33. Alistair der Friedenswahrer

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»Du bist noch wach?« Tjelvar schloss die Tür zu ihrem gemeinsamen Zimmer im Burgturm. »Es ist mitten in der Nacht.«

»Du bist doch auch noch wach. Hat der gute Generalherzog uns noch weitere freundlich gemeinte Befehle erteilt?« Sie rieb sich die Augen und unterdrückte ein Gähnen, um dann wieder über ihren ersten Ideen für den unliebsamen Stadtrat von Sale zu brüten.

»Nein.« Das Kaminfeuer ihr gegenüber schoss in die Höhe, dass es den Raum ausleuchtete und ihre sehnigen Hände wärmte. Sodann fiel Tjelvar neben ihr aufs Sofa vor dem Tischchen mit Seras Notizen. »Wyatt ist normalerweise ein sehr weltoffener Mensch, der sich nicht so leicht aus der Ruhe bringen lässt.«

»Das habe ich gemerkt.« Sera schrieb Alistairs Namen nieder und sank anschließend in die weichen Rückenpolster. Weil Lucien ihm die Gefühle verdreht hatte?

Wer sagte, dass er das nicht auch bei ihr schon getan hatte?

Mit den Fingern fuhr sie sich durchs sonnengoldene Haar. Löste Knoten um Knoten und starrte nur in die einlullenden, rauchigen Flammen.

Ihr Professor schielte zur Seite, fokussierte aber sogleich wieder das Feuer. »Seit dem Steinbruch beschäftigt dich etwas.«

Ach? Nur, dass er ihr wahrscheinlich nicht glauben würde, wenn sie ihm vom Krähenmann berichtete.

Doch Tjelvar schwieg und legte den Kopf in den Nacken. Atmete mit geschlossenen Lidern tief durch, als gönnte er sich jetzt zum ersten Mal an diesem Tag eine Pause.

»Die Gesetze der Gabenkunde besagen, dass alle Energie Teil eines Kreislaufs ist – sie wird nicht neu erschaffen und sie verschwindet nicht. Darum muss jeder Begabte Energie absorbieren, wenn er beim Freisetzen nicht unbegabt werden will.«

Er drehte sich halb zu ihr.

Dickes, welliges Haar verworr sich um ihre Finger. Mit den Füßen wippte sie einen unruhigeren Takt als das Feuer.

Schließlich sah sie ihm in die Augen.

Tjelvar wich aus. Knetete die Fingerknöchel und erwiderte schließlich ihren Blick. Nicht gleichgültig oder abweisend: Interessiert und wehmütig.

»Denkst du, es sollte so sein, dass Seher anderen die Sinne stehlen können? So, wie Druiden es mit der Lebensenergie tun?«

»Bei genauerer Überlegung liegt das nahe, ja. Alles, was möglich ist, passiert auch irgendwann.«

»Nur warum ist es keine gängige Praxis unter den Sehern? Keine Strafe wäre effektiver als diese – und irgendjemand muss das doch schon ausprobiert haben.« Sie nahm die Hände zurück und massierte die müden Augen.

Tjelvar neigte den Kopf und schien innerlich zu zählen. »Das Einzige, was mir einfiele, wäre die Füchsin.«

»Wie?« Sie starrte ihn an.

»Na ja, sie ist ein Geist des Wissens. Und nach den Gesetzen der Gabenkunde ...«

~✧~

Das Lilientor zu Alistairs Idyll entwand sich, noch ehe Sera der Mutterlilie gegenüberstand.

Saoirse wartete bereits auf sie – die Hände hinterm Rücken, ein Grinsen auf den Lippen und eine verspielte Melodie im Pfeifen. Hier, inmitten all des Schnees, wirkte ihre Haut fast schwarz. »Ich bin beeindruckt. Hast du Réalta so lange mit deinen Spezialangriffen attackiert, dass er jetzt denkt, er ist ein kleiner, glitschiger Frosch und sieht nur noch rot-grün?«

Sera runzelte die Stirn. »Nicht ganz. Ich habe mich unsichtbar gemacht und bin an ihm vorbeigeschlichen.« Wie kam jemand auf solche Ideen?

Aber zumindest hatte Wyatt jetzt wieder einen klaren Kopf und wirkte tatsächlich wie das Auge im Sturm.

»Was führt dich hierher?« Ihre Tasche nahm Sera vor die Brust und schritt erst durchs schmale Tor, anschließend der Druidin nach.

