23. Die Kälte von Stein

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Metall schepperte gegen Metall. Ein Klicken. Holz scharrte über Stein. Kälte umarmte sie. Ihre Fesseln wurden aufgeschlossen und der Sack von ihrem Kopf gezogen.

Der Raum vor ihr war dunkel und leer. Ein faustgroßes Fenster ließ das Abendlicht herein.

»Viel Spaß da drinnen!« Eine Hand stieß sie in die Zelle. Ihre Knie zersplitterten beinahe beim Aufprall.

Ein weiteres Schaben von Holz auf Stein. Ein weiteres Klicken. Ein weiteres Scheppern von Metall gegen Metall.

Stille.

Der Stein unter ihren Händen war kalt. Der Stein unter ihren Knien war kalt. Die Luft um sie herum war kalt.

Auf allen Vieren kroch sie auf das matt erleuchtete Fleckchen. Nur noch ein bisschen ...

Sie legte sich hin und rollte sich zusammen. Niemand war mehr hier. Niemand sah sie. Hier brauchte sie ihre Würde nicht mehr bewahren. Nicht mehr tapfer sein.

Sie weinte; vergrub ihr Gesicht in den Händen, krallte die tauben Finger in die Haare. Wenn sie eine willenlose, folgsame Schülerin gewesen wäre, wäre sie jetzt nicht hier. Wenn sie eine schweigsame, schöne Prinzessin gewesen wäre, wäre sie jetzt nicht gescheitert.

Wenn sie nur getan hätte, was man ihr gesagt hatte!

Aus weiter Ferne rief jemand ihren Namen. Nicht Jeanne, nicht ihr verpatztes Pseudonym, sondern Seraphina. Ihr Vater rief sie. Sera versperrte sich ihm. Seine Stimme hören war das Letzte, was sie jetzt wollte. Seine Worte, dass sie schon wieder versagt hatte.

~✧~

Ein schrilles Quietschen heulte auf. Sera zuckte zusammen.

Nicht schon wieder.

Der Abend war der Nacht und dem nächsten Morgen gewichen. Jedes Mal, wenn sie wegdämmerte, kratzte jemand vor ihrer Zelle mit einem Messer auf Metall. Alle zwanzig Minuten.

Wenigstens konnte sie so ihre Tarnung aufrecht halten. Der andere Seher kam ja doch nicht.

Die Wachen vor der Tür wechselten. Blechbecher klirrten und zwei schmatzten. Sie beschwerten sich, dass Arnault die Wachposten verstärkt hatte und Nolann immer noch nicht erreichbar war.

Sera drehte sich vom Duft gerösteter Zwiebeln weg. Ihr Mund war so ausgetrocknet, dass sie keinen Hunger mehr spürte. So musste es schmecken, auf sonnengebleichtem Papier zu kauen.

Sie gab der verführerischen Müdigkeit nach.

Ein Kratzen jagte durch ihren Schädel.

Da waren sie wieder: Die Wölkchen, die nach jedem Atemzug zum Stein aufstiegen.

Sie rieb sich übers Gesicht. War das Dreck, Steinchen; Blut? Ihre Finger fühlten es nicht mehr. Allein ihr Oberkörper schlotterte noch. Ihre Schulter ächzte vom harten Untergrund. Ihr Kopf fühlte sich an wie eine Porzellanvase, die jeden Moment zersprang.

Über ihr die glatte Steindecke. Zu ihren Seiten glatte Steinwände. Unter ihr der glatte Steinboden. Und kein bisschen Wärme mehr in ihr.

Dass die Felskante Hohlräume hatte, die die Mervailler als Gefängnisse missbrauchten ...

»SeraphinaAstras kleiner Günstling ...«

Der Seher? Ohne die typische Seheraura in der Nähe?

Wieder dieses Quietschen.

Ihre Ohren klingelten. War das Quietschen, der Seher oder die Kälte das Schlimmste hier?

Nichts davon. Ihr Vater war es. Müsste ein Ratsherr nicht Besseres zu tun haben? Warum ließ er sie nicht einfach in Ruhe wie die letzten drei Jahre?

Ihr fielen die Augen zu.

»Ich brauche keine Broschen, um zu wissen, was ihr tut.« Die Füchsin hatte sich neben ihr niedergelassen und die flammenden Vorderpfoten übereinandergelegt.

Die Wärter weckten sie wieder.

Verflucht.

Olga sagte Tjelvar frühestens in vier Tagen, wo sie war. Bis dahin fanden sie nur noch ihre Leiche.

Das Schlucken schmerzte. Wenn es nur noch Staub auf ihrer Zunge gab, konnte sie auch gleich damit aufhören. Schon schlimm genug, dass sie das Atmen nicht so leicht unterlassen konnte.

Draußen war es dunkel, als sie sich das nächste Mal bewegte.

