- Kapitel VII -

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Wie erwartet dauert es noch Wochen, bis die Kälte weicht und Tauwetter einsetzt. Ich gehe immer mal spazieren, aber immer nur dort, wo auch andere laufen. Ich möchte nicht, dass meine Spur irgendwo alleine zu finden ist. Dabei komme ich der Bauminsel von ICH manchmal ziemlich nahe. Hier verlassen keine Spuren den Weg, die Feinde sind also wohl noch nicht wieder hergekommen. ICH hat jedes mal große Angst, wenn ich losziehe, aber ich selbst möchte auch kein Risiko eingehen und bleibe darum nie lange weg.
Und dann kommt endlich der Frühling. Die Nächte sind noch kalt, aber im Garten gibt es jede Menge zu tun, ICH trainiert täglich in meinem Fitnesskeller, rennt Treppen, stemmt Gewichte und kocht nun für uns beide, damit er was zu tun hat.

Ich helfe ihm bei der Suche nach einem Zufluchtsort, wo er respektiert werden könnte. Wir denken gemeinsam nach über abgelegene Orte, fremde Sprachen, sinnvolle Beschäftigung im Freien.
Allerdings suche ich auch ohne ihn. Nach ausgeschriebenen Arztstellen im Norden Europas. Schottland oder Schweden sind mir nicht sicher genug. Also suche ich noch weiter nördlich.
Welches Land im Norden ist unwichtig genug, um von den Chinesen ignoriert zu werden? Island? Und was gibt es da noch?

Um mir einen Überblick zu verschaffen, greife ich nach dem alten Atlas, der immer noch neben dem Computer liegt. Schottland, die Orkneys, die Färöer, Island, Spitzbergen, Norwegen. Dort ist es lange nicht mehr so kalt wie vor hundert Jahren, an den langen dunklen Wintern hat sich allerdings nichts geändert. Aber grade das könnte uns helfen. Neugierige vertreiben. Also google ich auch nach Reisemöglichkeiten.
Dabei fällt mir etwas Seltsames auf. Auf allen modernen Karten ist zwischen Grönland, Schottland und Norwegen nur blankes Meer. Keine der nördlichen Inselgruppen ist hier zu finden. Im alten Atlas ist alles da. Im Internet ist alles weg. Einfach weg. Ich bin verblüfft.
Sind diese Staaten beim Anstieg des Meeresspiegels untergegangen? Das glaube ich nicht! Sogar die Niederlande konnten zum größten Teil gerettet werden. Und Island hat richtig hohe Berge, die saufen doch nicht einfach ab!

Tagelang streife ich ruhelos auf der Suche nach einer Antwort durchs Haus.
Es können doch nicht ganze Länder einfach verschwinden! Diese Inseln sind schon so lange von Menschen bewohnt. Und doch finde ich keine Karten, keine Geschichte, Politik, Wirtschaft, keine Statistiken. Nichts. Keine Artikel über Naturkatastrophen, Umbrüche - irgendwas! Nichts erinnert mehr daran, dass dort Inseln waren, auf denen Menschen gelebt haben.
Es dauert ein paar Tage, bis ich begreife, welche Chance darin liegt.

Ich versuche, nicht mehr zu verstecken, wonach ich im Internet suche. Alessandro ist nicht doof. Nach all dem, was in diesen Wintermonaten passiert ist, worüber wir alles geredet, womit wir immer wieder gehadert haben, was wir alles totgeschwiegen haben, ist ihm sicher klar, dass ich versuche, meine Gedanken in die Zukunft zu lenken und einen Ausweg für mich zu finden.
Da ich aber noch nichts von der Welt gesehen habe, fällt es mir schwer zu beurteilen, wo so ein geeignetes Land sein könnte. Ich mache mir einige Notizen. Und lande dann doch bei der simplen Lösung, dass ich versuchen sollte, mich hier im kanadischen Outback zu verbergen. Vielleicht finde ich eine abgelegene Farm, wo ich als Erntehelfer arbeiten und ganz vielleicht sogar bleiben kann.
Wenn es den einen so wunderbaren Alessandro gibt - warum zum Kuckuck sollte es dann nicht noch einen geben? Irgendwo? Wo ich sicher wäre? Ganz weit ab vom Schuss?

