9 - Der perfekte Weihnachtsbaum

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Am nächsten Morgen werde ich weder von kitzelnden Sonnenstrahlen noch von frischen Spiegeleiern geweckt. Stattdessen schleckt mir etwas Feuchtes, Haariges einmal quer durchs Gesicht.

„Igitt!", grummele ich angeekelt, während ich langsam meine Augen öffne.

Ein paar Sekunden muss ich gegen die grellen Sonnenstrahlen anblinzeln, bis ich mich an die Helligkeit gewöhnt habe und geradewegs in das leidende Gesicht von Otto schaue. „Endlich bist du wach!", seufzt er erleichtert. „Ich dachte schon, du wärst ins Glühwein-Koma gefallen."

Lustig, dass ausgerechnet er das sagt.

Müde reibe ich mir über die Lider und setze mich vorsichtig auf. Entgegen meinen Erwartungen befinde ich mich nicht in meinem Bett, sondern auf dem Sofa. Anhand der Wärme, die auf mich abstrahlt, weiß ich, dass Sam unmittelbar neben mir liegt.

Oh man, haben wir etwa eine Pyjama-Party gemacht oder warum haben wir im Wohnzimmer geschlafen?

Ich krame in meinen Erinnerungen und sehe aufgedrehte Rentiere vor meinem inneren Auge herumhüpfen. Echt krass, dass sie nicht mal eine halbe Tasse Glühwein vertragen haben!

„Guten Morgen, Otto", erwidere ich schließlich seine Begrüßung. „Wie hast du geschlafen?"

Das Rentier schaut mich vernichtend an, so als wolle er mich am liebsten mit seinem Blick aufspießen.

Upps, scheinbar war das die falsche Frage.

Sam und ich waren gestern noch ziemlich lange wach, um auf die betrunkenen Rentiere aufzupassen. Zum Glück haben sie nichts kaputtgemacht, sondern waren einfach nur ausgelassen und übermütig und hatten Spaß.

Während Rudolph, Bernd und Otto gegen Mitternacht vor lauter Erschöpfung im Stehen eingeschlafen sind, haben uns Alfred und Cornelius noch bis halb drei auf Trab gehalten.

Wie und wann sie letztendlich eingeschlafen sind? Keine Ahnung, denn ich scheine den Kampf gegen die Müdigkeit vor ihnen verloren zu haben.

Automatisch wandert mein Blick zu Sam hinüber. Obwohl er friedlich schläft, erkenne ich dunkle Schatten unter seinen Lidern.

Oh je, wer weiß, wie lange er letzte Nacht noch die Stellung halten musste ...

„Shay?" Otto klingt ungeduldig und genervt. Er spricht erst weiter, als sich unsere Augen miteinander verhaken. „Hast du zufällig irgendein Wundermittel gegen Kopfschmerzen? Ich glaube, mein Schädel explodiert gleich!"

Auch wenn es gemein ist, zupft ein Schmunzeln an meinen Mundwinkeln.

Ein Rentier mit Kater? Noch absurder wird es heute wahrscheinlich nicht mehr werden!

„Wie heißt das Zauberwort, Otto?", ärgere ich das Rentier. Währenddessen schäle ich mich vorsichtig aus der Kuscheldecke, bedacht darauf, Sam nicht zu wecken.

„Bitte?!" Mit jeder Sekunde, die verstreicht, sieht Otto gequälter aus.

„Falsch!", grinse ich schadenfroh. „Es heißt: Kannst du mir bitte ein Wundermittel gegen Kopfschmerzen geben, allerliebste und allerschönste und allertollste Shay?"

Ich kann genau beobachten, wie Ottos Schädel raucht. Wahrscheinlich steht er wirklich kurz vor einer Explosion.

„Bitte, allertollste und allerbeste und allertollste Shay!", fleht Otto verzweifelt.

Kurz überlege ich, ihn noch länger auf die Folter zu spannen, immerhin hat er das Zauberwort nicht richtig gesagt, doch am Ende sind es mein Mitleid und mein schlechtes Gewissen, die überwiegen.

Mit Otto im Schlepptau betrete ich die Küche. Zu meiner großen Überraschung hocken die restlichen vier Rentiere allesamt am Tisch und haben ihren Kopf auf der kühlen Platte gebettet.

