36. Janek und der Schatten des Krieges

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Tjelvar ging wirklich.

In Lucius' Umarmung, der die Nacht auf der Burg geblieben war, stand sie an den Zinnen und sah hinunter.

Ihr Professor saß im Fährboot zur Stadt. Stieg dort aus, ging einmal kurz in den Steinschlag und danach durchs Haupttor. Zum Wald.

Zu Hakim.

»Nimm es Tjelvar nicht übel, Seraphina. Sein Weg war bereits vorgewoben.«

Ihr Kopf schnellte zur Füchsin auf den Zinnen, die dem Professor wie sie nachblickte. »Deinetwegen ist es doch überhaupt so weit gekommen. Du wolltest, dass ich Hakim finde und freilasse.«

Lucius lehnte sich vor. »Mit wem redest du?«

Die Füchsin hingegen starrte sie aus goldenen Augen an. »Stimmt. Ich tue dir aber gern im Gegenzug auch einen Gefallen.« Ihre feurige Schwanzspitze zuckte zu einer Felsformation stromabwärts der Flussmündung.

»Mit niemandem.« Sera legte ihren Arm enger um seine Taille und den Kopf zurück an seine Brust.

Unten schlich ein kleiner, schwarzer Punkt zur Felsformation.

»Sieh hin, Seraphina. Und beeile dich.«

Ohne ihr Zutun sah sie glasklar auf diese Distanz.

Janek! Was tat er da?

»Bist du sicher -?«

Sie sprang die nassen, zumindest nicht mehr vereisten Treppenstufen herunter. »Wir müssen in die Stadt. Sofort!«

Die Füchsin als Geist des Wissens? Was wusste sie über Janek?

Obwohl Lucius nach ihr losgesprintet war, stand er vor ihr am Fährboot und half ihr hinein. »Was ist los?«

»Janek.« Sie zeigte zu den Felsen und ließ ihren Bruder sehen - wenn auch unscharf.

Der Junge kletterte empor und kroch zum Abgrund.

»Bei Felans Klauen, was macht er?« Lucius krallte sich in die Bootwand, ehe er den Fährmann anwies, gleich flussabwärts zu fahren.

Sera zitterte am ganzen Leib. Was hatte sie übersehen? Was überhört?

Zwei Hände strichen ihr über die Schultern. »Schaffen's schon rechtzeitig. Sorg nur dafür, dass er uns nicht sieht, Fina.«

Sie nickte und das Boot verschwand für den Kleinen im Vert - wenn er denn überhaupt zu ihnen blicken würde.

Bei erstbester Gelegenheit hielt der Fährmann und Sera und Lucius sprangen ins hüfttiefe Wasser. Eisnadeln zerstachen ihre Beine und die Strömung riss sie beinahe weg. Sie biss sich auf die Unterlippe, unterdrückte einen Aufschrei und watete zum Ufer.

Warum musste immer alles so lange dauern, wenn sie sich beeilen mussten?

Warum bewegten sich ihre Beine nicht schneller?

Janek würde nicht auf sie warten, wenn sie zu langsam waren!

Am Ufer zog Sera sich an den Steinen aus dem Wasser. Lucius an anderer Stelle direkt unter Janek und verharrte dort.

Das Eiswasser perlte ihre braune Hose hinab in ihre Stiefel und machte sie schwer wie Blei.

Fels um Fels zitterten ihre Arme mehr.

Oben klapperten Steine aufeinander und fielen ins Wasser.

Wann hatte sie angefangen, Janek zu übersehen? Erst, als Killians Tod im Raum stand oder schon viel früher? Warum wollte er Arzt werden? Warum hatte er Alistair vorgeworfen, das Leben nicht zu schützen?

Welcher Tod hatte Janek geprägt?

»Janek!«, rief sie mit ihrer zweiten Stimme, die nicht keuchte. Endlich hatte Seraphina den Fuß der schräg aufragenden Formation erreicht.

Nur noch ein bisschen.

»Geh weg!«, schrie Janek. Er drehte sich nicht um. Kroch näher an die Kante. Der Sturz brachte ihm doch nur eisiges Flusswasser und einen reißenden Strom!

Niemals!

Ihr Kratzen auf Stein - ihr Keuchen - verstummte und sie rannte.

Sera verkeilte ihren rechten Arm unter Janeks Achseln, stemmte ihr gesamtes Gewicht auf den rechten Fuß und drehte sich einmal herum.

Janek kreischte, als er auf die Steine schlug und die Formation in den nassen Schutt herunterrollte.