Sich in den Weiten des Internets auf die Suche nach dem Nichts zu begeben, könnte extrem gefährlich sein. Aber ich muss es einfach versuchen. Wenn diese Inseln noch existieren - wovon ich fest ausgehe -, dann MÜSSEN sie irgendwo Spuren hinterlassen haben. Ich versuche, mich zu erinnern. Begebe mich in der Bibliothek mal wieder in die verbotene Abteilung. Und entdecke schließlich in einem Geschichtsbuch über das 20. Jahrhundert die ersten Hinweise, dass ich mir diese Länder nicht einbilde. Die Beendigung des kalten Krieges zwischen Ost und West in den 90ern wurde von Ronald Reagan und Michael Gorbatschow in der Hauptstadt Islands besiegelt. Im nächsten Buch dann lese ich in einem Essay über die Handelswege der Vikinger im zehnten bis zwölften Jahrhundert genaueres: Hier tauchen all diese Inseln auf, werden nach und nach entdeckt und besiedelt.

Die Frage ist nur: warum sind diese Orte aus dem Gedächtnis der Menschheit verschwunden? Wer könnte daran ein Interesse gehabt haben? Und wie komme ich jetzt doch an aktuelle Informationen?
Ich suche nach Geschichtsbüchern aus dem 21. Jahrhundert, die Ausbeute ist allerdings mager und nichtssagend.
Und dann fällt mir die Lösung ein.
Omas Tagebücher. Wo hab ich die denn verstaut?

Auf dem Dachboden werde ich schließlich fündig. Fein säuberlich nach Jahrgängen geordnet hat Oma die großen Umwälzungen in der Mitte des 21. Jahrhunderts dokumentiert. Staaten, die Widerstand geleistet haben. Staaten, die keine irgendwie strategisch wichtige Lage haben. Staaten, die politisch, wirtschaftlich, geologisch, kulturell vollkommen unwichtig schienen. Sie wurden aus internationalen Organisationen und Handelsabkommen ausgeschlossen. Sie wurden vom technischen Fortschritt abgekoppelt. Die Reisemöglichkeiten wurden eingeschränkt. Und siehe da - diese kleinen Inselstaaten am nördlichen Rand der Welt fielen auch in diese Kategorie und wurden systematisch ins Nichts gedrängt.

Dort hätten wir tatsächlich Ruhe vor Verfolgung und Unterdrückung! Nur - wie sollen wir Kontakt aufnehmen? Wie reisen in ein Land, das es nicht gibt? Nordeuropa ist am buchstäblich anderen Ende der Welt. Wie kann man da hinkommen, ohne in diversen Flughafenkontrollen aufzufliegen?
Da muss ich erstmal eine Weile drüber nachdenken, denn zwischen uns in Südostkanada und diesen nördlichen Inseln liegt eine Reise über Ozeane, Gebirge, Kontinente. Und vorbei an jede Menge Menschen.
Dann bleibt für die diversen Gewässer wohl nur das Schiff. Da gibt es natürlich auch Kontrollen, aber irgendwie muss das doch zu machen sein!

Wieder grübele ich ein paar Tage vor mich hin. Es ist extrem riskant, aber nach und nach taste ich mich doch in die Grauzonen des Internets vor. In mühsamer Puzzlearbeit finde ich die Schlupflöcher von der neuen Welt hinüber in die vergessenen Staaten der Vergangenheit. Und zwar mit Hilfe des alten PC's meiner Oma. Hier finde ich Adressen aus diesen Ländern, die mit der alten Technik noch erreichbar sind. Hier finde ich ein solidarisches Netzwerk dieser Inselstaaten, die einander beistehen in ihrem einsamen Überlebenskampf als Selbstversorger. Ich spüre ihren Freiheitswillen, bewundere ihr Durchhaltevermögen und ihren Kämpfergeist. Hier erfahre ich sehr viel über den jetzigen Alltag dort.