Worauf wartete sie überhaupt? Wenn sie Arnault nichts zu sagen hatte, passierte sowieso nichts mehr. Dann konnte sie sich genauso gut den Kopf am Stein aufschlagen.

Oder dem Ruf ihres Vaters nachgeben.

Sera stemmte sich auf die zittrigen Beine. Der Raum um sie drehte sich und ihre Finger umklammerten das Sims des kleinen Fensters. Sie war zu müde, um zu stehen. Sicher auch zu durstig, hätte sie ihren Rachen noch gespürt.

Draußen schienen die Sterne.

Sie suchte, aber sie fand den Mond nicht. Mit Tränen in den Augen lehnte sie die Stirn an die Steinwand. Ob er heute wohl leuchtete?

Was dachte Lucien darüber, dass sie nicht da war? Machte er sich Sorgen? Suchte er sie? Was würde ihr Vater sagen, sähe er sie jetzt?

Bestimmt, dass sie sich zusammenreißen und eine Lösung finden sollte, statt immer nur zu jammern.

Eine Lösung, hier drin? Was sollte sie denn tun: Mit ihrem Blick ein Loch in den Felsen bohren? Sehr witzig. Unterstützung suchen? Welche denn? Die Wahrheit sagen und sie beweisen? Dann landete ihr Kopf auf einem Spieß vor König Philippe und seiner auf einem vor ihrem Vater. Tolle Lösung.

»Er würde dir sagen, dass du auf die Details achten musst.«

Oder, dass sie niemals gegen das Neutralitätsgebot von Xandria hätte verstoßen sollen.

 »Wohl wahr.«

Das also war die Strafe der Füchsin von Xandria.

Sie stieß sich von der Wand ab und betrachtete die Wassertropfen auf ihren Fingern. Jetzt fror es auch noch? Seit wann das denn?

Ja: Seit wann?

Sera legte ihre Hand wieder auf den Stein. Warm? Nein, nicht warm. Nur nicht mehr kalt. Heizte der Steinbruch auf?

Über ihr war Frost. Miniatureiszapfen hingen von der Decke, aber sie tropften nicht. Auf Zehenspitzen berührten ihre Fingerkuppen die Spitzen. Ein Rinnsal schmolz ihre Hand hinab.

Nicht ihre Zelle war warm, sondern sie. Aber warum?

Die Wachmänner kratzten wieder. Die hatten wirklich nichts Sinnvolleres zu tun, oder?

Sera wankte die zwei Schritte zur Tür und sah hindurch.

Die Details.

Wie war es im Gang? Spürten die Soldaten die Veränderung auch?

Doch die beiden Männer saßen in dicker Uniform am schwach beleuchteten Tisch und spielten Karten. Ihr Terrormesser lag neben einem und taugte vermutlich nicht mal mehr zum Butterstreichen.

»Hier lang.« Die Füchsin saß auf der anderen Seite des Gangs.

Am Ende des Gangs rechts sah Sera weitere zwei Soldaten – vollständig bewaffnet und in Pelzmäntel gewickelt. Jeder ihrer Atemzüge gefror zu Eiskristallen und fiel zu Boden. Hinter ihnen um die Eisentür blühte ein Eisblumenfeld.

Der Raum dahinter glich einem Wintermärchen – oder einem Winterfluch. Am Boden lag Schnee, an den Wänden prangte ein Eisgarten und mittendrin saß ein junger Mann: Arme und Beine an Wände und Untergrund gekettet und halb im Schnee begraben. Er hing in seinen Fesseln wie eine unterfütterte Stoffpuppe mit lockerem Kopf.

Doch er atmete. Trotz der Kälte.

Ein schwarzer Knoten war in seinem linken Unterarm verwachsen, aber seine Finger -

Vier? Vier an jeder Hand.

Und spitze Ohren.

Aber keine Hörner.

Sera blendete das Rufen ihres Vaters aus. Sollte er doch lernen, zu warten! Ihr Fund konnte sie vielleicht retten. »Der Sonne zum Gruß. Bist du der Mensch, den die Leute aus Sale den Wasserteufel nennen?«

Schnee stob von tiefbraunen Haaren und der Wasserteufel hob den jugendlich anmutenden Kopf. Sah mit funkengesprenkelten, eisblauen Augen zur Tür. »Mein Name ist Hakim. Wie heißt du?«

Sie runzelte die Stirn. Warum überraschte es ihn nicht, von einem Seher angesprochen zu werden? »Die Menschen hier rufen mich Jeanne.«

»Jeanne. Ich bin ein Neuzeitelf, kein Mensch. Was tut eine von den Moirai Beschenkte in einer Zelle? Man sollte meinen, deinesgleichen wüsste sich besser zu helfen.«

Woher –? »Was tut ein Wasserteufel in einer Zelle? Dafür, dass du nach Yulth gehen willst, haben dich einfache Steinwände ziemlich schnell aufgehalten.«

