35. Tjelvar und der Herr der Welt

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Tjelvar kehrte spät in der Nacht heim. Zu denken, sie hätte schon so lange mit Lucius geredet, dass sie jetzt auch auf ihren Professor warten könnte, war ein Trugschluss. Das erste Morgenrot zeichnete bereits eine feine Linie am Horizont, als die Tür zu ihrer gemeinsamen Stube endlich aufschwang.

Herein kam ein Professor, den Seraphina nicht kannte. Er musste viel getan haben, um die Spuren zu verwischen, doch Sera sah: Sah die geschwollenen Augen, die gerötete Nase, die Bissspuren auf der Unterlippe.

Sofort wieder hellwach, sprang sie auf. »Was ist passiert?« Alles mochte Tjelvars Erscheinungsbild sein, nur nicht normal.

»Geh schlafen. Du hast eine anstrengende Zeit vor dir.« Der bluthaarige Professor widmete ihr keinen Blick – ging in gewohnt ruhiger Manier zu seinem Schlafzimmer.

Was hatte Hakim Tjelvar gesagt? Welche Fehler sollte er wieder gutmachen? »Warum sollst du mit Hakim nach Yulth gehen?«

»Geh schlafen.«

Mehr hatte er nicht zu sagen? Sie starrte ihm nach und schließlich seine Tür an, ehe sie zurück aufs Sofa fiel.

Als ob sie so einfach schlafen könnte.

Draußen strahlte der Silbermond. Selbst mit zugezogenen Vorhängen und mattem Glas sah Sera ihn – sein kristallklares Licht wie eine warme Kerze in der endenden Dunkelheit; seine Aura tausender diamantener Sterne.

Der Wasserteufel hatte Tjelvar bezwungen. Warum? Welchen Fehler konnte Tjelvar begangen haben und wer war der Rote König?

Fragen – so viele Fragen – und nie eine Antwort. Würde Tjelvar es ihr erzählen, wenn sie ihn darauf ansprach? Oder würde er sich dann wieder distanzieren?

Ihr Blick schweifte ab. Zurück durch die glattgetünchten Steinwände und in Tjelvars Zimmer.

Was bedrückte ihn?

Er lag rücklings auf dem Bett. Starrte auf die Phönixbrosche in seiner Hand. Seine Mundwinkel zuckten. Seine Augen glänzten. Er ballte die Faust um den Phönix, bis die roten und goldenen Federn in seine Finger stachen.

Er würde es niemals erfahren, wenn sie in seine Gedanken eindrang.

Und sie wäre, was sie Lucius vorhin noch vorgeworfen hatte.

Aber vielleicht konnte sie ihm helfen! Auf diese Weise ein Gespräch initiieren, bei dem sie ihm zuhörte wie er ihr.

Wie viel schadete ein kleines bisschen auch? Jeder gab immer unwillig Informationen über seine Körpersprache und Mimik preis. Was war ein Moment Gedankenlesen schon dagegen?

Und die Sonne konnte sie nicht sehen.

»Praktisch, nicht wahr?«, fragte die Stimme eines jungen Mannes.

Ihre Hand – Tjelvars Hand – hielt einen silberweißen Metallbarren. Ohne ein Feuer schmolz er, schwebte in der Luft und verformte sich zu einer langen, dünnen Klinge.

»Die alten Wildfeuerelfen haben ihre Schmuckstücke und Waffen auch so geschmiedet. Allerdings brauchten sie noch Gussformen dafür.«

Das glühende Metall nahm eine immer zierlichere Gestalt an, bis es zu einem Stück inklusive Griff schmolz und eine meisterhaft detaillierte Parierstange ausprägte. Aus angedeuteten, geschwungenen Strahlen fielen kleine Sterne auf das Schwertblatt. Darunter stanzte sich ein größerer, vierzackiger Stern durchs Metall hindurch.

»Ihre Magmahallen hätte ich gerne gesehen. Wenn Sylas die Geschichten erzählt, klingen sie wenigstens spannend«, hörte sie Tjelvar lachen und der junge Mann stimmte ein.