Seraphina stand auf dem Felsen und versperrte dem Lehrling den Weg. Sie schnaufte, ihr Herz polterte und ihre Arme und Beine schlotterten, aber sie hatte es geschafft.

Sie hatte es rechtzeitig geschafft.

»Was weißt du schon, wie das ist, wenn alle sterben!« Janek kauerte auf der Seite zwischen Steinen, Schlamm und Gras und hielt sich die Hüfte.

Eine ganze Menge.

Torkelnd rutschte sie die Felskante zu ihm hinab und fiel dort mit den Knien auf die spitzen Steine. »Dass es deinen Tod nicht auch noch wert ist.«

Die ersten Tränen rannen ihm über die Wangen. Wimmernd drückte er sein Gesicht in den steinchenbewährten Matsch.

Sera trocknete ihre eigenen Augen und rieb ihm über den Rücken. Natürlich kannte sie das Gefühl von Verlusten: Ihre Mutter, gewissermaßen ihr Bruder, Johanna, Marika, Tjelvar.

Sie konnte Namen aufzählen wie er.

»Es ist meine Schuld, dass sie gestorben sind! Wenn ich weg bin, muss niemand mehr sterben.«

»Das ist ni–« Nein.

Zuhören!

Sie richtete seinen Oberkörper auf, wischte ihm den gröbsten Dreck aus dem Gesicht und blickte in diese gequälten olivbraunen Augen. »Warum ist es deine Schuld?«

Seine Lippen bebten. Er schniefte. Umklammerte sich selbst. Krümmte sich. Ließ den Kopf hängen und weinte. »Papa ist in den Krieg gezogen. Mama ist wegen mir verhungert. Lewian wurde wegen mir aufgehängt. Marika hat sich deswegen geopfert. Alle anderen wurden darum vergiftet.«

Lewian war ...?

»Wenn ich nicht da gewesen wäre, wären alle noch am Leben!«

Sera nahm Janek in die Arme. Strich über seinen Kopf und seinen Rücken. Betete, dass er ihr Zittern nicht bemerkte, als sie die von Heilkräutern und bitterer Paste erfüllte Luft einsog.

Arnault hatte keinen zweiten Jungen erwähnt.

»Wieso wurde Lewian deinetwegen aufgehängt?«

»Wir« - er schluckste - »wir wollten die Druiden zusammen ... zusammen befreien und ... in den Wald bringen. Aber der Herzog hat ... hat uns entdeckt. Da habe ich Lewian ... geschubst und bin gerannt. Die Soldaten haben angegriffen und ich ... ich habe mich nur ... versteckt und zugesehen. Ich hätte ihm helfen sollen, aber ...«

Sie blinzelte den Schleier weg und umklammerte den Jungen. Von hinter ihr kletterte Lucius die Felsen hoch.

»Es war meine Idee! Marika wusste es nicht und hat mir geholfen, obwohl ich Lewian getötet habe. Und weil Lewian nicht mehr da war, hat sie das Getreide vergiftet und ist gestorben. Und deswegen sind noch mehr gestorben!«

Ihre Hand fuhr über seinen Rücken. Hinauf und wieder herunter. Hoch und runter.

Lucius setzte sich neben sie und strich Janek durch die Haare.

Ihr fehlten die Worte.

~✧~

»Sie sind alle weg. Mama. Papa. Lewian. Marika. Wann gehst du?« Der kleine Moragi kauerte auf ihrem Schoß - sprach matt und müde, nachdem er jede seiner Tränen vergossen hatte, dass ihm nichts mehr blieb.

Sie hatte ihre Arme um ihn gelegt und ihr Kinn auf seinen Kopf gestützt, während ihr Bruder nach Alistair sehen wollte. »In wenigen Wochen, schätze ich.«

Den Sommer verbrachte sie nicht mehr in Sale.

»Und kommst du wieder?«

Warum musste Janek Fragen stellen, deren Antworten ihnen beiden schmerzte? Sie könnte nicht, so sehr sie auch wollte.

»Also nicht.«

»Ich ... ich weiß es nicht. Das Land, aus dem ich stamme, liegt weit entfernt und - «

»Schon gut. Wir sind zu unbedeutend für andere Länder.«

Nein!

Irgendetwas musste sie doch sagen können! Sie blickte über die kahlen Bäume, das grünbraune Weideland mit den mervaillschen Feldern dahinter und zur Stadtmauer.