Aha, ein Kater kommt selten allein, stimmts?!

„Guten Morgen, Jungs!", trällere ich gutgelaunt, woraufhin genervtes Schnauben ertönt. „Na? Glühwein zum Frühstück?"

Fünf vernichtende Augenpaare richten sich wie giftige Pfeilspitzen auf mich.

„Okay, okay", lache ich und hebe abwehrend die Hände in die Luft, „dann halt nicht. War ja nur eine Frage."

Auch wenn der gestrige Abend sehr anstrengend war, hatte er zumindest eine positive Sache an sich: Die Rentiere werden jetzt erstmal für die nächsten zehn Jahre genug vom Alkohol haben.

Gern geschehen!

Nachdem ich die Jungs mit Aspirin versorgt habe, schicke ich sie in mein Schlafzimmer, damit sie sich ausruhen und ihren Kater ausschlafen können. Tatsächlich gibt es keine Widerreden und Proteste, was eindeutig ein Indiz dafür ist, dass etwas nicht stimmt. Wie kleine Kinder quetschen sich die Rentiere in mein Bett und kuscheln sich aneinander.

Bei dem Anblick der fünf Fellnasen wird mein Herz ganz warm. Natürlich tut es mir leid, dass sie Kopfschmerzen haben, aber das ändert nichts an der Tatsache, dass sie verdammt niedlich aussehen.

„Schlaft schön und erholt euch gut!" Ich werfe ihnen ein letztes aufmunterndes Lächeln zu, ehe ich leise die Tür schließe und danach zurück ins Wohnzimmer gehe.

Sam ist mittlerweile wach und schaut mich neugierig aus seinen dunklen Teddyaugen an. Seine Mundwinkel zucken, als er mich fragt: „Na? Hast du gerade fleißig Rentiersitterin gespielt?"

Ich grinse. „Das war ich dir und den Jungs ja schuldig."

Überrascht hebt Sam seine Augenbrauen. „Warum denkst du das?", möchte er von mir wissen.

„Na ja", murmele ich verlegen, „hätte ich den Jungs keinen Glühwein gegeben, würden sie jetzt keinen Kater haben."

„Ach was!" Sam macht eine wegwerfende Handbewegung. „Sie wissen einfach genau, wie man hübsche Ladys um den Finger wickelt. Es ist ja nichts passiert, also mach dir keinen Kopf, Shay!"

Obwohl es nicht so einfach ist, meine Schuldgefühle auszuschalten, nicke ich. ‚Alles ist gut. Die Rentiere leben noch', wiederhole ich gedanklich in meinem Kopf.

Mein Mantra wird erst unterbrochen, als Sam von mir wissen möchte: „Was hältst du davon, wenn wir dir jetzt einen Weihnachtsbaum kaufen? Irgendwie habe ich da gerade total Lust drauf. Außerdem würde er perfekt in die Ecke neben deine Vitrine passen."

Uh, Zweisamkeit mit Sam? Dazu sage ich nicht „Nein"!

Im Nullkommanichts bin ich umgezogen und ausgehbereit. Auch wenn es keine große Sache ist, einen Weihnachtsbaum zu kaufen, wird mein Körper von Nervosität und Endorphinen geflutet, denn endlich bin ich mal ganz allein mit Sam.

Gemeinsam verlassen wir das Haus. Draußen schneit es mal wieder und es ist eiskalt. Obwohl sich einzelne Sonnenstrahlen durch die Wolkendecke kämpfen, ist es ungemütlich, da mir der Wind alle zwei Sekunden Schneeflocken ins Gesicht pustet.

Blöderweise bin ich so sehr damit beschäftigt, mir die schwarzen Haarsträhnen hinter das Ohr zu streichen, dass ich nicht bemerke, wie sich uns eine Person in den Weg stellt. Erst als mich Sam vorsichtig am Handgelenk zurückhält, hebe ich den Kopf und schaue geradewegs in die giftgrünen Augen von Mrs. Miller.

Och nö. Die hat mir gerade noch gefehlt.