Er war glücklich, nicht wahr?

Das Glimmen erlosch und das bildschöne Schwert fiel ihr – Tjelvar – in die Hände.

»Ein gelungenes Geschenk für eine Adelsernennung unter Astras Gnaden.« Ihr Gegenüber stemmte sich auf die Arbeitsplatte hinter ihm und ließ die Füße baumeln.

Die Konturen von jedem einzelnen Stern waren rasiermesserscharf. Wie präzise musste Tjelvar an den Details gearbeitet haben, dass er sich noch immer so genau daran erinnerte? »Die Klinge braucht noch einen guten Schliff und in den Stern kommt Sylas' Speicherstein mit Astras Energie. Dann ist das Schwert fertig.« Sie blickte zum zweiten Sprecher.

Sein Gesicht war wie Wasserfarbe zerlaufen, doch zwei Dinge sah sie taghell: Rote Haare und goldene Augen. Der junge Mann lehnte sich vor – den Schatten eines Lächelns auf den Lippen. »Elin wird sich freuen. Ein Schwert für die neue Familie Aureum.«

Seraphina schreckte zusammen.

Bitte was?

Das konnte nicht sein!

Dieses Schwert gab es nicht. Befand sich nicht im Besitz ihrer Familie – hatte sie nie gesehen!

Aber ...

Elin? Adelsernennung unter Astras Segen?

Sylas, Speichersteine? Yulth?

Allwissender Silbermond, sag, das war nur Fantasie, oder?

Sie rieb sich übers Gesicht. Eigentlich sollte sie sich aus Tjelvars Gedanken heraushalten. Aber alles, was sie bis jetzt gefunden hatte, waren noch mehr Fragen.

Tjelvar kniete auf einem roten Teppich mit unscharfen Goldverzierungen. Die Ärmel und Tunika, die sie aus ihrem Winkel sah, waren von einem saftigen Grün mit goldbesticktem Saum. An Tjelvars rechter Hand glitzerte ein Ring: Eine blutrote Perle, eingefasst in goldene Federn.

Sie nahm das Schwert von eben in beide Hände in die Horizontale. Die Parierstange war zur Perfektion ausgearbeitet und ein vierzackiger Stern thronte mittig darauf - lugte aus der Scheide hervor.

Ihr Blick erhob sich.

Von Halbschuhen – verschlossen mit jeweils einem Bärenzahn. Zu einer weißen Hose. Zu einer blauen Tunika. Zu Schultern und Oberarmen – von weißem Fell bedeckt, das auf Brusthöhe in die Tunika genietet war.

Zu Seras eigenem Gesicht. Eingerahmt in einen straff geflochtenen, sonnengoldenen Zopf.

Die Frau, die nicht sie sein konnte, hob das Schwert und wandte sich zur Seite; zog es und zeigte einer verschwommenen Masse ihr Geschenk: die prächtigste je geschmiedete Waffe. Dort, wo zuvor noch ein sternförmiges Loch klaffte, prangte jetzt ein gläserner Stern.

Tjelvar richtete sich auf und schritt die Stufen in die Menge hinab – einer schlanken Frau mit hellbraunem Teint in die Arme. Der rothaarige, goldäugige junge Mann stand bei ihnen, neben sich einen Jungen, der ebenso von Sonne und Himmel gesegnet war.

Ein Mann in Schneeweiß und Eisblau kam vor die Frau mit Seras Gesicht und sie fiel auf ein Knie und senkte den Kopf. »So sei es denn, dass Elin, die Kriegerprinzessin der nördlichen Schneefänge, und ihr Sohn heute ihren Familiennamen erhalten. Du, die du unter Astras Segen wandelt, hast uns in unserer Stunde der Not beigestanden und mit deinen Fähigkeiten die Stämme von Isdalen bis Ilawa zur Abkehr ihrer Truppen bewegt. Im Namen der Gemeinschaft von Yulth danke ich dir und übergebe dir deinen Namen.«

Der Mann trat einen Schritt neben Elin und wandte sich zur Masse. An Elins Brust leuchtete in weichem Licht ein kleiner Stern. »Möget ihr Yulth auch weiterhin beistehen, so es euch braucht, Elin Aureum und Sol Aureum.«

Elin nahm das Schwert mit der Rechten, hob es steil empor und der Stern verschlang alles in blendend weißem Licht.