Eishindernisse in der Senke brachen das Sonnenlicht und reflektierten es wie ein glasklarer Spiegel, dass sie die Augen zusammenkneifen musste, bevor sie die Helligkeit mit ihrer Gabe regulierte.

»Die Panthera. Alistair wird die Jungen an mich abgeben, sobald wir Sale verlassen.« Anmutig wie Sera und Lucien damals unterm Pavillon tanzte Saoirse von Stein zu Stein im gefrorenen Bachlauf. Eisblumen zu ihren Füßen ersetzten Seras Sternenrosen im Haar.

Unten sprinteten Quiva und Rory – inzwischen hundsgroß – wie ein sandfarbener und ein kastanienbrauner Blitz durch den eisigen Parkour. Onyxschwarze Krallen bohrten sich in den perfekten Spiegel, rissen sich heraus und hinterließen klaffende Löcher.

Die Druidin drückte Sera einen Stein in die Hand und pfiff die beiden Panthera zu sich.

»Bist du von Sinnen?«, schrie Sera und stolperte zurück, dass sie beinahe auf dem vereisten Grund ausrutschte, hätten zwei Kinderhände sie nicht vorgestoßen.

»Wirf, Féileacán!«

Sie und werfen?

Der Stein knallte auf halber Höhe gegen die erste Rampe.

Ein Schneeschauer regnete auf Sera und Saoirse herab, als die Panthera wie Blitze eine umdrehten und die Horizontale emporsprinteten. Der sandsteinfarbene Panthera sprang im Klettern ab, riss das Maul auf und fing den fallenden Stein.

Der andere Panthera indes landete neben seinem Geschwisterchen mit einer Bewegung wie eine Sprungfeder. Vielleicht zwei Meter von Sera und Saoirse entfernt spielten die beiden nun um den Stein.

»Sind sie nicht niedlich da so im Schnee?«, schwärmte die Druidin und wirbelte mit dem Kopf, dass ihre Borstenzöpfe umherpeitschten.

»Erwartest du darauf eine ehrliche oder eine höfliche Antwort?« Würde Saoirse sie überhaupt decken können, wenn Sera sich hinter ihr vor den kleinen Großkatzen flüchtete?

»Natürlich immer ...« – ihr letztes Wort verlor sich in der Stille und Saoirse blinzelte zweimal mit ihren Bernsteinaugen – »die ehrliche wäre nein, oder?«

Sera zog die Mundwinkel hoch.

»Argh. Na gut.« Die Druidin schüttelte den Kopf, doch schon im nächsten Augenblick war die Enttäuschung der Ernsthaftigkeit gewichen. »Bist du wegen Lucien hier?«

Das auch.

Die Schwarze Katze.

Sera zwang sich zur Ruhe. Ihr Bruder war einer ihrer Anhänger. »Macht es dir etwas aus, wenn ich erst mit Alistair rede?«

»Nein, gar nicht. Lass dir alle Zeit, die du brauchst, Féileacán. Ich werde in jedem Fall da sein.« Milde lächelte Saoirse und wandte sich ihr mit ganzem Körper zu. »Wir alle hoffen und beten doch, solange wir können – obwohl wir die Antwort schon kennen.«

Wie wahr ...

Die Druidin schlenderte an den zankenden Jungen vorbei zu der Großkatze, die reglos unter den kahlen Bäumen lag. Seine stetig hebende wie senkende Flanke von Schneeflocken geziert. Worauf hatte sie gehofft? Wofür gebetet?

An einem der Stützpfeiler der Hartholzhütte saß Hakim im Schneidersitz. Vor ihm wandelte eine Wasserblase stetig ihre Form: Eine Schlange, ein vierbeiniges Tier oder ein Drache – der Wasserteufel erschuf alles.

»Dich mal wieder hier zu sehen. Der Druide hängt die ganze Zeit über seinen Büchern oder bei dem Kind, aber er freut sich vielleicht trotzdem, dass du endlich da bist.« Gleichgültig sah Hakim auf.

»Wie schön, dass es dir besser geht.« Unfreundlicher, undankbarer ›Elf‹!

Von ihrer Position aus stachen die abgesägten Stümpfe seiner geriffelten Hörner zwischen seinen ebenso dunklen, nun gekämmten Haaren hervor. Sand- und kohlefarbene Kreise wie Jahresringe schimmerten hervor.

»Dafür sterbe ich jetzt an Langeweile.«

»Ich halte dich hier nicht fest. Geh doch, wenn es dir so viel lieber ist!« Saß der Teufel hier im tiefsten Winter mit nichts als einem ärmellosen Sommerhemd und kurzer Hose und entblößte seine gebräunte Haut, während er diesen seltsam süßen Duft nach Samt und Sonne verströmte!

