18. Vorbote des Wandels

Màu nền
Font chữ
Font size
Chiều cao dòng

Saoirse bog ihr die Nase bei sich im Haus zurecht, während ihr Bruder unter der Decke lag und schlief. Endlich hatte er wieder Farbe.

»Jetzt schön ruhig sitzen bleiben.«

Sera krallte ihre Fingernägel in die Unterseite des Stuhls, biss die Zähne zusammen und erwartete den Schmerz mit geschlossenen Lidern. Eine warme Hand griff ihre Nase, die andere grub sich in ihre Haare im Nacken.

Dann knackte es laut und innig. Knorpel rieben auf Knorpel und Sera schmeckte das Eisen im Mund.

Im nächsten Augenblick betupfte ein nasser Lappen ihr Gesicht.

»Die Sonne im Haar, den Himmel im Aug: Ein Aureum fürwahr, hm? Wir sind fertig. Iss, schlaf ein bisschen und ich gucke, dass ich dir neue Kleidung zusammenbastle.« Zwei Hände bugsierten sie aufs Bett neben Lucien und stellten ihr eine warme, duftende Schale hin.

Was war dieses Gefühl, als Saoirse sich zu ihnen setzte und ihr über den Rücken strich? Was waren das für Worte, die nur die Druidin kannte?

Warum kam ihr das so bekannt vor?

Schlanke Finger strichen ihr durchs Haar. Warme, weiche Worte wehten im Abendwind. Eine Schulter für sie, die andere für Lucius mit seinen klaren Augen und seinem kleinen Pferdeschwanz. Ihr Spiegelbild und sie sahen hinauf und bestaunten das Funkeln der Sternbilder.

Der Silbermond damals leuchtete voll Liebe.

~✧~

Erst am späten Vormittag des übernächsten Tages verließ sie Saoirses Haus wieder – brachte mit ihr zusammen ihren Bruder zum Hospital, damit die Druidin wieder mehr als zwei Personen gleichzeitig helfen konnte. Sera zog es anschließend über die Savage zu Tjelvar, Bastien und dem benebelten Alistair, den Schaden dort zu begutachten. Wenigstens schien es, als hätte Stojan nicht noch mehr Gabenschlaf für Alistair oder gar Sera in den mervaillschen Vorräten gefunden.

Im Licht der Sonne blendeten die Ärmel ihrer grasgrünen, mit einer Wachsschicht überzogenen Jacke. Dieselbe, die auch ihre zimtfarbenen Hosen und die pastellgelbe Bluse umgab, die die Druidin auf Seras Größe angepasst hatte. Jetzt wandelte ein nach regennasser Erde duftender Baum mit einer wirr verknoteten Kordel am Gürtel zwischen den Steinhäusern Sales umher - vermutlich ein druidischer Talisman oder dergleichen.

Druidenqualität aus dem südlichen Duthchal-Wald, wie der Stoff bewies: Leicht wie Seide, weich wie Wolle und fein wie Thalast. Angeblich war das Material witterungsbeständig und ließ Wasser wie von Blättern abperlen, aber irgendwo musste auch druidische Kleidung ein Limit haben.

Seraphina genügte es vorerst, nicht mehr gegen das Gewicht ihres alten, blauen Kleids anzukämpfen und federnden Schritts über die Straße zu schlendern. Das Material passte sich perfekt an ihren Körper an, als glitt es über ihre Haut.

Doch auch den Tag darauf stockte sie noch vor dem Marktplatz. Der Abdruck des Richtsteins verharrte drohend in der Erde, während Stojan die Überreste des Galgens hatte entfernen lassen. Dafür hämmerten nun zwei Leute einen Pfahl in den Boden am Rande des Platzes.

Ob die Fläche vor einem Jahr auch schon so offen und weit dagelegen hatte, als der Krieg noch nur eine vage Befürchtung war?

Als noch Frieden herrschte.

Sie wandte sich um. Das Hospital jedenfalls war vor dem Krieg in einem besseren Zustand: Die Wände des Eingangsgebäudes waren von allen sechs in der schlechtesten Verfassung und an vielen Stellen schützten Holzbretter das Innere vor Wind und Wetter; ersetzten die Schieferplatten auf dem Dach.