Die Schnittstelle zwischen der neuen und der alten Welt scheint eine Untergrundorganisation auf Grönland zu sein. Witzigerweise gibt es Grönland wohl noch auf den neuen Karten, aber amputiert. Der schon seit Jahrhunderten besiedelte Westen ist als lange, schmale Insel in Nordsüdrichtung eingezeichnet - mit einer Hauptstadt, einem Flughafen und einer hohen Gebirgskette am Ostrand. Der größte Teil der tatsächlichen Fläche der Insel ist unterschlagen, wird einfach nicht mit dargestellt. Die entsprechende Fläche des Meeres ist als verbotene Zone verzeichnet. Kein Wunder, sonst würde jemand entdecken, dass da viel mehr Land ist ... Bei genauerem Hinsehen entdecke ich noch mehr militärische Sperrzonen im Nordmeer - da, wo de facto die kleineren Inseln sind.
Alles klar.

Nur bei Oma finde ich Berichte davon, wie das Inlandpackeis durch den Klimawandel fast völlig weggeschmolzen ist und den dramatischen Anstieg des Meeresspiegels verursacht hat. Das war eine Katastrophe. Aber niemand scheint zunächst weiter gedacht zu haben. Nämlich dass dadurch große Flächen neu besiedelbaren Landes freigelegt wurden. Diese Untergrundorganisation scheint sich das zu Nutze gemacht und die Ostküste hinter den endlosen Einöden in Besitz genommen zu haben. Immer detailierter wird mein Bild von den Entwicklungen und Möglichkeiten. Dort finde ich die meisten Informationen über die vergessenen Länder.
Ach! Hervorragend - in den Städten und Dörfern der Färöer-Inseln werden Ärzte und anderes medizinisches Personal knapp, weil es keine vernünftigen Möglichkeiten mehr gibt, Medizin zu studieren.
Jetzt muss ich nur noch einen direkten Weg zur Kontaktaufnahme finden ... Und diesen Menschen glaubhaft versichern können, dass ich kein chinesischer Spitzel sondern tatsächlich aus ethischen Gründen auf der Flucht bin.

Nach einer Weile finde ich auf dem altmodischen Gerät Hinweise über feine und feinste Eingriffe in meine Aktivitäten. Meine Suche ist also nicht unentdeckt geblieben. Fragt sich nur, von wem. Von den Grönländern oder ... Augen zu und durch. Ich konzentriere mich darauf, einen Kontakt herzustellen und eine Vertrauensbasis aufzubauen.
Hm. ... Mist. Das asiatische Aussehen von ICH könnte zu einem Hindernis werden. Egal. Ich muss es versuchen. Und dann sorgfältig einen heimlichen Umzug ins Nichts vorbereiten und durchziehen. Ich sollte loslegen, die Zeit rennt uns davon.

In der ganzen Zeit, die ich nun hier bei Alessandro lebe, habe ich ihn noch nie so unruhig, grüblerisch und in sich gekehrt erlebt. In jeder freien Minute steckt seine Nase in einem alten Buch oder seine gesamte Aufmerksamkeit in einem sehr alten Computer, den er neulich plötzlich aufgebaut hat. Was auch immer ihn umtreibt - ich kriege nichts aus ihm raus, und das bestärkt mich noch darin, dass meine Tage hier gezählt sind. Ich muss fort, je eher desto besser. Sonst bekomme ich den Absprung gar nicht mehr.

Nach anfänglich großem Misstrauen kann ich endlich einen stabilen Kontakt nach Grönland herstellen, um Vertrauen werben, uns beide vorstellen, die Gründe für unser Umsiedeln darlegen und schließlich in kleinen Schrittchen unseren Umzug vorbereiten. Ich fühle mich zum ersten Mal seit Monaten ehrlich erleichtert, habe wieder Hoffnung, dass es für ICH und mich eine echte Alternative gibt.