»Würde ich gern und mache ich auch. Dein Professor mit den roten Augen: Wo ist er?«

»Was solltest du von ihm wollen?« sie hohnlächelte. Wenigstens würde Tjelvar so nie mit sich reden lassen!

»Eine Antwort, warum er den Roten König im Stich gelassen hat und Mithilfe, seine Fehler wieder gutzumachen. Er wird mich nach Yulth begleiten«, sagte Hakim und erschuf einen Wasserphönix. »Den Weg zurück nach Elysium kann ich nicht mehr gehen. Angeblich ist euer Prinz stattdessen in meiner Heimat gelandet.« Der Teufel zuckte mit den Schultern.

»Du –? Prinz Louis ist ...?« Bitte nicht! Das konnte nicht ... Das durfte nicht ...! »Das ist ein Scherz, oder?«

»Findest du es denn lustig?«

»Sehe ich so aus? Sag, dass du ihn wieder zurückbringen kannst!« Bei der Sonne, deswegen fehlte Erster Prinz Louis seit Monaten?

»Nicht wirklich. Der ist eh schon tot, wie ich Eliyah einschätze. Habt ihr nicht genug andere Menschen, die seinen Platz einnehmen können?«

»Ja, schon, aber ...« Sie raufte sich die Haare. Louis war ein Prinz! »Wie ist das überhaupt passiert?«

Hakim hob seinen linken Unterarm mit dem daumennagelgroßen, nachtschwarzen Knoten darin. »Eliyah hat mir einen ähnlich großen Stein mitgegeben, sollte ich nach Hause wollen. Er sah aus wie der Himmel in Elysium und anscheinend fand euer Prinzchen ihn zu schön, um die Finger davon zu lassen.«

Sera hob ihre Kinnlade wieder an. »Ich gehe zu Alistair.«

Hakim schnaubte nur. »Unwissenheit ist ein Segen, soll Zula mal gesagt haben.«

~✧~

»Alistair?« Sera schloss die Eingangstür hinter sich.

Aus dem Raum, in dem sie einmal geschlafen hatte, erklang Janeks verweintes Brüllen. »Ich will das nicht! Es muss was geben, was wir machen können!«

»Willst du ihm seinen Frieden verweigern, damit du glücklich bist? Janek, ich weiß, dass es weh tut – verdammt weh tut – aber ihn noch länger leiden zu lassen ist genauso grausam«, presste Alistair hervor.

»Das ist mir egal!«, schrie Janek. »Du hast gesagt, wenn ich Arzt werde, kann ich Leben retten!«

Was war denn hier los?

Noch bevor Sera den niedrigen Holzknauf zur Zimmertür greifen konnte, riss Janek sie auf. »Jeanne.« Er tat einen Schritt zurück, hielt den Knauf aber fest. Sein Gesicht tränennass und rot.

»Ist etwas passiert?« Sie blickte vom Elfjährigen zu Alistair weiter hinten im Raum.

Alistairs Augen waren ebenso gequält wie Janeks, doch weder geschwollen noch feucht. »Killian. Er will nicht mehr.«

»Nein, du willst nicht mehr! Du hast ihn aufgegeben!« Janek rannte an Sera vorbei in den Flur und keinen Atemzug später schmetterte die Eingangstür zu. »Ich hasse dich!«, schallte Janek selbst durch die dicken Hartholzwände noch wie ein schriller Pfiff.

Sera sperrte die letzte Kälte des Winters ungläubig aus dem Zimmer. »Du tötest ihn?« Einen langjährigen Freund und Begleiter wie Panthera es sein konnten?

Der Druide sank auf den Stuhl vor seinem Arbeitspult, auf dem ein altes Buch in einer Buchstütze, ruhte. Daneben ein weiteres mit nachtschwarzem Einband und eine Schale gerösteter Nüsse wie Esskastanien. »Du hast ihn doch selbst gesehen: Killian lässt sich vom Schnee berieseln und wartet, dass er von allein stirbt. Er vermisst Niëv und Oshiin.«

Seraphina legte ihre Tasche in die Ecke und nahm gegenüber dem Druiden Platz. War er denn des Wahnes? »Aber Quiva und Rory gehen doch ohnehin bald. Haben sie nicht wenigstens diese letzte Zeit gemeinsam verdient?«

Alistair schloss die Augen und japste. »Natürlich haben sie das – und ich wünsche es mir auch von ganzem Herzen.«

»Aber?«

Der Druide schüttelte den Kopf.

