29. Michel und die Silbermondlilie

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Seras Stute schritt vom Vorhof des Mondklosters zu den Ställen und wirbelte dabei Schneewolken auf. Sie indes faltete die Hände zum Gruß an Priester Michel und ließ sich von ihm hineinbegleiten.

Ihre Tasche mit der dick verpackten Lilie verstaute sie in ihrem Einzelzimmer und traf die Gläubigen im Speisesaal zum Abendessen wieder. Mit wolkenweißen Roben und roten Gürteln wandelten Michels Männer und Frauen jetzt wie Schneegestalten durch die Halle.

»Dann erzählt, Füchsin. Was führt Euch zu mir ins Kloster?« Michel stellte je eine dampfende Schale Pinselgraseintopf zu ihnen und legte die mit Altersflecken übersäten Hände vor sich auf den Tisch. 

Sera ignorierte die Krämpfe in ihrem Magen. Essen konnte sie später. »Ich weiß nicht, was ich machen soll. König Philippe hat im Namen des Kommandanten und des Stadtgrafen unsere Hilfe erbeten, aber die Druiden bleiben ein Streitthema.«

»Hm ...« Während Michel seine graugrüne, süß stinkende Pampe bereits löffelte, versuchte sie, gedankenverloren in ihrer Schale zu rühren. »Wo das Licht der Sonne versagt, wird der Mondgott uns leiten. Ich kann die lange Messe für morgen Nacht vorbereiten. Dann müssen wir nur noch auf den Silbermond hoffen.«

»Que la lune d'argent brille. Vielen Dank, Priester Michel.« Seraphina faltete die Hände und zwang sich, zumindest eine halbe Portion zu essen.

»Que la lune d'argent brille.« Michel lächelte. »Bis die Sonne wieder richten kann.«

Den langen Mondmessen beizuwohnen bedeutete, die gesamte Nacht aufzubleiben und zu beten – und dafür schlief man am besten zuvor bei Tage.

Was Seraphina immer noch nicht gelang. Mit dem ersten Morgenrot stand sie auf und quälte sich durch die frostübermalten Kreuzgänge. Mit einem Scheibchen Brot und Kopfschmerzen verharrte sie vor dem Kaminfeuer im Speisesaal, bis die Sonne endlich aufging.

Eine Nacht ungestört schlafen können ...

Gegen Mittag fielen ihr die Augen beinahe zu – offenbarten jedes Mal wieder den Krähenmeister. Seine leeren Augen starrten direkt in ihre wie eine Forderung: Ihren Diebstahl rückgängig zu machen.

Oder zumindest hoffte sie, dass es dann vorbei wäre.

Winterkälte stach ihr in die Lungen, als sie hinter den verschneiten Hain stapfte und dort einen Stein zum Sitzen vom Weiß befreite. Kälte und Licht waren genau das Richtige, um wach zu bleiben.

Wie über den längst verlorenen Wüstensand im südlichen Kontinent wehten die Brisen über das glitzernde Puder. Verdeckte ihre Spuren hierher ebenso wie das von allem anderen Leben. Nichts durchbrach die Dünen des Ortes, an dem sie Lucien zum ersten Mal nach acht Jahren wiedergetroffen hatte.

Sie musste auch ihn demnächst fragen, was er in dieser verlorenen Zeit getan und erlebt hatte. Das war Sera ihrem Bruder schuldig.

»Wisst Ihr, warum Schnee weiß ist?« Michel trat neben sie und ergründete mit ihr die Muster in den Dünen.

»Weil er rein und unbefleckt ist.« Sera schaufelte den Platz neben ihr für den Priester frei. Wie Sand rieselte der Schnee hinab. Nur jene Flocken auf ihrer Haut verloren ihre Farbe und zerschmolzen in die Nichtigkeit.

Darum galt Schnee als so vollkommen: Niemand konnte ihn berühren, ohne ihn dabei zu verderben.