Sera hielt sich die Hände vor die Augen und bedeckte ihre Tränen. Ihre Familie – ernannt in der Stadt, die vor etwas über dreihundert Jahren untergegangen war?

Warum erwähnte die Familienchronik keine Elin Aureum? Warum war Sol nach Lumista gegangen, wenn seine Mutter aus dem Norden stammte?

Warum sollte Tjelvar damals zugegen gewesen sein?

Sie wandte ihren Blick wieder ins Freie zum letzten Licht ihrer Mutter, während sie ins Sofa sank.

Wer war Tjelvar wirklich?

~✧~

Als sie Stunden später vom Sofa und aus dem viel zu kurzen Schlaf hochschreckte, hörte sie ein vertrautes Kratzen auf Papier.

Eine Decke umhüllte sie und Wärme lullte sie ein, wieder ins Polster zu sinken. Doch sie gähnte und zwang sich in eine sitzende Position. Die Unterarme auf die Rückenlehne gelegt, beobachtete sie Tjelvar am Schreibpult.

»An wen schreibst du?« Immer wieder fielen ihr die Augen zu, aber sie musste wach bleiben! Wollte dieses grauenhafte Bild des Krähenmannes nicht mehr sehen.

Und sie hätte nie in Tjelvars Gedanken herumstöbern sollen. Einmal von den Dingen, die sie gestern gesehen hatte abgesehen, war es moralisch falsch gewesen.

»An Xandria. Ich werde unsere Mission vorzeitig verlassen und dir die Verantwortung für den Rest übertragen.«

Sera schoss vom Sofa und stand im Zimmer wie eine Palme im Hochgebirge. »Pardon?«

»Du hast schon richtig verstanden.«

»Wegen Hakim und Yulth?« Irgendwie fand sie den Weg zu ihm und starrte auf die Zeilen, ohne sie wirklich zu begreifen. »Können wir reden?«

»Alistair oder Wyatt werden dir ein offenes Ohr sein, wenn du Hilfe brauchst. Niemand sagt, dass du alles allein schultern musst.«

»Als ob ich meine Sorgen einem der fünf Herzöge Mervailles anvertraue! Ich möchte mit dir reden.« Ihre Finger verkrampften ineinander und sie ließ den Kopf hängen. Als ob es nichts gab, was sie für ihn tun konnte – nach allem, was er in Sale für sie getan hatte.

Das Kratzen seines Federkiels verstummte. »Wie kann ich dir helfen?«

Sie sah zu ihm, wie er sich auf dem Stuhl umwandte und einen Arm auf die Lehne legte.

»Erzähl mir vom Roten König. Davon, was in Yulth passiert ist«, sagte sie.

Er verzog die Brauen. Mahlte einen Takt mit den Kiefern. Blickte durchs Fenster nach draußen – nach Yulth. »Welche Bedeutung er tatsächlich innehat, würde dir nichts sagen. Seinetwegen ist Hass nach Yulth gekommen. Dieses lebensmüde Genie hatte gedacht, er könnte die Nacht auch ein zweites Mal besiegen, aber Sylas hatte sich verrechnet.«

Hass? Sylas als Bezwinger der Nacht? Der Rote König als Zielperson? »Der Rote König muss wichtig gewesen sein.«

Tjelvar verzog das Gesicht und schnaubte. »Das ist, was Astra aus ihm gemacht hat.« Er schloss die Augen und legte den Kopf auf seinen Arm.

Astra? Die, unter dessen Segen Sol und Elin Aureum standen? Sie verschränkte die Arme vor der Brust und massierte sich die Ellenbogen, unwissend, was sie tun sollte.

»Er war mein Sohn.«

Sera erstarrte. Ihr ganzes Rückgrat entlang prickelten die Härchen und hinterließen einen eisigen Schauer.

Tjelvar war Vater?