Mit einer Hand strich Sera ihm über die zarte Schulter, während sie seine Worte noch verarbeitete.

Er biss sich auf die Unterlippe. Presste die Hände vors Gesicht. Doch die Schluchzer drangen dennoch zu ihr.

Dass selbst die Stütze von Sale wanken konnte ... Ob Alistair auch fallen würde?

~✧~

Der Karamell in Alistairs Augen sah aus, als würde er jeden Moment zerfließen, aber er bestand darauf, Seraphinas Anliegen zu erfahren.

Also begann sie mit seinem Taschenlehrbuch über die Friedenswahrer. Trotz ihres möglichst begeisterten Dankes nahm er es ohne ein Lächeln und stellte es ins Regal.

»Außerdem möchte ich dich Herzog Wyatt de Côte d'Ambre als Teil des angekündigten Stadtrats vorschlagen. Wenn du daran Interesse hast, brauche ich deinen Fuchskopf und die Urkunden, um sie dem Duc zu zeigen.« Sie faltete die Hände im Schoß. Hoffentlich lehnte er nicht ab.

Doch der Druide erhob sich schwerfällig wieder und brachte eine Brieftasche und eine Schatulle zum Schreibtisch. Während die Brieftasche wirkte, als zerbröckelte sie beim Versuch, sie zu öffnen, war die dunkle Schatulle ein Inbegriff von meisterlicher Handarbeit. An allen vier vertikalen Kanten streckte eine verstaubte Füchsin die Brust hervor. Auf den Flächen indes traf sie zunächst ein Sklavenmädchen, geleitete sie nach Yulth, beobachtete sie bei der Gründung der Universität und wachte schließlich selbst auf dem Sockel im Vorhof über Xandrias Vermächtnis.

Alistair hob den Deckel an der geschnitzten Henne. Auf feinstem, roten Thalast lagen zwei Fuchskopfbroschen. Eine mit den roten Augen des Doctorgrades in Politik und Sozialkunde, eine zweite mit den blauen eines Lizenziaten in Botanik und Medizin.

»Im Jahre neunhundertachtzehn?« Sie starrte Alistair an und jetzt schmunzelte er doch etwas. »Das ist über einhundertfünfzig Jahre her!«

»Stimmt es, dass euch der Zäsurjahrgang noch ein Begriff ist?« Er nahm die rotäugige Brosche in die Hand und ließ das Licht über die erhabenen Gesichtszüge gleiten.

»Sag bloß, du warst damals dabei?« Wer in Xandria hatte nicht davon gehört: Der Jahrgang, in dem mehr als neunzig Prozent aller Anwärter durch den Eignungstest gefallen waren.

Ein Kichern entfuhr Alistair und sein Gesicht entspannte sich. »Und ob. Die Profs hatten uns alle in der Großen Halle zusammengerufen und gesagt, dass der Test für unser Semester aus organisatorischen Gründen entfallen war. Jedem von uns hatten sie einen Bronzeknopf an die Brust gepinnt und uns dann bis zur nächsten Ansprache nach Hause geschickt. Allerdings haben uns die Studenten das Jahr geprüft, weil die Profs der Füchsin zu viele blinde Leuchtkäfer durchgehen lassen hatten. So haben sie manche beim Komasaufen, bei Straßenprügeleien oder Prahlereien erwischt und wirklich nur die bestehen lassen, bei denen sie sich absolut sicher waren. Alle anderen hatten ihre ersten Fuchsköpfe nie erhalten.«

»Sodass neunhundertzwölf gerade einmal zwei Dutzend neue Lehrlinge zugelassen wurden. Seitdem darf jeder Student bei den Eignungstests mitwirken.« Anthelia hatte damals auch bei ihrem Test ausgeholfen und die Suchaktion mitbetreut. Vor allem aber galt sie mit ihrem eingeschlagenen Grinsen schon damals als Schauermärchen.