Mit einem Beutel beladen trottete Janek gerade aus dem Empfangsgebäude. Als er sie sah, sprang er die letzten Stufen hinab und schlang die Arme um ihre Taille. »Jeanne! Geht's dir wieder besser?«

»Hallo. Meine Nase zwirbelt noch, aber es ist nichts Ernstes mehr.« Sie strich ihrem kleinen Helfer über die walnussbraunen Haare. »Du hast großartige Arbeit auf der Burg geleistet, Kleiner.«

»Mhm. Aber sie waren noch kranker als hier. Und ein Diener des Stadtgrafen und ein Soldat ...« Er blickte mit gesenkten Schultern zu Boden, klammerte sich fester an sie und weinte.

Sie umarmte ihn und biss sich selbst auf die Unterlippe. »Tut mir leid, Janek. Wir haben alle unser Bestes gegeben und trotzdem hat es nicht ausgereicht.«

»Warum töten Menschen sich gegenseitig? Warum können wir nicht einfach alle in Frieden leben und uns liebhaben? Warum hat Marika das getan?«

Ja, warum? Sie hatte Sera doch das Versprechen um Frieden abgenommen.

»Das hier ist deins.« Unter geröteten Augen nahm er Seras Fuchsbrosche aus der Gürteltasche und reichte sie ihr. »Die Füchsin war wirklich da. Sie hat mir beim Übersetzen geholfen und gesagt, was ich machen musste. Aber ihr Schwanz hat gar nicht geleuchtet.«

»Die ...« Ihr stand der Mund offen. Die Füchsin von Xandria? »Ist nicht wahr! Tatsächlich?«

»Mhm. Sie sah aus als würde sie brennen und hat sich bewegt wie eine Prinzessin. Und sie hat mir erzählt, wie Stojan auf euch gehört und die Soldaten nicht getötet hat.« Ehrfürchtig betrachtete er die bronzene Füchsin, die noch immer in seiner Hand lag.

Sera strich sich über ihr Gesicht und durch die gefärbten Haare. Nahm Janek schließlich die Brosche ab. »Du musst mir alles über die Füchsin erzählen, sobald wir wieder Zeit haben.«

Der Kleine lächelte verkrampft und nickte. »Dein Geliebter hat auch schon nach dir gefragt. Er wartet auf dich.«

»Mein -« Wie bitte? »Ich hoffe für dich, du meinst nicht Lucien.«

Jetzt grinste er und lief die Stufen zurück ins Empfangsgebäude.

»Du kleiner Wiesel!«

Die legendäre Füchsin von Xandria ... Und Janek hatte sie gesehen!

Erst im Gang zum ersten Krankenzimmer wurde er wieder langsamer. Die Menschen im lichtdurchfluteten Raum saßen, lagen oder lehnten an der Wand - einige eingehüllt in Leinendecken. Sie sahen von ihren heiteren Gesprächen zu Janek und Sera auf und grüßten mit einem ›Lang blühe die Lilie!‹, als hätten sie eine Ewigkeit darauf gewartet, diese Worte auszusprechen.

Janek grüßte auf dieselbe Weise und lächelte mit angeschwollener Brust in die Runde. »Weil Ctirad heute Morgen noch mehr Medizin holen gegangen ist und es Alistair noch nicht gut genug geht, darf ich jetzt mithelfen. Lucien sitzt wahrscheinlich draußen und langweilt sich da.« Er lugte zum Hospitalgarten hinaus und winkte Sera zu sich.

Ihr Bruder lag mit einer Decke im Gras unter der Sonne und hatte den rechten Arm als Kissen unter dem Kopf verschränkt. Seine Augen reflektierten den leicht bewölkten Himmel voll Sehnsucht.

»Hier, das ist für ihn.« Ihr kleiner Helfer drückte ihr einen Becher Honigblütensaft und eine Schale mit einer halben Portion Pinselgrasbrei in die Hand und schob sie ins Freie.

Sera sollte ihm bei Gelegenheit den Unterschied zwischen Freunden und Geliebten erklären, wenn sie Lucien schon nicht als Familie bezeichnen durfte.

»Eine strahlende Sonne heute, nicht wahr?«, sagte sie und schlenderte zu Lucien. Vor allem eine Sonne, die doch kein Blutvergießen mit sich brachte.