»Wusstet ihr, dass die Nacht Yulths Ende sein würde?« Hatte er versucht, seinen Sohn aufzuhalten? Hatte der sich geweigert? Warum hatte Tjelvar die Katastrophe überlebt? Was war mit seiner Frau passiert?

»Wir hatten es befürchtet. Aber wir wollten an Sylas glauben. Und Kiyan war damals schon nicht mehr er selbst. Astra war nur für deine Blutlinie ein Segen.«

»Dann ... Aber ... Wie wollt ihr dann gegen die Nacht ankommen?«

Ähnlich wie Meister Xanthos schweifte auch Tjelvars Blick nun über ihre Züge – jene, mit denen er sich Elin vorgestellt hatte. In ihren Augen, in ihren Haaren, in ihrer gesamten Haltung verlor er sich, als würde das, was er sah, für immer verschwinden, sobald er sich abwandte.

Doch er tat es.

Und nahm die Feder wieder auf.

»Im Grunde ist es unwichtig für dich. Hakim und ich brechen gegen Mittag auf. Bis dahin werde ich Wyatt über alles informieren.«

Tjelvar schrieb weiter. Wort für Wort.

Und nichts hielt ihn auf.

»Ist es die Toten wirklich wert, dein Leben dafür zu riskieren? Wenn Sylas an der Nacht gescheitert ist, warum sollt dann ausgerechnet ihr beide erfolgreich sein? Was ist mit uns – mit den Lebenden?«

Ließ er sie wirklich allein zurück? Nach all den Veränderungen zwischen ihnen war doch alles nur Fassade?

»Tut mir leid.«

Sie stützte sich aufs Pult. Halb, damit er sie wieder beachtete. Halb, damit ihre Beine nicht einknickten. »Was ist mit Xandrias Erbe? Was ist mit dem der Friedenswahrer? Was ist mit Sols und Elins Erbe? Zählen wir nicht? Alistair. Die Universität. Wyatt. Ich.«

Tjelvar schluckte. Stockte im Schreiben. Sah nicht hoch. Schrieb die nächsten Worte. »Xandria wird wieder ohne mich klarkommen wie früher. Alistair ist längst unabhängig und du« – jetzt hob er den Kopf – »wirst es auch bald sein. Sol hat ohne meine Hilfe eine Dynastie aufgebaut. Du wirst ohne meine Hilfe die nächste Ratsherrin.«

Er unterschrieb den Brief an Xanthos und stempelte ihn ab. Legte ihn auf das bislang nur von ihm unterzeichnete Dokument zur Beendigung ihres Einsatzes in Sale und ein Broschenkästchen daneben: Darin sein Siegelring, eine bronzene Füchsin von Kopf bis Schwanz, einen Fuchskopf mit goldenen Augen und Tjelvars Namen wie Lehrfächern.

»Das ... Das kannst du nicht ... Tjelvar!« Er ließ sie allein. Er ging wirklich! Sie versperrte ihm die Tür.

»Wir alle müssen irgendwann wählen, Seraphina. Ich habe mich lange genug vor meiner Wahl gedrückt.« Der Professor mit der unheimlichen Aura und dem Blutrot in Augen wie Haaren, der Professor vom Herrn der Welt gesegnet – der Mensch, der ihr zugehört hatte, trat vor sie.

»Bitte«, zitterte ihre Stimme.

Tjelvar umarmte sie. »Du hast gute Arbeit geleistet, Seraphina. Den Rest schaffst du auch noch. Und dann solltest du nach Hause gehen. Jemand wie du gehört ins Licht der Sonne, nicht unter den Wahnsinn des Silbermonds.«

»Nein! Bitte, Tjelvar!« Sie krallte sich in seine Lederjacke und hielt den Atem nach Pergament und Tinte an, als könnte sie ihn so festhalten.

Doch er drückte sie an den Schultern weg und nahm ihr tränennasses Gesicht in beide Hände. Er lächelte. Mit der Wärme eines Vaters. »Leb wohl.«

Dann schulterte er seine Taschen und ging.

Ließ Sera allein zurück.

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