4. Willkommen in Sale

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Gefoltert und misshandelt lag das gefallene Morag auf der anderen Seite des Flusses. Der Landstrich vor ihnen – seiner dichten Wälder wegen als Grüner Gürtel bekannt – war zerfurcht und die Leichen der dicken Bäume am noch bemoosten Wegesrand gestapelt. Wie ein Trichter wurde die Schneise schmaler, je weiter Tjelvar und Sera ihr und dem Trupp in den Wald folgten.

Unter den Hufen ihrer Pferde brachen bei jedem Schritt Äste, knisterten Blätter, Nadeln oder Zapfen. Feuerrot stachen zerplatzte Beeren aus dem Gehölz hervor und ein modriger Holzgeruch hatte sich in der Windstille verfangen. Auch hier war der Gesang der Vögel verstummt.

Für Mervaille war der Grüne Gürtel eine Schatzkammer mit bitterem Beigeschmack. Das Holz der Bäume war robust und flexibel, doch der Wald wehrte sich genau wie jener im Süden. Die Rekruten des Zweiten Prinzen kannten die Gefahren von Wäldern nicht mehr. Giftige Pflanzen und wilde Tiere waren für sie nur noch Märchen.

Einer der Kavalleristen aus dem Blutwald hielt diese Wälder dennoch für friedlicher als die der Druiden: Hier existierten keine Schlingpflanzen, keine unheilbaren Krankheiten und vor allem keine Panthera – die Schrecken ganzer Bataillone. Die gefährlichsten Tiere hier waren Wildschweine, wie das, was gerade im Nachtlager vor den Zelten über dem Feuer briet.

Nach zwei Tagen marschierte der Trupp weiter gen Norden und Tjelvar und sie verabschiedeten sich – ritten nach Nordwesten. Ihr Ziel lag im nördlichen Teil des Grünen Gürtels, nicht an der Front in den Steppen vor den Bergen.

~✧~

Das Kloster des Mondgottes im Lehen Sale zur nächtlichen Rast zu nutzen, war der letzte Rat der Logistiker. Auf einem Hügel thronend, würden nicht einmal die Rebellen einen Angriff wagen.

Wie ein Leuchtfeuer ragten die weißen Mauern unter den Rankpflanzen und über den Laub- wie Nadelbäumen empor. Der örtliche Priester Michel – der bestimmt schon siebzig Sommer gesehen hatte – fuhr sich mit großen, wachen Augen durch den lockigen Vollbart, bot ihnen aber sofort ein Nachtlager. Sein Gewand – sogar noch weißer als seine letzten Wölkchen Haare hinter seinen Ohren – wehte lautlos über die Schieferplatten im Gebäude, als er sie durch die Gänge führte. Lediglich sein rotes Gürtelband raschelte im Takt seiner Schritte.

»Ich war überrascht, dass König Philippe das Hilfegesuch eines kleinen Lehens bewilligt hat. Noch mehr, dass Xandria dem Ruf gefolgt ist.« Der Priester öffnete die Türen vor ihnen und der Duft von Kräutern und Bienenwachs erfüllte die Luft.

»Solange wir das nötige Personal haben, helfen wir jedem, der uns darum bittet. Selbstredend ausschließlich, um Frieden aufzubauen oder zu erhalten«, sagte Tjelvar und überließ Sera den Vortritt.

Sie betrat den Speisesaal. An einer langen Tafel saßen ein Dutzend Mönche und Nonnen und aßen graubraune Klöße mit weißen bis gelben Gemüsestiften. Kurz sahen sie auf und nickten zur Begrüßung.

»Ihr werdet hungrig sein, weitgereiste Füchse. Nehmt Platz, bedient Euch und lasst Euch nicht von den fremden Gerichten verunsichern. Dieses Kloster stand vor dem Krieg unter dem Schutz der Mutter.« Michel wies auf die freien Plätze vor der durch die Kerzenständer orange erleuchteten Steinwand.

Sera entspannte sich. Er war unwissentlich großzügig: Ohne Tageslicht brauchte sie eine andere Quelle in der Nähe, um ihre Tarnung durch ihre Gabe aufrechtzuerhalten. Auch wenn sie dieses Licht nur sparsam aufnehmen durfte, um unauffällig zu bleiben.

»Habt vielen Dank, Priester.« Sie faltete die Hände und schloss die Augen, ehe sie sich setzte und ihre eigenen Klöße begutachtete.

Erst nach der Kurzen Mondmesse verließ Sera die zur Kirche umfunktionierte, ovale Lagerhalle und trat in den Klosterhof hinaus. So neugierig sie auf Michels Berichte über ihr zukünftiges Einsatzgebiet war, so sehr pochten ihre Schläfen vor Anstrengung, ihre Gabe von morgens bis abends zu nutzen.

Morgen würde ihre fast einmonatige Reise enden.

Welche Menschen erwarteten sie in Sale? Würden sie tatsächlich auf Widerstandskämpfer treffen? Wie viele starben diesmal?

Die Härchen auf ihren Armen prickelten. Dabei war es doch gar nicht so kalt.

Oder –?

Der Hof lag verlassen da. Das Gras wogte in dunklen Wellen, wenn ein Lufthauch vorbeizog und Tannenduft mit sich brachte. Ein paar Grillen zirpten die immer gleiche Melodie und von der Klostermauer huschte ein Igel hinter einem Handwagen entlang.

Nein.

Er huschte im Halbkreis darum.

Sera hielt den Atem an. Raschelte da gerade Stoff an Holz?

Mitten in der Nacht im Nutzgarten eines ummauerten Klosters?