Er zuckte zu ihr herum. »Eigentlich -« Lucien seufzte. »Ja.«

»Wie geht es dir?« Sie setzte sich zu ihm, wie er sich aufrappelte und dabei seine linke Flanke schonte, ehe er Janeks Kräftigung entgegennahm. Er erholte sich wieder, ein Glück.

»Ging mir nie besser. Saoirse flickt mich so oft zusammen, die kennt das schon.« Er grinste.

War das so? Setzte er sich so häufig vermeidbaren Gefahren aus? »Warum hast du das getan? Stojan hatte mit sich reden lassen, bis du ihm gedroht hast.«

»Hat er das, ja? Dachte nur, er könnte ein paar emotionale Gründe mehr brauchen, Nolann nicht abzustechen.« Für einen Moment funkelte Lucien sie an. Dann blickte er weg und zog den Kopf ein.

»Und das hättest du nicht anders lösen können, als eine Geisel zu nehmen? Wofür bin ich denn mitgekommen, wenn nicht, um uns Gehör zu verschaffen? Die hätten dich töten können!« Jetzt zuckte sie zurück. So vorwurfsvoll sollte es nicht klingen. Verzweifelt vielleicht - besorgt - aber nicht so!

Er schluckte. »Dich auch.«

Ihr Hals fror, wo Stojan seine Klinge angelegt hatte. Hätte er seine Drohung umgesetzt, wenn Lucien nicht eingegriffen hätte? »Verzeih mir bitte.«

Alistairs Bemühungen, das Hospital so schnell wie möglich wieder aufzubauen, zeigte sich vor allem im Apothekerhaus: Zwar deutete ein abrupter Farbwechsel der Steine an, wo sie die Mauer geflickt hatten, doch es war das einzige vollständig reparierte Gebäude hier.

»Wie geht's jetzt eigentlich weiter?«, fragte Lucien zwischen seinen Löffeln Pinselgrasbrei. »Der Stadtgraf wird das doch bestimmt nicht auf sich sitzen lassen.«

Sie spielte an Saoirses wirrem Knoten an ihrem Gürtel. »Tjelvar ist noch auf der Burg und berät ihn. Mehr weiß ich nicht.« Weil sie nie wagte, sich von der Sonne abzuwenden - aus Angst, sie würde verdunkeln, wenn sie es tat. Lucien hätte der Erbe ihres Vaters sein sollen, nicht sie! Sie hatte ja bis jetzt nicht einmal nachgefragt ...

»Lucien?«

»Hm?«

Sie sollte ihn ansehen - wagen, seine Reaktion zu bemerken! »Du bist die letzten acht Jahre mit Saoirse gereist und hast viele Orte kennengelernt. Wo lebt es sich am besten?«

»Im südlichen Duthchal-Wald bei Deireadh. Nirgends gibt's nachts so viele Lichter und selbst die Leuchtkäfer da leuchten weiß. Überall sind die exotischsten Pflanzen und Tiere. Und trotzdem ist der Hafen voll und die Stadt bunt von den Händlern aus Degun und Entalar. Sogar echtes Gold vom Gott der Wüste gibt's da!« Er klang so fröhlich - so sorglos. Mit Herz und Haut war er zu einem Druiden geworden und hatte sie dabei zurückgelassen. »Der schönste Ort, an dem ich je war.«

Nicht weinen! »Saoirses Flöte und dein Armband stammen auch aus Entalar. Hat sie dich zum letzten Fest der Sechsfaltigkeit mitgenommen?« Lucien war ein Vogel: Sobald ihre Arbeit in Sale beendet war, flog er wieder in die Freiheit hinaus.

Wie lange blieben sie in Sale? Wie lange blieb ihr Bruder bei ihr? Warum gab es keine Gabe, die die Zeit anhielt, damit sie ewig hier verweilen konnten?