Der Priester setzte sich mit einer Leichtigkeit, die nicht zu seinem Alter passte. So vorgelehnt und ganz in Weiß mit einem Vollbart, klar wie der Schnee selbst, hätte Michel ein Mondkind sein können. Seine Züge zeugten von Weisheit. Von innerem Frieden und doch von einer Sehnsucht. »Wie ergeht es den Druiden in der Stadt? Ich habe noch von keiner Verbrennung gehört. Das ist hoffentlich ein gutes Zeichen.«

»Ja.« Sie drehte sich zu ihm und winkelte die Beine an. »Stellt Euch vor: Druiden und Mervailler leben und arbeiten zusammen. Stadtgraf Bastien hat im ältesten Druiden dort einen regen Diskussionspartner gefunden und Saoirse bringt allen interessierten Soldaten jetzt die Rezepte aus dem südlichen Duthchal-Wald bei. Im Hospital unterrichten die anderen die Militärärzte und selbst der Widerstand hat mittlerweile den Frieden gewählt.«

Frieden ...

Das Lächeln, das sich fälschlicherweise in ihr Gesicht geschlichen hatte, verblasst wieder. Eigentlich hatten sie ihre Aufgabe hier schon fast erfüllt.

Sera legte ihr Kinn auf die Knie. Der Frieden, den sie sich erarbeitet hatten, war oberflächlich. Nolann kämpfte mit ihrer Misere des Wasserteufels. Bastien wartete auf die Gelegenheit, den Kommandanten loszuwerden. Und die Moragi bestanden nach wie vor auf die Freilassung ihrer Freunde im Steinbruch.

»Wisst ihr, wie Mervaille vor vierzig Jahren ausgesehen hat, Füchsin?«

Sie hob den Kopf – zu müde, um dem Priester in die Augen zu sehen. »Unter Marin dem Zweiten de Côte d'Ambre? Meine Mutter hat mir vor vielen Jahren die Märchen über Marins Abenteuer als Prinz und junger König vorgelesen. In der Weizenterrasse ist er zwei Druiden aus Xandria und ihren Panthera begegnet und zu fünft haben sie die Berge Beaumonts bestiegen, am Strand der Côte d'Ambre Bernsteine gesucht und in Cadeau die Heilige Sankt Michel Kirche bestaunt. Am Ende ist einer der beiden Druiden mit den Großkatzen weiter nach Norden gezogen und der andere blieb als treuer Hofarzt an Marins Seite – bis er ihn schleichend getötet hätte.«

Michel nickte dem weißen Garten entgegen. Eine Tränenspur durchzog die tiefen Furchen in seinem Gesicht und verloren sich in seinem Bart. »Die Druiden haben uns immer Achtung vor dem Leben und der Gemeinschaft gelehrt. Wir haben damals immer verletzte Vögel versorgt, die buntesten Herbarien geführt und die schönsten Feste gefeiert. Sie haben die Wälder mit uns gepflegt und die Medizin mit uns weiterentwickelt. Wenn die Erben des Heiligen Michel Mervailles Kopf sind, dann waren die Druiden unser Herzstück.«

Nur, wenn man von den Gerüchten absah, der Adel hätte die Druiden schon zu Marins Zeiten ausbluten lassen ...

Der Priester seufzte. »Wären die Mondgeschwister aus Yulth noch hier, wäre es nie so weit gekommen.«

»Es heißt, dass sie nach der Gründung der Universität von Xandria nach Entalar gezogen sind, um in die Lehren des Gotts der Wüste zu gehen«, sagte sie und versuchte, hoffnungsvoll zu klingen.

Was Michel aber nicht aufheiterte. »Andere vermuten, sie hätten Speranx nach Xandrias Tod nie verlassen. Wir wissen eigentlich nur, dass sie nicht mehr da sind.«

Sie legte den Kopf zurück auf ihre Knie und sah zum Tiertunnel, der ihr das größte aller Geschenke gemacht hatte. Den verschwommenen Schleier wegblinzelnd seufzte sie und fokussierte stattdessen die reinen, weißen Wolken über ihnen. »Aber der Mond ist noch da. Die Druiden sind noch da. Wir können die Vergangenheit wieder zurückholen. Wir müssen es nur versuchen.«

Michel blickte sie an. Sein Lächeln war so weich wie Schnee und seine Augen so groß wie der Mond. »Ja. Das Erbe von vor vierhundert Jahren ist noch nicht verloren. Die Worte der Monddame von damals gelten bis heute: ›Nur ein Wald, in dem Lilien blühen, ist ein Wald, der leben kann.‹«

~✧~

Zurück in ihrem Zimmer schloss sie Tür und Fenster und schleppte sich zum Bett. Ob Tjelvar und Nolann gerade wieder Ordnung in den Steinbruch bringen konnten?