»Ja.« Alistair lachte und seine Broschen blinkten in wohliger Erinnerung. »Wie oft habe ich mir Streiche an den Neulingen erlaubt, deren Bewältigung unmöglich schien? Einmal sollten sie mir den Thron einer Kröte bringen, ein anderes Mal sollten sie mir sagen, warum die Henne neben der Füchsin steht, und dann sollten sie mir den Namen des Kindes der Nacht nennen.«

»Hm ...« Sera lehnte sich zurück und betrachtete die Henne auf dem Hartholzdeckel. »Es heißt, die Füchsin stellt Weisheit und Anmut dar, während die Henne Chancengleichheit und Demut verkörpert.«

Er schnappte sich eine geröstete Esskastanie und begutachtete sie, während er nickte. »In meinen späteren Jahren wurde die Theorie auch allgemein anerkannt, aber eigentlich weiß niemand, was die Henne da soll. Und die Neulinge meinten noch, sie wäre vielleicht Xandrias Haustier gewesen!« Vor Lachen hielt der Druide sich den Bauch und blinzelte die Tränen weg.

Sera stimmte ins Gelächter ein. Eine Henne als Haustier der gebildetsten Frau von ganz Degun? »Aber sag, welchen Namen trägt das Kind der Nacht? In der unvollendeten Trilogie wird nie auch nur eine Figur benannt.«

Der Druide pustete die letzte Heiterkeit heraus, ehe er die Esskastanie knusperte. »Falsch. Die Originalfassung nennt alle Figuren beim Namen - nur ist die nie veröffentlicht worden. Sylas hat sie einigen Wenigen persönlich anvertraut und eine weitere, namenlose, als erste Auflage herausgebracht.« Er zeigte auf die Bücher auf seinem Pult. »Wie Ihr hier seht, Füchsin, ist dies eines der wenigen Originalstücke, die er hat drucken lassen und eines der noch wenigeren, die zu Yulths Untergang nicht in der Stadt lagen. Hier trägt das Kind der Nacht einen Namen.«

»Wirklich?« Unmöglich! Sie sprang zum aufgeschlagenen Buch im konservatorischen Buchhalter: Schrift so filigran, wie sie nur aus yulthschen Druckerpressen kam und so gewunden, dass es nur Yulis sein konnte.

Die aufgeschlagene Textstelle beschrieb die Szene, in der das Kind der Nacht und ihr Freund das Menschenmädchen fanden, das später zur Königin gekrönt wurde.

»Rena zupfte an seinen weiten Ärmeln und wies zum Bachlauf.

So sprang er leis' wie ein stummer Singschwanz voraus durch den Wald und schließlich die Steine des zarten Wasserfalls herab.

Dort, am Grunde des Gefälles, noch halb im Wasser versunken, lag das rothaarige Menschenkind in regloser Starre.

Rena kniete sich zu ihr und doch war da nichts. Schwarze Finger strichen die roten Haare zuseiten.

Das Mädchen war nicht tot, es schlief nur.«

»Rena«, wiederholte Sera. Wie einer der Sterne im Bild des Phönix. »Diese Fassung hat Sylas auch geschrieben?« Selbst ein Name aus dem Sternbild des Eiswolfes.

»Sternenkundler kommen jetzt ins Grübeln, nicht wahr? Es kann sein, dass Sylas sich einfach an ihnen orientiert hat – schließlich ist er selbst nach einem benannt. Andererseits ...« Alistair zuckte mit den Achseln und bot ihr ebenfalls eine Esskastanie. »Ich glaube, dass wir nicht alles wissen. Dieser Teufel oder Elf oder was auch immer da draußen wirft mit Wissen um sich, das für uns keinen Sinn ergibt. Aber was wäre, wenn die Welt tatsächlich so viel mehr ist als wir begreifen können?«

Pflichtschuldig aß sie die geröstete Esskastanie und hätte sie fast wieder ausgespuckt. Knuspriges, aromatisches Äußeres und wabbelig weiches Inneres. »Beinhaltet deine Originalfassung auch das Buch, das nie geschrieben wurde?«

»Leider nein. Die beiden hier sind die Einzigen, die Sylas je fertiggestellt hat.« Er wies auf das offene Buch und das mit dem blutroten Phönix auf nachtschwarzem Einband daneben. »Vielleicht hätte er seine Hauptfigur doch nicht töten sollen.«

Sie richtete sich wieder auf und ließ die verlockende Schrift zurück. »Hm ... Mir sagt der Gedanke an halb wahnsinnige Gotteskinder am Rande eines Welten vernichtenden Krieges ehrlich gesagt nicht wirklich zu. Außerdem müssten wir die Spuren ihrer Zerstörung sehen können, wenn es sie gäbe.«

Alistair hob eine Braue. »Was glaubst du, warum Yulth untergegangen ist? Warum herrschte dort von einem Tag auf den anderen undurchdringliche Nacht? Und warum wusste Sylas schon Wochen vorher, dass die Nacht kommen würde?«