Ein leises Rascheln, ehe Lucien sein Armband löste und ihr den Smaragdtropfen hinhielt. Zwei tiefviolette Perlspuren tanzten spiralförmig um einen stecknadelgroßen, goldenen Punkt; entwanden sich einer gen Himmel, einer gen Erde. Ein Kunstwerk, gefangen in der ewigen Versteinerung und umgeben von goldenen Sprenkeln wie Staubkörner. »Das ist nicht meins, sondern das, was Saoirses Eltern sich damals noch vom Gott der Wüste gewünscht haben. Sie wollte, dass ich's immer bei mir habe.«

Saoirses Eltern? Der Smaragdtropfen schaukelte, als Sera ihn mit dem Fingernagel antippte. »Stimmt es, dass der Gott der Wüste nicht lebt?« Im Gegensatz zu druidischen Eltern existierte er auch ohne Lebensenergie.

Die Goldsprenkel verschwammen in der grünen Perle und Sera biss sich auf die Unterlippe, ihr Schluchzen zu unterdrücken. Warum war es dem Gott der Wüste allein vergönnt zu bleiben, während alles andere zu Staub zerfiel? Wie viel hätte -?

Lucien schwang die Decke um ihre Schultern und zog sie sanft in seine warmen Arme. »Weißt du noch, als Mutter starb? Damals hast du auch immer geweint und unterm Kirschbaum gesessen.«

Ja, sie erinnerte sich. Lucius war ihr jedes Mal nachgelaufen. Ihr Vater hingegen hatte sie ab diesem Moment sich selbst und Quentins Fürsorge überlassen. Ihr Bruder war immer das letzte bisschen Frieden, das sie zwischen den Schatten noch fand.

Sie trocknete die Tränen und erstickte ihr Schniefen im Duft nach Wildkräutern und Kirsche. Selbst jetzt - wo er derjenige war, der klagen sollte - tröstete er sie, statt umgekehrt.

Er lehnte seinen Kopf an ihren. »Es ist wie früher: Du bist immer noch einsam und ich bin trotzdem immer noch da. Das Erbengesetz hatte am Ende doch keine Macht über uns.«

Und niemals wieder würde sie das zulassen!

Fina nickte.

Wie lange hatte sie darauf gewartet, wieder einen Menschen zu finden, der sie verstand? Für den sie sich nicht verbiegen musste? Bei dem sie zu Hause war.

Lucius hatte sich nicht verändert. Zeit und Raum hatten genauso wenig Macht über sie wie ihr Vater.

~✧~

Vor dem Empfangsgebäude saß nicht nur Alistair auf der Treppe - gebeugt wie hundert Jahre Pein - sondern stand auch ein Moragi.

Stojan!

Seine Augen hefteten sich an Sera und sie wich eine Stufe zurück. »Kannst du uns einen Gefallen tun, Füchsin?«

»Warum?« Ihr Rücken berührte die Steinwand. Wenn er noch einmal zuschlug, konnte sie nicht ausweichen.

Stojan blieb, wo er war; machte keine hektischen Bewegungen und hob die leeren Handflächen. »Ich tu' dir nichts. Wir wollen nur reden.« Er zeigte auf Alistair und den Steinschlag. »Der Kommandant ist auch da. Es geht um unseren Anteil an den Friedensverhandlungen und die Lebensmittelversorgung.«

Sie umklammerte einige kantige Mauersteine hinter ihr und starrte zum Druiden, der matt den Kopf hob. In einem Gebäude waren ihre Fluchtmöglichkeiten nochmals reduziert. Vor allem, wenn es dort von Moragi wimmelte, die alle zu Stojan hielten.

Blitzten etwa Schuldgefühle seinem Gesicht auf? Er verschränkte die Arme und seufzte. »Das mit deiner Nase tut mir leid. Das mit Lucien auch. Du hast gesagt, du bist neutral, wenn du die Füchsin trägst. Dann solltest du jederzeit bereit sein, zwischen uns und denen« - er winkte mit dem Kopf zur Burg - »zu vermitteln.«

Sollte sie. »Tjelvar ist bereits bei Stadtgraf Bastien. Es ist sinnvoller, auf ihn und Bastiens Antwort zu warten, damit ihr ein Gegenangebot vorlegen könnt - sollte der Stadtgraf überhaupt mit euch verhandeln wollen.«

Stojan zuckte mit den Achseln. »Das rate ich ihm, sonst hungern wir ihn da oben aus. Du hast auch einen Siegelring von der Füchsin, oder? Wir brauchen was zu Essen für die Stadt. Unsere Speicher wurden ja von den Soldaten geplündert. Und du bist neutral.«

Zur Nacht mit ihrer Neutralität! »Wer garantiert mir, dass ihr mir keine Falle stellt und mich als Schutz gegen einen möglichen Gegenangriff verwendet?«

Er runzelte die Stirn und spähte zur Burg, als wägte er ihre Idee tatsächlich ab. »Ich hol' sie auf den Marktplatz und sag ihnen, dass sie dir nicht zu nah kommen sollen.« Noch einmal blickte er zu ihr und dem Druiden, nickte und stapfte schließlich in die Schenke.