Hakim knurrte. »Kouki hat mich ja vorgewarnt, dass ihr Menschen keine Ahnung habt. Schaff die Wärter hier raus und ich zeige dir, wie schnell ich diesen Stein in Grund und Boden schmelze!«

»Pardon? Wie bitte stellst du dir vor, soll ich das tun? Eine Sehergabe reicht für Taschenspielertricks, nicht, um Dutzenden die Köpfe zu verdrehen.«

»Du lebst unter einem Energiebündel Licht und kannst nicht einmal genug davon kanalisieren, um mir den Weg freizumachen? Ihr Menschen seid noch unfähiger als ich dachte.«

Sera trat von der Holztür und zurück zum Fenster. Teufel oder nicht, solche Frechheiten musste sie sich nicht bieten lassen!

Am Himmel thronte der Herr der Welt. Das kleine Küken, das niemals aufhörte zu wachsen. Der Phönix, der irgendwann zum König der Vögel wurde. Der Herr der Welt, der die Menschen Demut lehrte und die Sonne mit seinen Schwingen verdunkelte.

Und der heute die Sonne in seinen Krallen trug.

Hatte so jemand wirklich Anhänger auf Agartha? Hatte er die Magier und den Teufel geschickt, um die Menschen wieder zurechtzuweisen?

Wenn Seraphina mit Hakim floh, war der Teufel frei – und wer wusste, wozu er mit der richtigen Quelle fähig war?

Wenn sie nicht mit ihm floh, saß sie genau wie er hier fest. Nur mit dem Unterschied, dass sie nichts als Kriegswaffe taugte. Vielleicht könnte sie dem Aufseher eine gute Lüge präsentieren, wenn die Sonne gerade wegsah. Mit Glück ließ er sie dann im Steinbruch arbeiten und sie könnte sich herausschleichen.

Solange die Füchsin nicht wieder eingriff ...

Und ihr Vater endlich schwieg.

Sera glitt an der Wand herunter und umklammerte ihre zitternden Beine. Der Stein war wieder kalt.

Das schäbige Messer kratzte über die Metallplatte. Schlafen konnte sie gerade sowieso nicht! Nach ihr sehen kamen sie aber auch wieder nicht.

Also konnte sie sich gleich die nächste Predigt von ihrem Vater anhören.

Hohe Fenster erschienen vor ihr. Die Wände waren in hellen, bunten Farben bemalt und erzählten bildchenweise Geschichten der Familie Aureum oder über die Sterne. Hinter ihr bedeckte ein blau-goldener Teppich den weiß-rosé-goldenen Marmorboden und kostbare Möbel standen im riesigen Zimmer: Sofas mit Samtüberzug und Mahagonibeinen. Ein Tisch aus Hartholz mit Glasplatte. Goldene Kerzenständer.

Den Halbkreis der Sofas schloss der mit Sternen verzierte Kamin, über dessen Feuerstelle ein eingraviertes Mädchen einen Stern gen Himmel sandte. Über ihr spannte sich ein Sternenhimmel über die gesamte Decke, in dem auf wundersame Weise alle sechs Sternbilder aus Lumista und in der Mitte – von allen am hellsten – der Erste Stern leuchteten.

Die Fenster waren blind. In diesem imaginären Raum, den ihr Vater beschworen hatte, existierte nichts jenseits dieser Fenster. Auch die Hand, die die Glasscheibe berühren wollte, war nichts weiter als eine Illusion. Diese makellose Hand, die schon lange nicht mehr ihre war.

Besser, ihr Vater sah, was er sehen wollte: Die reine, weise Ratstochter, die sich die Hände niemals schmutzig machte. Die perfekte, vornehm gekleidete Ratstochter, deren sonnengoldene Haare schienen; deren himmelblaue Augen leuchteten.

Seraphina war wieder in Arta. Dem Ort, den sie einst ihr Zuhause genannt hatte.

»Du hast dir Zeit gelassen.«

Seraphina gefror, als hätte der Stein sie zu Eis werden lassen.

Da war sie: Die Stimme, von der sie sich wünschte, sie niemals wieder zu hören. Die kalte, emotionslose Stimme ihres Vaters.

Haltung. Würde. Das Trugbild, das sie sein sollte, reckte den Rücken, bis es wie eine Granitsäule dastand – den Kopf erhoben und den Blick auf Augenhöhe. Immer nur aufs blinde Glas.

Dieses Mal gab sie nicht nach.

»Verzeih bitte, dass ich dich habe warten lassen. Die Prüfungen sind zeitraubend«, sprach sie, wie sie immer angehalten wurde: Fest und ruhig.

Sie sollte atmen.

»Seltsam. Von einem Fernstudium hat Xandrias Kommunikator gar nichts erzählt.«

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