»Wäre ich ein Wissensgeist wie die Füchsin, könnte ich dir die Antwort vielleicht nennen. So weiß ich nur, dass – sollte die Nacht kommen – es ohnehin nichts zu geben scheint, was wir ihr entgegensetzen können.«

Sie war nie an der heutigen Grenze zu Yulth, aber sie hatte die Spuren der Ewigen Nacht bereits gesehen: Nördlich von Lumista lagen die Niemandslande – lange vor Yulth verschlungen und wieder freigegeben. Ein schwarzer Schatten bedeckte die Oberfläche des Nachtmeeres und wüstentoter Boden ohne Sonn noch Ton dominierte die zerschellten Landmassen.

»Ich glaube, es war wegen Sylas.« Aus den Untiefen eines Regals kramte Alistair eine riesige Schriftrolle hervor und breitete sie auf dem Boden aus. Statt Schrift begrüßte sie ein Bild.

Ein Bild einer verlorenen Kulturmetropole. Ein Bild mit abertausenden hohen, bunten Häusern, die sich zwischen sechs Bergen aneinander schmiegten. Ein Bild, das den Betrachter vom großen Hafenplatz über eine mehrere Wagen breite, Grau und Weiß und Zartgrün gepflasterte Straße zu einem weiteren großen Platz – den Siegesplatz – hin zu einem weißen Schloss auf einem der Berge führte, an dessen höchster Spitze der Zwillingsstein des Sonnentempels von Cor Sole erstrahlte.

Ein Bild von Yulth.

Ein Bild, das nicht gemalt, sondern mit einem Bildstein aufs Papier gebrannt wurde. Detailreicher als je ein Künstler würde malen können und unsagbar wertvoll.

»Weißt du, warum Werke wie dieses hier exakt seit Yulths Fall nicht mehr erstellt werden können? Obwohl wir die Anleitungen zur Herstellung der Bildsteine noch besitzen und obwohl sie früher einmal in ganz Agartha produziert wurden.« Alistair kramte in der nächsten Kiste herum.

»Nein.« Wie ein Kerzenhalter stand sie da und lugte in die Kiste mit kupfern glänzenden Kleinteilen. Die Bücher waren schlicht und ergreifend nicht mehr lesbar. Alles Wissen von Sylas zum Greifen nah und doch auf ewig außer Reichweite.

»Weißt du, warum Sonnensteine wie diese hier nicht mehr produziert werden? Obwohl wir die Modelle aus der yulthschen Zeit noch haben, die Bauanleitungen noch erhalten sind und sie früher ebenfalls in ganz Agartha hergestellt wurden und diese Lampe bis vor vierzig Jahren noch geleuchtet hat.« Der Druide hielt eine Handlaterne mit einem matten, blauen Stein im Glaskörper hoch.

»Nein.« Sie starrte Alistairs historischen Reichtum an. Sonnenlampen waren so rar, dass selbst sie in Cor Sole nur einen einzigen Kronleuchter aus diesen Steinen besaßen!

»Und weißt du, wer all das entworfen hat und damals mit Yulth gestorben ist?« Vorsichtig stellte er die zierliche Laterne auf die Kiste. »Sylas. Vierzig Jahre lang Bürgermeister von Yulth, Entwickler eines beispiellosen politischen Systems, Integrierer der Druiden und aller menschlichen Völker in diese Gesellschaft, Erfinder von Technologien, die Wasser aufwärts strömen ließen, Bilder reproduzierten, tonnenschwere Schiffskräne bewegt hatten – ganz Yulth jede Nacht erstrahlen ließen.« Er wedelte immer bedeutungsschwerer mit den Armen, bis die Spannung verpuffte. »Alles weg! Wie sehr hat meine Mutter noch versucht, sich in Speranx so zu engagieren, wie sie es fast in Yulth getan hätte? Wie oft haben Wissenschaftler von überall versucht, Sylas' Anleitungen zu entziffern? Wie sehr hat Xandria gehofft, Yulth wiederzubeleben? Alles vergebens.«

Yulth konnte nicht rekonstruiert werden. Nicht von Xandria, nicht von den Druiden, nicht von den Historikern. »Yulth ist tot«, murmelte Sera.

»Nein, Knospe.« Alistair sah ihr in die Augen. »Yulth stirbt erst, wenn seine letzten Einwohner die Erinnerungen an die Stadt der tausend Sterne und einer Sonne mit sich ins Grab genommen haben.«

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