Sie sah auf den Abdruck von Olgas Richtstein. Jetzt war ihre Zeit gekommen, die Sonne zurückzulassen und sich ihrer Angst zu stellen, wie?

Seraphina pirschte jenseits von Alistair an Tjelvars Platz zu den letzten Verhandlungen. Verschränkte ihre Hände hinter dem Rücken und wartete mit regloser Miene wie der seinen.

Stojan kam wieder. Wie eine lästige Mücke in Speranx: Was man am wenigsten brauchte, war immer im Überfluss vorhanden. Olga und ein Dutzend weiterer Moragi begleiteten ihn und zwei von ihnen führten Nolann an den Pfahl.

Sera schluckte.

Ohne seine bis zum Hals reichende Uniform wirkte er noch mehr wie ein ehemals Todgeweihter. Seine fünf Narben zogen sich parallel zur Halsschlagader, wurden über seinem Schlüsselbein breiter und verliefen bis unter sein rotbraunes Hemd.

Nirgends waren Spuren einer Naht.

Andere, frische Wunden vom letzten Kampf fand Sera keine mehr. Nur tiefe Erschöpfung in seinem ausgezehrten Gesicht.

Alistair hingegen rührte sich nicht. Selbst zwei Tage nach seinem Erwachen vom Gabenschlaf wirkte er, als nähme er nur einen Bruchteil seiner Umgebung wahr.

»Also dann«, eröffnete Stojan die Runde und stellte sich wie bei den Verhandlungen vor die anderen. Seraphina gegenüber. »Ich will eins klarstellen, Füchsin: Wir wollen Frieden. Nicht den Frieden, den Mervaille uns geben wollte und auch nicht den, den Marika uns fast gegeben hat.«

Warum?

»Wir wollen leben. Mit unseren Ärzten und unseren Druiden. Dafür brauchen wir was zu Essen. Wenn wir für die Sicherheit der Transportwagen sorgen, schreibst du uns einen Brief fürs Kloster?«

Sie verengte die Augen und blickte von seinen braungebrannten, gefährlichen Fäusten hoch in sein Gesicht. »Xandrias Füchse machen keine Politik. Der Stadtgraf ist für die Verteilung der Nahrungsmittel zuständig.« Und stimmte dem sicher zu bei all den Lebensmitteln, die sie entsorgen mussten.

»Du willst warten, bis der und wir uns einig geworden sind?« Stojan riss die Arme auseinander und stapfte näher.

Sera wich zurück und ihr Herz setzte aus. Er würde wieder zuschlagen!

»Der Tribut für druidisches Heilen ist Körpermasse. Die Verletzten müssen essen - und damit können sie nicht warten! Wir können heute noch Reiter losschicken und haben in drei bis vier Tagen was zu essen und in einer Woche sind unsere Felder reif. Aber dafür müssen wir uns jetzt beeilen!«

Sein Blick hätte Sterne vom Himmel reißen können. Und diese Faust würde Sera wieder treffen, wenn sie nichts tat!

Ihre Gabe übermalte das Zittern ihrer Glieder - nein, es zeichnete eine völlig neue Seraphina vor Stojan, während sie sich verbarg und weiter zurückwich. »Marika mag das Korn vergiftet haben - einen ganzen Sturm auf Sale hätte sie niemals allein planen können! Wenn ihr sie dazu angestachelt habt, hättet ihr auf die Lebensmittelknappheit vorbereitet sein sollen!«

»Wir? Die Schlampe angestachelt?«, schrie er. Noch einen Schritt näher. »Das Miststück hat ihr eigenes Ding gemacht!« Er holte aus. Er würde -! Das Trugbild! »Ich sag' dir, was -!«

»Stojan!«, brüllte Alistair.