Was würde Bastien tun, wenn er von Hakims Flucht erfuhr? Als Sohn des Druidenschlächters geböte es seiner Loyalität zur Krone, sie darüber zu informieren.

Sera zog ihre Reisetasche hervor. Sie brauchten ein von der Kirche anerkanntes Zeichen, das die Verschonung der Druiden und ihrer Freunde rechtfertigte. Wer wusste schon, wie viele Gelegenheiten sie nach dieser noch dafür bekamen?

Verflucht.

Wo war Marikas Lilie?

Nichts – wirklich nichts – in ihrer Tasche! Ihr zweites Set Reisekleidung, in das sie die Schnitzerei gewickelt hatte, etwas Proviant, Stift und Notizbuch, aber die Lilie? Lag sie unterm Bett, im Schrank; der Truhe? Sie konnte sich doch nicht aufgelöst haben!

Sie kaute auf ihren Lippen, als sie den gesamten Raum durchblickte. Oder hatten Michels Gläubige ihre Sachen durchwühlt? Nein. Bei normalen Reisenden vielleicht, aber bei einer Füchsin?

Nur wo sollte die Lilie dann sein?

Verfluchte Nacht, Sera musste sie finden, bevor sie der Schändung einer heiligen Stätte des Mondes bezichtigt wurde! Sie sprang auf und aus dem Zimmer, ehe sie verloren in den Gängen stand.

Nachdenken! Wer hatte heute die Zeit gehabt, ihre Tasche zu überprüfen und ihr die Lilie zu stehlen?

Michel nicht. Er war den ganzen Tag mit der Planung der Mondmesse beschäftigt und hatte anschließend mit ihr geredet. Seine Gläubigen? Würden sie das wirklich tun?

Mit zusammengekniffenen Augen und donnernden Schläfen suchte sie.

Nichts auf den Fluren. Nichts im Speisesaal. Nichts in der Küche oder im Garten. Nichts in den Schuppen, den Vorratskammern, den Abstellräumen. Nicht einmal in der Schreiberstube!

Und jetzt?

Sera raufte sich die Haare mitten auf dem Kreuzgang. Sogar eine vermeintlich leichte Aufgabe wie diese verpatzte sie mit Glamour! Wo bekam sie so schnell einen physischen Ersatz für Marikas Lilie, den sie zumindest wie eine aussehen lassen konnte?

Blumen aus dem Garten konnte sie vergessen. Geschnitzte Lilien gab es hier sicher auch keine. Vielleicht –

»Ah, hier seid Ihr, Füchsin.«

Sera fuhr mit einem leisen Aufschrei zusammen, als eine Nonne sie von hinten ansprach. Ihr langes, kastanienbraunes Haar das Einzige, was ihrem weiß-roten Erscheinungsbild Farbe gab. »Priester Michel erbittet Eure Anwesenheit in der Kapelle jetzt schon. Es ist dringend!«

Oh, nein! Sobald sie wieder in Sale war, musste sie eine neue Lilie beschaffen. Vielleicht ließ Stojan ja mit sich reden. War Stein stabil genug für einen dünnen Stiel?

Im Freien war es bitterkalt. Jetzt hatte sie wenigstens eine plausible Begründung für ihr Schlottern am ganzen Körper, während sie gegen den Knoten in ihrem Magen ankämpfte.

Der Silbermond schien bereits und überstrahlte das letzte Licht der Sonne am Horizont. Die Doppeltür in die Kapelle stand einen Spalt offen und im Innern rätselten die Mönche und Nonnen aufgeregt.