»Also gut.« Sie lockerte ihre Umarmung und sah in sein Gesicht, wo Tränenspuren sich durch den Dreck gefressen hatten.

Sollte sie das wirklich tun?

»Es gibt etwas, was ich noch keinem in Sale erzählt habe, und deswegen musst du mir versprechen, dass das unser kleines Geheimnis ist, ja?«

Geschwollene, olivbraune Augen wandten sich zum Fluss, doch Janek nickte.

Seraphina weitete das Lederband ihrer Kette und zeigte ihm Johannas Bernstein. »Jeanne ist nicht mein richtiger Name, sondern der einer alten Freundin. Wenn ich in mein Heimatland zurückkehre, werde ich diesen Namen für immer aufgeben.«

Die eingravierte, spiralförmige Sonne mit ihren Strahlen funkelte fröhlich im matten Tageslicht. Wirkte wie darauf hoffend, ihrer blutigen Vergangenheit zu entkommen und selbst neu anfangen zu dürfen.

»Ich weiß nicht wann, oder gar, ob wir uns wiedersehen, aber wenn, dann wirst du meinen richtigen Namen hören, lange bevor ich hier bin. Dann ist es deine Aufgabe, dich an die Jeanne zu erinnern, die du kennengelernt hast, und mich wiederzuerkennen.«

Janek nahm die Kette in beide Hände, betrachtete sie lange und mit schmalen Lippen. »Ich erkenne dich überall. Solange du nur wiederkommst.«

»Die Sonne steht für einen neuen Morgen«, sagte sie und legte ihre Arme wieder um ihn. »Dafür, dass wir die Nacht überlebt haben und uns jetzt einer besseren Zukunft zuwenden können.«

Vielleicht verfügte sie auch darüber, dass sie sich ein zweites Mal begegneten.

~✧~

»Hier liegt Mama. Wir haben Wegwarten gepflanzt, aber die wachsen erst im Frühling wieder«, erklärte Janek.

Auf dem Friedhofsfeld lagen die Blumen verdorrt und zusammengefallen da. Lediglich einige kleinere hatten ihre Köpfchen neu erhoben und blühten jetzt weiß, gelb oder zartrosa, wo letzten Herbst noch große Blumensträuße dominierten.

»Wir können wiederkommen, wenn alle Frühblüher da sind.« Was immer der junge Lehrling auf dem Boden sah: Für fremde Blicke war es nicht gemacht. Er stand dort und schloss die Augen, atmete tief durch, rieb sich mit den Handballen übers Gesicht und ging weiter.

Vorbei an Lewians verendeter Sonnenblume und Marikas trotzig blühenden Enzianen. Hin zu den anderen beiden auf dem Feld.

Alistair kniete vor einer freigeschaufelten Grube und nahm die Urne von Lucius entgegen. Wie in Trance ließ der Druide die Asche in die Erde rieseln, stellte die Urne ab und streute Samen aus einem kleinen Beutel zu Killians sterblichen Überresten.

Lucius lehnte auf der mitgebrachten Schaufel und beobachtete Alistairs Abschiednehmen.

Als Janek und Sera sie erreichten, schloss der Druide das Loch wieder. Der Gestank nach verbranntem Fleisch und angesengtem Haar hing in der Luft wie eine hämische Krähe, die ihnen drohte.

»Hier haben wir Niëv und Oshiin auch begraben, oder?« Janek hockte sich über die angrenzenden Pflanzen und legte abgestorbene, kleine Sträucher ohne Blüten und etwas, das an Tannenzweige erinnerte, frei.

»Ja. Bald werden Primeln, Rosmarin und Vergissmeinnicht zusammen blühen.« Alistairs Gesicht war ruhig, doch die Fingerknöchel um den Griff der Schaufel durchstachen seine dunkle Haut in hellem Braun.

Wie viele andere Panthera - wie viele Freunde - hatte er in seinem langen Leben schon begraben müssen?

Schließlich japste auch Alistair und hielt sich die Hand über die Augen. Lucius stellte die Urne beiseite und umarmte den so viel kleineren Druiden. Sera tat es ihm gleich - nur bei Janek, der vergeblich versuchte, leise zu weinen.

»Egal, wie viele Freunde ich schon begraben habe, es ist immer dasselbe«, zitterte Alistairs Stimme. »Ich bin ihr Mörder. Ich bin dafür verantwortlich, dass sie tot sind. Obwohl sie mich darum gebeten haben. Jedes Mal wünsche ich mir, das nicht mehr machen zu müssen. Jedes Mal hoffe ich, dass ich bald an der Reihe bin. Ich will nicht mehr allein zurückbleiben!«

Er hätte mit ihren Ururgroßeltern aufwachsen können und war doch immer noch hier, wohingegen sie seit siebenundneunzig Jahren verstorben waren.