Der Moragi hielt inne.

Sera sackte auf die Knie.

Ihr Trugbild reckte nur das Kinn.

»Es bringt uns nichts mehr. Die Krähen bringen uns nicht zurück, was sie genommen haben, weil wir nochmal zuschlagen, Stojan«, sagte Alistair mit erstaunlicher Kraft für diesen vernebelten Blick. »Lasst uns um das kümmern, was wir noch haben.«

Stojan senkte die Faust. Seine Mundwinkel zuckten und ein glänzender Schleier überzog seine Augen.

Er schlich vor den Richtblockabdruck und präsentierte Sera den breiten Rücken.

»Weißt du, was das Schlimmste an allem ist?« Als drückte irgendeine Last ihn nieder, entspannten sich Stojans Fäuste, die Arme - selbst seine Stimme. »Zu wissen, dass nichts von alldem hätte sein müssen.«

Er betrachtete den Abdruck im Boden. Kommandant Nolann am Pfahl. Die Moragi und Druiden. Das geschändete und wiedererrichtete Hospital.

Sie.

»Marikas Vater hat immer von Aiglon erzählt. Und sie wollte immer mal nach Cadeau. Ctirad übrigens auch. Wir hätten Freunde sein können.«

Er rieb seine Handballen über die Augen und stieß einen bebenden Atemzug aus.

»Jetzt sind wir Feinde. Es liegt an dir, ob wir hier sterben.«

~✧~

Es dauerte drei weitere Tage, ehe die Bestattungszeremonie nach mervaillscher Art auf der Landzunge zwischen der Savage und dem Vert auf einer freien Wiese durchgeführt wurde - dem Fehlen des Silbermondes zuschulden.

Jetzt, wo der gesplitterte Mond durch die Regenwolken hindurchlugte, standen sie im Schlamm vor Priester Michel. Wann immer die Wolken den Silbermond in voller Pracht freigaben, reflektierte sein silbernes Gewand das Licht, als wäre er selbst eines der Mondkinder.

Die Brise roch nach getränkter Erde und Seraphina fror im Nieselregen, doch ihre und Tjelvars Anwesenheit waren ausdrücklich erwünscht. Selbst Nolann durfte in Begleitung einiger Moragi kommen, um der Bestattung sechzehn seiner Soldaten und drei von Bastiens Dienern beizuwohnen.

Nach Michels Rede wurden die Särge in die Erde eingelassen und die Löcher wieder zugeschüttet. Pro Grab steckte der Mondpriester einen weiß bemalten Metallkreis zum letzten Geleit unter dem Mond in die Erde und sprach einen kurzen Segen, bei dem Sera immer wieder blinzeln musste. Nichts als Gräber mit Namen und dem Todesjahr eintausend vierundsiebzig blieb noch von den Verstorbenen.

Ihre Totenwacht endete erst mit dem Rot der Morgendämmerung, als der Mond zu seiner Silhouette verblasste. Nach ein paar Stunden Schlaf begann am Nachmittag das zweite Begräbnis.

Acht Urnen brachten die Angehörigen vor die Menge. Obwohl Alistair wie zur Ansprache gekleidet war und am Kopf der Moragi stand, schwieg er. Stattdessen hielt die Druidin neben ihm die einfühlsame Rede und legte sich die Hand aufs Herz. Zum Abschluss reichte sie den Hinterbliebenen jeweils eine Schaufel und sagte jedem, mit dem Ende eines Lebens beginne ein neues.

Danach gingen die Moragi mit ihren Urnen und Schaufeln in das riesige, bunte Blumenbeet hinter den Druiden, suchten sich eine freie Stelle und gruben. Reihum schaufelte jeder der Angehörigen einmal und schließlich gab einer die Asche in die Erde, ein anderer Blumensamen darauf. Der Letzte füllte das Loch und strich die Erde über dem Grab glatt.

Um Sera herum weinten oder sprachen die Moragi über die Verstorbenen. Noch als sich die Versammlung auflöste - Lucien und Saoirse schon gegangen waren, sich zu erholen oder den noch Lebenden zu helfen - blieb Seraphina.

Alistairs Vertretung hörte sich die Klagen und Geschichten der Trauernden an und ergänzte aus ihren eigenen Erlebnissen. Sie sprach ihnen keinen Mut zu und verdrängte den Tod nicht - sie fühlte ihren Schmerz und leistete Beistand.