„Shaileen", säuselt sie übertrieben fröhlich meinen Namen, „wie schön, dich zu sehen. Hat euch der Brokkoli geschmeckt?"

Siedend heiße Blitze schießen mir in die Wangen und verwandeln meinen Körper in einen brodelnden Vulkan.

„Äh", stammele ich verlegen, weil ich noch keine Zeit hatte, Sam in meine Lüge von gestern Nachmittag einzuweihen, „es war sehr lecker. Danke!"

Ich kann Sams neugierigen Blick wie feine Nadelstiche auf mir spüren. Hoffentlich macht er jetzt nicht den Rentier-Move und lässt mich vor Mrs. Miller auflaufen.

Damit es gar nicht erst so weit kommen kann, lächele ich und sage dann schnell: „Wir müssen jetzt auch leider weiter. Bis die Tage, Mrs. Miller!" Ich winke ihr zu, schnappe mir Sams Hand und zerre ihn fast schon brutal hinter mir her.

Puh, das ist gerade nochmal so gutgegangen!

Wie Sam wohl reagieren würde, wenn er wüsste, dass ich ihn als meinen Freund ausgegeben habe?

Der Mann an meiner Seite scheint aber aktuell von ganz anderen Fragen gequält zu werden, denn er erkundigt sich interessiert bei mir: „Du hast dir also Brokkoli von deiner Nachbarin ausgeliehen?"

Ich nicke. Dann erkläre ich: „Um Cornelius' Höhenangst zu therapieren."

Sam sieht überrascht aus. Und auch ein bisschen beeindruckt. „Hat es geklappt?"

„Ich denke schon", antworte ich. „Er ist dreimal freiwillig von meinem Hausdach gesprungen."

„Wow", raunt Sam anerkennend. „Man merkt, dass du meinen Jungs guttust."

Das lasse ich einfach mal so stehen. Obwohl eher das Gegenteil der Fall ist, genieße ich es, Komplimente von Sam zu bekommen. Es ist schön, dass er mich mit anderen Augen sieht, als wie ich mich selbst wahrnehme.

Nach ungefähr fünf Minuten Fußmarsch durch den Schnee haben wir einen kleinen Stand an der Hauptstraße erreicht, an dem Weihnachtsbäume verkauft werden. Sam und ich schlängeln uns durch die Reihen und halten nach einem perfekten Baum Ausschau.

„Was hältst du von diesem hier?", erkundigt sich Sam bei mir.

„Ne!" Ich schüttele unzufrieden den Kopf. „Zu dick!"

Wir suchen weiter. Hier gibt es so eine riesige Auswahl, dass ich mich überhaupt nicht entscheiden kann. An jedem einzelnen Baum gibt es irgendeine Kleinigkeit, an der ich etwas auszusetzen habe.

Schlimm, ich weiß, aber mein innerer Monk will einfach nicht zufrieden sein.

„So, jetzt reicht es mir!", seufzt Sam nach einer Weile genervt. Er zieht ein rotes Tuch aus seiner Umhangtasche und wedelt damit in der Luft herum. „Ich werde dir jetzt die Augen verbinden und dich zwischen den ganzen Bäumen herführen. Du bleibst irgendwann stehen und zeigst auf einen Baum. Den nehmen wir dann mit. Einverstanden?"

Oh Gott. Das ist zwar eine kreative Idee, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich so viel Risiko eingehen möchte.

Nach kurzer Bedenkzeit gebe ich nach und lasse mir von Sam die Augen verbinden. Ein bisschen Spaß und Risiko gehören schließlich zum Leben dazu, nicht wahr?

Da das rote Tuch sehr lichtdurchlässig ist, muss ich zusätzlich meine Augen schließen. Sam platziert eine Hand auf meinem Rücken, die andere verwebt er mit meinen Fingern.

Ganz langsam und vorsichtig führt er mich zwischen den Reihen aus Weihnachtsbäumen her. Es riecht nach frischen Tannenzweigen und Kaminholz.

Ich genieße es, Sam so nahe zu sein und seine Berührungen auf meiner Haut zu spüren. Das ist auch der Grund, weshalb ich erst nach etwa zehn Minuten stehenbleibe und willkürlich in irgendeine Richtung zeige.