Wir bekommen heimlichen Besuch. Ich weiß nicht, ob die Widerständler wollen, dass ich das sofort kapiere, aber ich bin inzwischen sehr hellhörig geworden. Ein Mann kommt als Patient in die Praxis, dreimal. Fühlt mir subtil auf den Zahn, verwickelt mich in interessante Gespräche, bringt mich dazu, ihm in der Mittagspause meine Rosen zu zeigen. Spätestens da kapiere ich, wen ich vor mir habe, und spiele bereitwillig mit, denn ich will ja den Test bestehen. Ich muss allerdings damit rechnen, dass ICH uns heimlich beobachtet. Ich will aber nicht, dass er das auch schon kapiert. Ändern könnte ich es allerdings nicht.
Schnell stellt sich heraus: ich hatte recht. Vor seiner Abreise outet sich der fremde Patient als mein direkter Kontakt und Helfer für unseren Umzug, und erklärt mir in kleinsten Details, wie das alles unbemerkt und erfolgreich vonstatten gehen kann.

Bleibt das Problem, dass wir für ICH keinen Pass haben. Und auch nicht kriegen werden.
Und wenn ich ihm vorschlage, dass ich ihn in einem großen Koffer transportiere? ...
Das will ich ihm eigentlich nicht antun. Etwas anderes fällt mir aber nicht ein. Bis unser Kontaktmann mir einen Pass für ihn zusendet. Mit einem retuschierten Bild aus dem Katalog. Damit ist auch klar, dass die vergessenen Länder schon lange von diesem Labor wissen. Vielleicht ist ICH nicht einmal der erste seiner Art, der dorthin flieht.
Mit dem Pass kommen Reiseunterlagen für uns beide, Fährverbindungen, Verhaltensmaßnahmen, Anlaufstellen entlang der Route für Notfälle, Erklärungen, was und wieviel Gepäck wir wo hinschicken dürfen, damit es uns am Zielort erreicht.

Eine Woche später bekomme ich das Okay direkt von den Färöer-Inseln und drei freie Arztstellen zur Auswahl angeboten. Ich entscheide mich für eine Hausarztstelle in einer Kleinstadt auf der nördlichsten Färöer-Insel, weil dort die Unterversorgung wohl am gravierendsten ist. Sie senden mir eine Liste, was an medizinischem Verbrauchsmaterial und Handwerkszeug ich möglichst besorgen und mitbringen soll. Ich kriege die Zugangsdaten zu einem Onlinesprachkurs. Und sie bieten mir für ICH eine Ausbildung zum medizinischen Fachangestellten und Krankenpfleger an. Da bitte ich allerdings um Geduld.
Eine Liste mit allgemeinen Gütern, die in der vergessenen Welt nur schwer zu bekommen oder herzustellen sind, erreicht mich. Es folgt die Bitte, Lehrbücher für medizinische und pflegerische Berufe mitzubringen und neben der Praxis auch an der Ausbildung jüngerer Kräfte mitzuwirken.

Die Kommunikation läuft nun offener und direkter. Ich bekomme Hilfe beim Vertuschen unseres Verschwindens und umfangreiche Informationen darüber, was uns am Ziel erwarten wird.
Ich werde gebeten, bis zur Abreise als Lieferant aktueller Informationen zu fungieren. Ich spüre Erleichterung, viel Hoffnung, wenig Trauer. Das neue Leben nimmt Formen an, es verliert den Geruch von "Flucht", erzeugt das Gefühl, mich einer neuen, guten Aufgabe stellen zu dürfen.

Dann bekomme ich plötzlich nicht so schönen Besuch. Ein Techniker taucht bei mir auf, wirkt gehetzt und nervös. Es gibt Unstimmigkeiten in unseren Kontakten. Er befasst sich mit Omas Computer und tüftelt einen ganzen Tag lang, bis er schließlich erleichtert vermelden kann, dass die Verbindung wieder sicher zu sein scheint. Er hat tausend Server, Nummern, IP-Adressen und noch mehr unverständliches Zeug aktualisiert, von dem ich nichts verstehe. Er meinte, nun könnten wir wieder beruhigt schlafen.