War das der Preis für die ewige Jugend?

~✧~

Erst eine Woche später war Alistair bereit, mit Sera, Lucius, Bastien, Wyatt und Stojan zum Steinbruch zu reiten. Die Trauer über Killians Verlust wich krampfhafter Geschäftigkeit, sodass der Druide die Tagesreise über Wyatts Dokumenten brütete oder sich mit dem Herzog über das anstehende, erste Fest der Krähe und der Saat im neuen Jahr austauschte.

Solange er nur nichts fühlen musste.

Sera sah zu seinen beiden auf Hochglanz polierten Fuchsbroschen, die er widerwillig angesteckt hatte. Janek war besser darin, seine Gefühle auszudrücken: Die letzten Tage hatten sie viel miteinander geredet; von ihren Familien, Verlusten und schönsten Erinnerungen erzählt. Natürlich auch, was Janeks Eltern - was Lewian und Marika - sich für ihn gewünscht hätten.

Und auch, was Seraphinas Mutter gewollt hätte. Wie Ihr Vater hätte handeln sollen, nachdem sie verstorben war.

Jedes Mal, wenn sie dachte, die alten Wunden endlich überwunden zu haben, drückte jemand anderes auf sie und der Eiter quoll nur so heraus. Irgendwann stand noch ein ehrliches und unbarmherziges Gespräch mit ihrem Vater und Quentin an.

»Geht's dir gut?« Lucius' Pferd schritt neben ihrem. Ob er auch mit ihrem Vater abrechnen wollte, wenn er ihn wiedersah?

Sie blickte seine feinen Flechtreihen bis zur Schulter entlang. Zu seinem im untergehenden Sonnenlicht schimmernden Smaragdtropfen und schließlich ihm in die Augen. »Hast du dich je gefragt, warum Vater dich hat überleben lassen? Ob er wollte, dass du lebst? Ob es vielleicht gar Mutters letzter Wille war?«

Ihr Bruder blinzelte, starrte kurz auf ihren reglos gebliebenen Mund, ehe er sich der Silhouette des Mondes zuwandte. »Welchen Unterschied macht das noch? Wenn unser Vater mich hätte töten wollen, hätte er die Möglichkeit gehabt.«

»Sobald wir wieder zu Hause sind, möchte ich gern mit ihm und Quentin über alles reden und die Wahrheit erfahren.« Ob ihre Mutter heute Nacht leuchtete?

»Bin auch gespannt, was sie sagen werden, wenn sie mich wiedersehen.«

Tatsächlich schien ihre Mutter, als die Sonne ihre letzten Strahlen nach Agartha sandte.

~✧~

Ihre bunte Karawane erreichte den holzummauerten Steinbruch in der ersten Dunkelheit. Noch bevor jeder vom Pferd gestiegen war, stand Stojan schon vorm inneren Tor und blaffte, man solle ihn durchlassen.

»Nichts da, mein Guter.« Im Gegensatz zu Arnaults Teil des Bataillons stand Nolann mit verschränkten Armen am Tor, als redete er mit einem nervigen Kleinkind.

»Du hier? Wurdest du nicht gefeuert?« Der Moragi baute sich auf, dass er selbst den ehemaligen Kommandanten überragte.

»Ich hier, ganz richtig. Und jetzt geh weiter. Einlass ist morgen Früh.« Nolann scheuchte Stojan mit einer knappen Geste weg und ignorierte ihn dann.

»Sie haben Euch also tatsächlich hier aufgenommen«, grüßte Sera den in Zivil gekleideten Mervailler.

Nolann deutete eine Verbeugung an. »Bis das dreizehnte Bataillon aus Sale abgezogen wird, helfe ich noch aus. Danach muss ich sehen, was aus einem Krüppel wie mir werden kann«, seufzte er. »Ich sollte mich nicht beschweren. Schließlich hätte es schlimmer kommen können.«

»Wohl wahr.« Sie lächelte. Zumindest einer war dem Scheiterhaufen bereits entflohen.

Der andere tanzte noch überm Feuer.

Sie nickte Nolann einen Abschied zu und folgte ihrem Bruder und Alistair in eines der Rundhäuser.

In das, in welchem Arnault sie damals verhört hatte.