Seraphina schlich neben den Priester. Er stand abseits des Dutzend Gläubigen; hielt ein Lunarium und eine Kette silberner wie blutroter Perlen mit einem gesplitterten Mond in der Hand.

Der Saum seines Ärmels raschelte, als der Priester mit seiner klingelnden Perlenkette zum Altar zeigte.

Wo Marikas Lilie jetzt hätte liegen sollen.

»Ich habe es immer gewusst.«

Am Fuße des Altars – auf dem roten Teppich bis zur Pforte hin – lag eine dunkelgraue Schieferplatte. Darauf eine violette Lilie. Genau in dem Kreis, in dem das Licht des Silbermondes durch das runde Fenster über dem Altar auf den Teppich schien.

Und ihr klappten die Knie fast weg. Wie war das möglich?

Nein, das war nicht Marikas Lilie. Diese hier besaß Blütenblätter in einem kräftigen Violett. Keine beschädigte Bemalung, keine Kratzer in ihnen.

Sie starrte Michel an. Gab es hier noch eine zweite Lilie?

Der presste sein Lunarium an die Brust und atmete tief durch. Unter seinem Bart zuckten seine Mundwinkel und sein Blick ließ nicht von der Lilie auf der Schieferplatte. Schritt für Schritt tastete er sich vor.

Nur das Klingen seiner Perlen hallte durch die Kapelle.

Als begegnete er einem Mondkind höchstselbst, kniete der Priester vor dem Stein und der darauf liegenden Lilie. Er legte das Lunarium zur Seite, nahm die Perlenkette in beide Hände und betete.

~✧~

Priester Michel sandte sie mit einer Depesche an Bastien zurück nach Sale: Der Mondgott hatte gesprochen. Die Druidenpogrome in Sale mussten eingestellt werden.

Seraphina hatte sich die Freiheit genommen, den Brief mit ihrer Gabe selbst zu lesen, ehe sie ihn ungeöffnet Bastien überreichte. Nur zur Sicherheit natürlich.

Marikas Lilie hatte sie jedoch nicht wieder gefunden.

»Ein sofortiges Ende der Druidenpogrome?« Bastien hob die Brauen und lehnte gegen sein Arbeitspult. »Wie kann es sein, Füchsin, dass der Silbermond genau während Eurer Anwesenheit im Kloster ein solches Zeichen sendet?«

Sie zuckte möglichst unbekümmert mit den Schultern. Irgendetwas Übermächtiges hatte seinen Blick auf Sale – auf Seraphina – gerichtet. »Ich habe den Mondgott um Rat gebeten und er hat geantwortet.«

Mit fliegendem Blick las er die kurze Nachricht noch einmal. Schließlich seufzte er und faltete sie klein. Er verschränkte die Arme hinterm Rücken und trat zum Fenster Richtung Stadt.

Auf dem Marktplatz wütete eine rege Auseinandersetzung. Stojan, wie sie schon an der Stimme bis hierhin hörte.

Gegen die Soldaten, wie sie sah, als sie neben Bastien stand. Dieses Mal ging es um eine der Innenbemalungen im Steinschlag, welche die Mervailler als Mondschändung betrachteten.

Olga stand neben den Streitenden, kopfschüttelnd und die Hand vor die Stirn geschlagen. Alistair hingegen versuchte, auf die Parteien einzureden, wurde aber schlichtweg übertönt.

Nein, Frieden war das hier ganz sicher nicht.

Indessen wanderte Bastien zurück hinter sein Pult und räusperte sich, dass Sera ihn wieder ansah. Er hielt den kleingefalteten Brief hoch. »Ihr kennt Eure Pflichten, Füchsin: Kein Handeln ohne unser Einverständnis. Bis auf Weiteres werdet Ihr über die Existenz und den Inhalt dieser Depesche schweigen, verstanden?«

»Pardon? Das ist die Botschaft des Mondgottes!«

»Das ist mir ziemlich egal.« Bastien schloss den Brief weg und verstaute den Schlüssel demonstrativ in einer Innentasche. »Ich bin hier, weil ich eine Aufgabe habe. Sale kann sich glücklich schätzen, dass seine Druiden bis heute überlebt haben.«

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