Ich komme etwas zur Ruhe und registriere, dass ich eine Entscheidung über meinen nicht beweglichen Besitz hier fällen muss. Nach kurzem Nachdenken fühle ich, dass ich innerlich schon losgelassen habe. Es fällt mir nicht schwer. Meiner jungen Kollegin werde ich die Praxis, das Haus und den Garten überschreiben. Sie weiß noch nichts von ihrem Glück. Mein Anwalt, der selbst auch nicht weiß, wohin ich gehen werde, hat alle nötigen Unterlagen mit mir vorbereitet und wird sie bei der Übernahme rechtlich begleiten. Ich habe ihn auch bereits bezahlt, damit alles glatt läuft. Sie hat mir einmal gesagt, dass sie mich vor allem abends nach einem langen, wuseligen Tag um Haus und Garten sehr beneidet. Sie hätte auch gerne solch einen Ort der Ruhe. Den wird sie nun bald haben.

ICH ist inzwischen vollkommen gesund, Handgelenk und Schienbein sind voll belastbar. Er ist körperlich gut erholt und fit. Er ist ein angenehmer Unterhalter, freundlich, höflich, humorvoll. Aber er kann mich nicht täuschen. Das ist sein "Schelling"-ICH, was er mir da präsentiert. Wir gehen nicht mehr in die Tiefe, reden nicht mehr über die Zukunft oder Philosophie oder Freiheit. Ich vermute, dass er bald gehen will und sich nun innerlich schon verabschiedet. Und das tut weh.

Ich begreife allerdings, dass ich ja genauso viel Pokerface aufsetze, ihm noch nichts von meinen Plänen und Möglichkeiten berichtet habe. Ich fange an zu überlegen, wann und wie ich ihm davon erzählen will. Gleichzeitig rumoren in mir Fragen, die ziemlich weh tun.
Will er sich wirklich allein durchschlagen? Warum? Will er mich schonen? Und ... was hindert mich eigentlich daran, mit offenen Karten zu spielen?
Bevor ich für diese Fragen nach ehrlichen Antworten suchen kann, bin ich schon wieder tief versunken im Organisatorischen. Ich muss mich beeilen mit meinen Vorbereitungen zur Umsiedelung, damit ICH mir nicht zu früh und heimlich davonläuft. Denn dann werde sicher nicht einmal ich ihn finden können. Er würde mir aber tatsächlich sehr fehlen.
Ich sollte endlich über meinen Schatten springen und mit ihm reden!

Endlich treffe ich eine Entscheidung. Alaska. Mein Ziel ist der Westen von Alaska. Ich habe noch keine Ahnung, wie ich dort hingelangen soll, aber ich werde einen Weg finden. Wahrscheinlich wird es darauf hinauslaufen, dass ich per Bahn als blinder Passagier reise. Einiges laufe. Immer nur weg von der Zivilisation.
Und es scheint wie ein Wunder. Am nächsten Morgen wache ich auf und fühle mich wie ein ICH. Ein Mensch mit Persönlichkeit, Fähigkeiten, Möglichkeiten und einem Ziel. Diese Erkenntnis trifft mich nicht wie ein Schlag. Sie schleicht sich in mein Bewusstsein und fühlt sich warm an. Richtig. Vollständig. Normal. ICH.

Meine Zeit hier wird bald zu Ende sein. Mit unendlicher Dankbarkeit schaue ich zurück auf diese Monate. Es reißt mich schier in Stücke, von Alessandro, seinem gemütlichen Haus, seinen Büchern, seinem Garten, seiner Stimme, seiner Ruhe und Geborgenheit Abschied nehmen zu müssen. Noch ist es ein innerer Abschied. Aber demnächst werde ich gehen. Ich weiß nicht, ob ich überleben werde. Ich weiß nicht, ob ich einen sicheren Ort der Ruhe finden werde. Aber ich weiß, dass ich nicht will, dass Alessandro mein wie auch immer geartetes Ende miterleben oder gar teilen muss.

Er hat mich gesund gepflegt, er hat mich stark gemacht, er hat mit mir die Ungewissheit und Angst ausgehalten. Er hat mir die Welt gezeigt, wie sie ist - und wie sie sein könnte.
Er hat mich auf die Entdeckungsreise nach mir selbst geschickt. Und ich habe mich gefunden. Ich weiß jetzt, wer ich bin. Weiß viel besser, was ich kann, was und wie ich leben möchte. Ich beginne zaghaft, mich selbst zu mögen, mir selbst Mut zuzusprechen, mir zu verzeihen, was daneben geht. Bald kommt der Tag, um zu gehen.
Meine Suchen am Computer und in der Bibliothek gehen jetzt in eine völlig andere Richtung. Ich suche nach einem Namen, der ausdrückt, was ich fühle. Der schön klingt. Und nicht zu exotisch ist. Ich möchte jetzt tatsächlich einen Namen haben.