Der Soldat, der den Steinbruch stellvertretend für Arnault leitete - Jerome, erinnerte sie sich an sein unschuldiges Tätscheln - beschrieb Alistair den Weg zum Zimmer seines Vorgesetzten. Unter der Erklärung, Sera und Lucius als seine ›Assistenten‹ für die medizinische Untersuchung zu benötigen, ließen sie die anderen bei ihrer Besprechung allein.

Ihr Ziel war, Alistairs Bedingung zu erfüllen.

»Bereit?« Alistair legte die Hand auf den Türknauf zu Arnaults Zimmer.

Nein. »Dafür sind wir hergekommen.«

»Können noch 'n Moment warten.« Lucius verschränkte die Finger hinter dem Kopf. »Der rechnet eh nicht mit uns.«

Wusste er, wann sie log? Seraphina richtete sich gerade auf. Wischte ihre schweißnassen Hände an der Hose trocken. Atmete durch. »Ich möchte es gern hinter mich bringen.«

Also öffnete Alistair die Tür und betrat einen nachtdunklen Raum.

»Sind sich echt jede Kerze zu schade, hm?« Ihr Bruder nahm einen der Kerzenständer auf dem kleinen Flur mit sich ins Zimmer und stellte ihn neben Arnaults Bett an die Wand. »Andrerseits stört's ihn ja auch nicht mehr.«

»Bis jetzt nicht mehr.« Alistair funkelte Sera an und sie wurde stocksteif.

Weil Arnault heute Nacht wieder sehen würde.

Seraphina stakste näher ans Bett, auf dem der junge Soldat lag. Still und stumm. Ihnen den Rücken zugewandt. Der früher sorgfältig gestutzte Bart war zu einem wirren Vollbart herangewuchert. Die einst zurückgekämmten Haare verknotet.

Der Druide setzte sich auf die Kante des schmalen Betts und sofort schoss Arnault herum; tastete nach seinem Besucher. Alistair schloss beide Hände um seine Rechte.

Die Hand, mit der er Lewian gefoltert hatte. Die Hand, mit der er ihm den Strick übergezogen hatte.

Vorsichtig richtete Arnault sich auf und setzte sich an die Wand zum Kopfende. Wartete.

Darauf, dass Seraphina ihr Urteil zurücknahm.

Sie schluckte. Diesen Mann sollte sie freisprechen? Von etwas, das er sehr wohl begangen hatte.

»Weißt du, was wahre Stärke ausmacht, Knospe?« Alistair konzentrierte sich auf Arnaults lautloses Schmatzen, als wollte dieser etwas sagen. »Seinen eigenen Hass zu überwinden und sich seinen Abgründen zu stellen. Nur weil ich töten kann, heißt es nicht, dass ich töten werde.«

Sie ballte die Hände zu Fäusten. Wäre sie eine Druidin, hätte sie nicht die Möglichkeit, jetzt hier zu stehen und ihre Taten zu überdenken.

Auf Arnaults Schreibpult an der gegenüberliegenden Wand sitzend, nickte Lucius ihr zu. Ihre Absicherung, dass Arnault später auch meinte, was er hoffentlich sagte.

So schloss Seraphina die Augen und bündelte den Teil ihrer Energien, der rechtmäßig Arnault gehörte. Ihre Fühler fanden seine leeren Fixpunkte und sie sah wieder hin.

Der Mann, der Mörder, der Soldat, den nicht nur Nolann, sondern auch Tjelvar ausgewählt hatte. Der Aufseher, der vollkommen rational verhörte. Die Stimme, die am schlimmsten war, wenn sie über Foltergeschichten plauderte.

Der Henker, der seine Vergebung nicht verdient hatte.

Der zukünftige Kommandant der Stadtwache von Sale, für den sie ihren eigenen Schatten blenden musste.

Der Grund, weshalb Marika sich opferte. Weshalb Janek sterben wollte.

Der Mensch, der seine Gefangenen würdig behandelt hatte.

Seraphina leitete ihre gestohlene Energie in ihn zurück. Sie musste Arnault nicht mögen, musste nicht mit ihm auskommen. Bald sah sie ihn niemals wieder.

Arnaults sandgesprenkelte Augen fokussierten zuallererst Alistair und verharrten Momente wie eine Ewigkeit auf ihm, ehe sie weitersprangen. Zu Sera.

Sie wich einen Schritt zurück, dann zwei - sah Arnault nicht an. Ihr Bruder auf dem Pult legte einen schützenden Arm um sie. Der Mervailler war schuldig! Egal, wie krankhaft oft Druiden vergeben konnten.