Sam nimmt mir das Tuch ab, sodass mein Blick auf einem kleinen Bäumchen mit dichtem Nadelkleid landet. Ich muss zugeben, dass der Baum süß aussieht und perfekt in mein Wohnzimmer passen würde.

„Und?", möchte Sam neugierig von mir wissen. „Was sagst du zu dem Baum?"

„Er ist perfekt!", schwärme ich. „Den nehmen wir!"

Ganz der Gentleman trägt Sam den Weihnachtsbaum zum Verkäufer und bezahlt ihn sogar. „Das wäre aber nicht nötig gewesen", murmele ich verlegen.

„Ich weiß", grinst mich Sam an. „Ich möchte dir den Baum aber schenken. Sozusagen als vorträgliches Weihnachtsgeschenk. Und als Dank dafür, dass wir bei dir wohnen dürfen."

Auf dem Rückweg zu meinem Haus wechseln wir kaum ein Wort. Der Wind pfeift so laut durch die Straßen, dass er selbst die Geräusche der vorbeirasenden Autos verschluckt. Außerdem scheint der Baum schwerer zu sein als gedacht, denn Schweißperlen tanzen über Sams Stirn und sein Gesichtsausdruck sieht höchst konzentriert aus.

„Soll ich dir beim Tragen helfen?", biete ich ihm meine Hilfe an.

„Nein, schon gut", winkt er direkt ab. Bestimmt irgendein Ego-Komplex, der es ihm nicht erlaubt, auf die Hilfe einer Frau zurückzugreifen. „Du kannst mir gleich beim Schmücken helfen."

Und so machen wir es dann auch.

Gemeinsam schleppen wir die vielen Weihnachtskisten aus dem Keller ins Wohnzimmer und sortieren erstmal hässliches und unbrauchbares Zeug aus. Danach beginnen wir damit, den Baum mit goldenen Glitzerkugeln, Holzsternen und Lichterketten zu schmücken.

Wie es das Schicksal so möchte, finden wir sogar eine riesige Rentierkugel, die eine leuchtendrote Nase hat.

„Oh man", schmunzelt Sam, während er die besagte Kugel ganz oben am Baum aufhängt, „die sieht ja aus wie unser erkälteter Rudolph!"

Ich lächele ebenfalls. Um ihm von dem Kinderfilm Rudolph mit der roten Nase zu erzählen, fehlt mir gerade allerdings die Motivation. Stattdessen frage ich Sam: „Lametta: Ja oder nein?"

Er überlegt kurz und betrachtet intensiv den Weihnachtsbaum, ehe er überzeugt behauptet: „Definitiv ja!"

Na gut, dann vertrauen wir mal Santa ...

Ich krame die goldenen Streifen aus der Kiste und schmücke anschließend den Baum damit. Auch wenn ich persönlich Lametta sehr kitschig finde, passt es hervorragend zum Gesamtbild.

Ich bin schon gespannt, was die Rentiere zu dem Weihnachtsbaum sagen werden, wenn sie ihren Rausch ausgeschlafen haben. Entweder sie lieben ihn oder sie benutzen ihn als Toilette.

„Jetzt haben wir uns aber eine Belohnung verdient!", lächele ich Sam zufrieden an, nachdem wir wieder alle Kisten im Keller verstaut – und die ein oder andere Spinne verscheucht – haben.

Neugierig funkelt mich Sam aus seinen braunen Teddyaugen an. „Und woran hast du als Belohnung gedacht?"

Zu gerne würde ich ihm einen Kuss auf die Wange hauchen, doch die Angst vor Zurückweisung hält mich davon ab. Alternativ wackele ich mit den Augenbrauen und trällere: „Glühwein!"

„Glühwein?!" Es ist nicht Sams Stimme, die völlig entsetzt die Luft erfüllt, sondern Bernds. Verschlafen steht er hinter uns im Türrahmen und schaut uns entgeistert an. „Bleibt mir bloß fern mit diesem Kopfschmerz-Zeug!"

Sam und ich werfen uns einen Blick zu und müssen lachen.

„Weißt du was, Shay?" Sams Grinsen wird breiter und auch ein bisschen teuflisch. „Glühwein klingt perfekt!"

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