Alessandro ist inzwischen wieder ruhiger und ausgeglichener geworden, aber immerzu sehr beschäftigt. Manchmal "ertappe" ich ihn dabei, dass er aufzuräumen scheint. Das hat er im Winter nicht getan. Es ist fast wie Ausmisten. Das wird sicher daran liegen, dass er innerlich so viel umdenkt und "ausmistet".

Er redet zur Zeit viel von dem Fest "Ostern", das wohl bald gefeiert wird. So lange werde ich noch bleiben. Wie vor Weihnachten lässt er mich an allem teilhaben. Der Opfertod Jesu erinnert mich daran, was Alessandro inzwischen alles für mich geopfert und riskiert hat.
Ist es undankbar, wenn ich ohne Abschied verschwinde? Ich will ihn doch nur schützen! Und er soll auf keinen Fall nach mir suchen.

Einige Tage nach Ostern beginne ich, Alessandro einen Brief zu schreiben. Ich erzähle ihm, was meine Zeit bei ihm mir bedeutet. Und dass ich nach sorgfältiger Suche in alten Büchern nun auch einen Namen für mich gefunden habe, den ich angenehm, wohlklingend und passend finde.

Der letzte Abend wird zur Qual. Es kostet mich alle Selbstbeherrschung, mir nichts anmerken zu lassen. Es reißt mich schier in Stücke, ihm einfach nur ganz lässig "gute Nacht" wünschen zu können. Statt mich ordentlich zu verabschieden.
Den Brief lege ich zu meinen Tagebüchern auf mein Bett. Ich habe mit dem Handy, das er mir geschenkt hat, nur wenige ganz wichtige Passagen daraus abfotografiert, alles andere lasse ich ihm hier. Ich entscheide, welche Kleidung zweckmäßig sein wird, stecke den Katalog ein, packe einen kleinen Vorrat an Kraftriegeln und mehrere Flaschen Wasser dazu und warte, angezogen auf meinem Bett sitzend, auf die Dunkelheit.

Alessandro ist schon im Bett. Am Schimmer seiner Nachttischlampe unter der Tür kann ich jedoch erkennen, dass er noch wach ist. Nachdem er sein Licht gelöscht hat, harre ich noch eine Stunde aus, dann breche ich auf. Ich trage meine Schuhe in der Hand, kenne jede Stufe, jedes Knarzen und komme darum lautlos die Treppe runter.
Ich will durch den Garten gehen, wie ich gekommen bin. Nur dass ich jetzt gesund, innerlich und äußerlich gestärkt und gut ausgerüstet bin. Einen Moment lang halte ich inne an der Terassentür der Bibliothek und blicke zurück in das einzige echte Zuhause, das ich je hatte. Ich habe lange überlegt, ob ich Alessandro fragen soll, ob er mit mir kommt. Alessandro Mondo, der Beschützer der Welt. Jedenfalls meiner Welt. Aber ich habe es nicht gewagt. Ich kann ihn nicht einfach von seinem Leben und seiner Heimat trennen. Hier hat er Arbeit, hier hat er seine Insel der Ruhe, hier hat er sein Zuhause. Ich schaue in den mondbeschienenen Garten, in dem es jetzt überall grünt und blüht, und vermisse Alessandro jetzt schon.

Sehr leise öffne ich die Terassentür und schleiche mich hinaus. Immer weiter nach hinten, im Schatten der großen Bäume. Meine Schuhe machen kein Geräusch im frischen Gras. Dann stehe ich unter der alten Eiche an der Hecke.
Leb wohl, Alessandro. Du bist mein Retter. Und meine Hoffnung, dass es irgendwo auf der Erde einen Ort mit Menschen wie dich geben wird, an dem ich einfach ICH sein darf.