»Willkommen zurück, Aufseher«, sagte Alistair und Arnault riss den Kopf wieder zu ihm.

»Wie ...?« Seine Hand löste sich aus dem Griff des Druiden. Er fasste sich an die Ohren, als wären sie es gewesen, die ihm die letzten drei Monate fehlten. Fasste sich an den Mund, den Sera nie zugenäht hatte; hielt sich die Hände vor die Augen. »Warum ...?«

Alistair wandte den Kopf zu Sera.

Jetzt starrte Arnault sie wieder an.

Mit den Augen, mit denen er verkündet hatte, sie in die Nacht zu treiben.

Mit dem Ausdruck, mit dem er begriff, wen er foltern ließ.

Sie presste sich weiter in Lucius' Arme. Krähen und die Nacht hatte sie ihm versprochen, nicht die Erlösung!

»Wundervoll. Dann ist das letzte Bisschen jetzt ja auch behoben.«

Sera schrie auf und sprang von der Füchsin neben ihr weg. Wie viel mehr wollte der Geist von Xandria ihr noch antun?

»Was ist?«, fragte Alistair und starrte in ihre Richtung.

Die Füchsin seufzte und schüttelte den Kopf. Dann blickte sie Sera mit fast schon menschlicher Regung an - mit Mitleid. »Tjelvar wünscht dir und deinem Bruder alles Gute auf dieser Welt. Er hätte dir gern noch gesagt, dass ihm sein Verhalten in der Universität leid tut.«

»Sein ... Er hätte? Was -?« Lucius hinter ihr hielt sie fest, als sie im Begriff war, auf die Knie zu sinken. Dieser nachtverdammte Teufel hatte Tjelvar in den Tod geführt?

Ein Nicken der Füchsin. »Er hat sein Ziel erreicht. Sein Webstück ist vollbracht und sein Faden wird in neue Geschichten verwoben: der Geschichte vom vierten Anfang. Bald. Leb wohl, Seraphina.« Damit erhob sich die feurige Füchsin und schritt durch die Tür.

»Was ist mit der Tür?« Alistair sprang auf und öffnete sie. Steckte den Kopf hindurch, nur um Sera noch verwirrter anzusehen. Dann blinzelte er zweimal und blickte durch den Raum. »Warum genau sind wir eigentlich hier? Wegen Kopfschmerzen braucht man doch keinen Druiden, Aufseher.«

»Entschuldigt.« Der massierte sich die Schläfen, zuckte mit seinen Augen aber genauso fragend zu allen Anwesenden.

Sera inspizierte den ungepflegten Aufseher. Immerhin mussten es ziemlich starke Kopfschmerzen gewesen sein.

Aber irgendetwas stimmte nicht.

Es war nicht Arnault. Der sah zu stark mitgenommen aus. Alistair traute sie vieles zu, aber dieses Gefühl hätte selbst er nicht erzeugen können.

Und Lucius?

Er musterte die Gesichter jedes einzelnen, als würde er durch blindes Glas zu lesen versuchen. Und als sich ihre Blicke trafen, lag Ratlosigkeit in seinem.

Mitsamt Angst und einer Warnung.

Sera trat einen Schritt zurück. Irgendetwas stimmte ganz und gar nicht. Jeder wusste das. Keiner wusste, was.

Dieser Steinbruch.

Dieser Mann.

Sie stürmte aus dem Zimmer. Die Treppe hinunter und aus dem Haus.

Alles so, wie sie es vor drei Monaten bei ihrem erfolgreichen Ausspähen auch gesehen hatte.

Was beunruhigte sie dann so?

»Braucht Ihr etwas, Füchsin?« Nolann zog die Brauen zusammen und stieß sich vom inneren Tor ab. »Ihr seht blass aus. Geht es Euch gut?«

Ob es ihr gut ging? Nein!

Aber warum war sie so aufgewühlt? Hier war nichts Ungewöhnliches.

Die Höhle zwischen den beiden Mauern fesselte ihre Aufmerksamkeit. Hatte sie die beim letzten Mal auch schon gesehen?

»Keine Sorge, Füchsin.« Der ehemalige Kommandant nickte in Richtung der Höhle. »Arnault hat schon lange keine vermeintlichen Spione mehr im Umland abgefangen. Abgesehen von einem ziemlich seltsam missglückten Schmiedeunfall stehen die Zellen seit fünf Monaten leer.«

»Ja.« Ihre Schultern entspannten sich. Besser war das.

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