Der eigentliche Zeremonienmeister wankte zwischen den Blumen. Sera ging neben roten, violetten, grünen, gesprenkelten Blüten und abertausenden Duftnoten zu ihm. Wenn jemand wusste, wer unter welchen Blumen begraben lag, dann er.

»Unter den Druiden im Duthchal-Wald heißt es, dass die Krähen unsere Seelen nach dem Tod in ein Reich ohne Schmerz und Leid bringen, bis wir völlig frei von Wut und Trauer sind. Dann verschmelzen unsere Seelen miteinander und bilden neue, unbefleckte, die die Krähen zurück nach Agartha schicken. Glaubst du das, Knospe?« Alistair sah zum Kopf einer Sonnenblume auf.

»Die Begabten leben nach dem Gesetz, dass jede Form von Energie begrenzt ist und daher dem Kreislauf des Aufnehmens wie Abgebens folgt. Wenn die Krähen Teil dieses Systems sind, dann müssen sie unsere Seelen weitergeben, damit der Kreis geschlossen bleibt.« Obwohl Krähen nur als Totenboten - nicht als Lebensgeber - bekannt waren.

»Und dieses paradiesische Reich, in das sie uns schicken?«

»Für mich klingt es nach einer romantischen Vorstellung von etwas, das wir niemals begreifen werden.«

»Ich denke, es gibt diesen Ort. Kinder kommen nicht mit dem Hass oder der Trauer auf die Welt, mit der manch einer verstorben ist. Irgendetwas muss unsere Seelen besänftigen, bevor wir wiedergeboren werden. Andererseits ist es schade für all die, die uns im Leben mit Glück und Freude beschenkt haben.« Er lächelte sie traurig und müde, doch wieder klar an.

»Blumen sind also die Art der Druiden, die Persönlichkeit der Toten zu bewahren?« Sie verzog die Mundwinkel. Unter der Sonnenblume lag jemand mit frohem Herzen, der voll Optimismus nach vorn gesehen hatte.

»Ganz genau«, sagte Alistair. »Lewian ist der Spender dieser Sonnenblume. Hätte er den Krieg überlebt, hätte er Marikas Gedanken vielleicht erhellt und sie um seinetwillen durchhalten lassen.«

Eine kühle Böe wehte über die Leinwand der tausend Künstler und wie zur Antwort nickte die Sonnenblume.

»Danke. Wegen Stojan«, sagte sie und rieb über die Gänsehaut an ihren Armen.

Alistair blickte zu ihr und seine Lippen verkrampften zu einem Lächeln. Er schüttelte den Kopf und wandte sich zum Boden zwischen dem Stamm der Sonnenblume und weißen Chrysanthemen. »Die Enziane da hat Marika sich ausgesucht.«

Zwei kleine sattblaue Blumen mit gerade einmal zwei und drei kelchartigen Blüten ruhten bei Lewian - winzig im Vergleich zu den Blumen um sie herum. Mit ihren Knien auf der nasskalten Erde hob Sera einen Kelchkopf an. Dunkelblaue Farbspritzer durchzogen das Innere der ins Hellblau verschmelzenden Blütenblätter.

»Enziane stehen für Standhaftigkeit und Treue und sind einige der wenigen Blumen, die auch im Winter noch blühen.«

So, wie Marika selbst im Angesicht des Todes noch gekämpft hatte. Sie betrachtete die Blüten mit Tränen in den Augen. Nur, dass Enziane nicht den Winter brachten, den sie selbst überdauerten. »Hast du auch eine Blume, wenn du stirbst?«

Alistair zog ein Stoffsäckchen unter seinem Hemd hervor, das wie Saoirses um seinen Hals hing. »Löwenzahn: Er blüht selbst dort, wo er nicht hingehört, und wird vom Wind in die weite Welt getrieben, wenn seine Zeit gekommen ist. Dann schlägt er Wurzeln und verbreitet sich, bis er die ganze Welt gesehen hat. Und was würdest du wählen?«

Keine Sternenrose als Sinnbild für die Aureum. »Weiße Rosen.«

Bạn đang đọc truyện trên: Truyen2U.Pro