"Soll ich dir raufhelfen, oder schaffst du es alleine?"
Ich erschrecke fast zu Tode, als ich Alessandros leise Stimme hinter mir wahrnehme. Ich habe ihn nicht kommen hören. Und ich weiß nun endgültig nicht mehr, wie ich es fertig bringen soll zu gehen.
"Oder gibst du mir noch ein paar wenige Wochen Zeit, meine Angelegenheiten fertig zu regeln und zu packen?"
Ich wirbele herum.
"Packen? ... Was willst du packen?"
"All das, was ich brauchen werde, wenn ich mit dir auf den Färöer Inseln leben und dort eine Arztpraxis übernehmen werde. Die Vorbereitungen sind fast abgeschlossen, es gibt Papiere für uns beide, eine sichere Reiseroute ist geplant und organisiert. Soweit man das planen kann. Falls du ... mitkommen willst ..."
Es ist sehr still in dem dunklen Garten unter dem alten Baum. Im Mondlicht sehe ich, mit wie viel Unsicherheit im Blick er mich anschaut. Ich starre zurück und versuche zu begreifen, was er grade gesagt hat.
Packen. Färöer Inseln. Arztpraxis. Heißt: ein Zuhause, einen Lebensunterhalt. Für uns beide. ... Kein Abschied.

Mit Tränen der Freude gehe ich auf ihn zu, nehme ihn in den Arm und drücke ihn fest. Wir laufen Seite an Seite zurück ins Haus.
"Entschuldige, dass ich dir davon nicht eher erzählt habe. Ehrlich gesagt weiß ich selbst nicht, warum. Gut, dass ich gemerkt habe, dass du auf dem Absprung warst."
Ich lächele und nehme ihm das nicht übel.
"Das ist gut so. Ich hab mich ja auch nicht getraut zu fragen."
"Was wolltest du denn fragen?"
"Ob du mitkommst."

In den folgenden Tagen sehe ich von ihm noch weniger. Er telefoniert, besucht einen Anwalt, verschickt Briefe, ordnet Dokumente. Alessandro packt große Frachtkisten, die abgeholt werden. Er kauft ein paar Dinge - für sich und für mich - und bezieht mich nun in manche Entscheidungen mit ein.

Zwölf Nächte später stehen wir in der Garage am offenen Kofferraum seines Autos, um unser Reisegepäck zu verladen. Nun heißt es endgültig aufzubrechen, fortzugehen von unserer kleinen Welt. Wir steigen ein, ich lege mich unter Decken auf die Rückbank. Alessandro rangiert aus der Garage und lenkt das Auto auf die Straße, raus aus der Stadt.

Eine Weile ist es ganz still zwischen uns. Alessandro konzentriert sich auf die Route, die uns zu einer relativ kleinen Hafenstadt führt. Ich mache es mir auf der Rückbank bequem und sinne nach, lausche auf meine Gefühle. Da ist nichts als das pure Glück, diese Reise mit Alessandro gemeinsam antreten zu dürfen. Nichts als das Staunen, wie wichtig und wertvoll ich ihm zu sein scheine. Nichts als unbändige Vorfreude, wie es wohl werden wird, als ganz normaler Mensch unter Menschen zu leben, einen Beruf zu lernen und auszuüben. Einfach sein zu dürfen, wer ich bin.

Als wir uns der Küste nähern, fängt Alessandro an zu sprechen. Er räuspert sich und schaut mich kurz durch den Rückspiegel an.
"Erinnerst du dich an meinen Vorschlag?"
"Welchen?"
"Wenn du weißt, wer du bist, dann darfst du gehen."
Ich lächele.
"Frag!"
"Bitte, sag mir deinen Namen."
"Ich heiße Vido. Von Vita, lateinisch für 'das Leben'. In dem Wort ist aber auch enthalten 'alles', 'vollständig'. Ich bin alles, was ich zum Leben brauche. Ich bin vollständig und gut so, wie ich nun mal geschaffen bin. Und ich will leben. In Freiheit, mit dem wertvollsten Menschen an meiner Seite, den ich kenne. Nenn mich Vido, mein Freund."
"Dann lass uns neu beginnen, Vido."

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22.4.2022

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