weile sicher. Wir kümmern uns gut um dich. Und dann sehen wir weiter. Ich bin immer für dich da!"

Mich fröstelt trotz der Wärme vom Kamin. Ich hätte mich nicht in Sicherheit wiegen dürfen. Alessandros würdevoller Umgang mit mir hat meine Wachsamkeit und mein Misstrauen eingeschläfert. Das war ein Fehler! Aber was ist jetzt für mich wichtiger? Unsichtbar, allein, missachtet durch die Welt zu irren, immer auf der Flucht? Oder hier zu bleiben und demnächst in Würde zu sterben?
Nein! Das kommt nicht in Frage, Alessandros Sicherheit geht vor!
Ich denke lieber nicht darüber nach, welchen Schluss ich daraus ziehen sollte.

ICH tut mir unendlich leid. Vielleicht hätte ich ihm das alles nicht zeigen sollen. Aber ich vermute, dass er mich inzwischen zu gut kennt. Ich hätte es nicht vor ihm verbergen können, und in dem Falle wäre Schweigen Verrat gewesen. Nun allerdings schleicht er wie ein Schatten seiner selbst durchs Haus, geht an kein Fenster, macht kein Licht mehr an, hält sich fast nur oben auf - und weint viel, wenn er glaubt, dass ich nicht hinsehe. Er darf sein Bein jetzt jeden Tag ein bisschen mehr belasten, macht in meinem Fitnesskeller Übungen zur Kräftigung, die ich ihm zeige.

Am nächsten Morgen holt er sich meinen großen, alten Atlas aus der Bibliothek. Und er hängt viel am Computer. Ich sehe ihn in Suchmaschinen, sehe Landkarten, Länderprofile auf Wikipedia. Tagelang geht das so. Eines Abends setze ich mich einfach neben ihn und schaue ihm zu. Für ein paar Minuten macht er etwas anderes, um mich abzulenken, aber ich habe Geduld. Und schließlich spreche ich ihn an.

"Suchst du dein Atlantis? Deine einsame Insel?"
ICH erschrickt. Erstarrt für einen Moment. Er nickt stumm. Sieht mich nicht an.
"Ich habe auch schon gesucht. Ich denke, im gesamten Asien, Afrika und Amerika wird es keinen Ort geben, den sie nicht kontrollieren. Also bleiben uns abgelegene Gegenden in Europa, Australien, Ozeanien. An den Polen werden wir nicht überleben können, in irgendeiner Wüste auch nicht. Aber bevor wir entscheiden können, wohin die Flucht führen soll und wie - sollten wir uns der Ausgangsfrage zuwenden. Wer bist du? Für dich?"
ICH zuckt mit den Schultern, macht sich klein, starrt auf die nervösen Hände in seinem Schoß. Schweigt.
"Das reicht mir nicht."

Ich drehe ihn vom Computer weg, sehe ihm in die traurigen Augen, nehme ihn in den Arm.
"Wie weit bist du mit der Suche nach dir selbst?"
Wieder Schulterzucken. Angehaltener Atem. Unterdrückte Tränen. ICH lässt sich gegen mich fallen.
"Hilf mir, Alessandro! Ich habe Angst!"
Ich halte ihn eine Weile fest, dann mache ich mich auf in mein Bücherzimmer. Ich drehe mich im Kreis, schaue die auf Papier festgehaltenen Weisheiten vieler Jahrhunderte an. Ich frage mich, was ihm jetzt weiterhelfen könnte. Mein Blick schweift auch über das Regal mit Kinderbüchern. Auf einem der Regalbretter sitzt ein kleines abgeliebtes Stofftier. Und da habe ich doch noch eine Idee. Ich greife mir ein bestimmtes Bilderbuch und gehe in meinen selten genutzten Hobbykeller. Ich ziehe ein paar Schubladen auf, nehme ein paar Stoffstücke, Wolle, Nadel und Faden. Damit gehe ich zurück zu ICH.

"Darf ich dir eine Geschichte erzählen?"
Er steht auf, zieht mich zum Sofa, kuschelt sich richtig an mich. Seine Ratlosigkeit und Hoffnungslosigkeit sind beinahe mit Händen zu greifen. Ich lege meinen Arm um ihn, schlage das Buch auf und fange an zu lesen. Staunend wie ein Kind folgt er dem kleinen Wesen mit den Wedelohren bei seiner Suche nach sich selbst. Anschließend weint er. Lange. Ganz still. Ich streiche über seinen Rücken und halte mit ihm aus, bis er sich in den Schlaf weint.

Erst drei Tage später wage ich es, ICH zu fragen, warum er so geweint hat. Seine Antwort ist vage.
"Ich habe verstanden, dass ich dieses kleine Ich-Bin-Ich bin. Ich muss nichts finden, ich muss nichts ändern - ich muss einfach sein und mich selbst freundlich anschauen. Ich war so erleichtert, darum habe ich geweint."
Aber es muss ihm gut getan haben, denn er setzt sich bald darauf hin und bastelt sich aus Stoff und Wolle sein eigenes Ich-Bin-Ich.

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19.4.2022

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