Atmen! Sie musste die Schultern entspannen und langsam zum Hauptgebäude gehen. Die Stufen hinauf, durch die Tür, den Riegel vorschieben.

Jetzt durfte sie zittern.

Im Kloster war noch jemand anderes als nur die Gläubigen!

Warteten die Moragi im Lehen bereits auf sie, um sie in Geiselhaft gegen Mervaille zu nehmen?

Seraphina schloss die Augen und richtete ihren Blick nach draußen. Immer näher an den Handwagen und zumindest so hell, dass sie dunkle Farben erkannte. Bis sich eine Silhouette im Silbermondlicht regte.

Ein junger Mann mit sonnengoldenem Haar und himmelblauen Augen. Dem untrüglichen Beweis.

Die Finsternis des Gangs um sie herum.

Unmöglich!

Sie eilte in ihr Zimmer, blinzelte die Tränen weg, drehte den schweren Schlüssel im Schloss und sank aufs Bett. Ihr Vater würde sie tadeln, sähe er sie jetzt! Sie überanstrengte ihre Gabe eindeutig zu sehr.

~✧~

Jemand hatte sie gefunden. Jemand, der ihr übel mitspielte. Sera spürte die Blicke wie gespannte Armbrüste in ihrem Rücken, als sie dem Pfad weiter durch den Wald folgten.

Spätestens seit der Hungerrebellion lauschte sie. Wälder gehörten zu den bevorzugten Orten für Hinterhalte. Und es war eindeutig zu still.

Noch am Tag zuvor zwitscherten Vögel, raschelten Eichhörnchen, sprang größeres wie kleineres Wild. Jetzt zwitscherten nur noch die Vögel.

Seraphina kannte diese Stille. Etwas vertrieb die Tiere. Wenn es weder ein Waldbrand noch eine andersartige Naturkatastrophe war, blieb nur eine menschliche Ursache.

Sie lauschte weiter. Verstärkte den Klang, der ihre Ohren erreichte. Unterdrückte das Poltern ihres Herzens.

Am Rande ihrer Wahrnehmung streifte etwas dunstbeperltes Gras. Grober Stoff rieb an grobem Stoff; rieb an Leder, rieb an Holz. Die vielen Atemzüge waren zu langsam für Tiere.

»Wir werden verfolgt«, warnte sie ihren Professor telepathisch.

Stoff scheuerte.

»Ich weiß. Ihren Bewegungen nach sieben Bewaffnete«, dachte er zur Antwort.

Helles Klappern von Holz auf Holz.

»Woher –?«

Ein Surren.

Etwas Dünnes schoss an ihrer Nase vorbei.

Ihr Pferd wieherte. Bäumte sich auf. Sie packte die Mähne. Verlor Halt in ihren Steigbügeln. Das Pferd riss sie fast aus dem Sattel. Die Mähne rutschte ihr aus den Händen. Sie klammerte sich um den Hals. Ihr Schrei vermischte sich mit dem ihrer Stute.

Ein weiteres Geschoss prallte in einen Baum.

Das nächste flog irgendwo in den Wald.

Ihre Stute tänzelte, warf den Kopf hoch und protestierte gegen Seras zitternde Hände um ihren Hals.

Sie wusste es: Sie hätten nie in den Wald gehen sollen! Nie ohne voll bewaffneten Begleitschutz reisen dürfen!

Sie hätte Xandria nie verlassen dürfen. Die hohen, dicken Mauern. Die schutzbietende Stadt.

Jetzt schlachteten die Moragi sie ab wie ihre Sonnenwache! Rammte ihnen Mistgabeln in den Bauch und Bolzen in die Brust.

Jetzt –

»An eurer Zielgenauigkeit müsst ihr aber noch arbeiten!«, rief Tjelvar.

Der nächste Bolzen schoss auf seinen Kopf zu, aber – er schoss vorbei?

Nein, er beschrieb einen Bogen über seinem roten Haar. Er ... wurde abgelenkt?

»Dafür, dass ihr aufs Geratewohl schießt, seid ihr ziemlich mutig für einen Überfall!«

Sera sah sich um. Jeder der Bolzen hatte sein Ziel verfehlt. Der Schussbahn nach jeder nur um Millimeter.

Ihre Augen scharf wie ein Fernglas, durchblickte sie die Bäume und suchte die Umgebung von oben ab.

Ein Schütze links von ihnen im Gebüsch, zwei mit Axt und Langmessern bei ihm. Zwei Schützen auf der anderen Seite hinter einem umgestürzten Baumstamm, einer mit einem Speer und der vierte mit Axt.

Alle starrten sie zu ihnen. Der Speerträger rang mit einem Schützen um seine Armbrust. Auf der linken Seite schien der Schütze zu beteuern, dass er sehr wohl zielen konnte, aber trotzdem nicht traf.

Auf die wenigen Meter mehr als verdächtig.

Noch ein Bolzen zischte an ihr vorbei. Wieder nur um Fingerbreite.

Zweimal ertönte eine gemimte Eule.

Knacken, Rascheln, Klappern. Die Angreifer flüchteten in beide Richtungen.

»Was ...?« Seras befreite ihre Stute aus ihrer Umklammerung und hob den Kopf. »Was war das?«

Tiefenentspannt saß der Professor im Sattel und sah sie mit blutroten Augen an. »Das, was Luan mit ›gefährlicher als ich aussehe‹ gemeint hat.«

»Aber ...« Ihr stand der Mund offen. Das ergab keinen Sinn! Niemand konnte die materielle Ebene beeinflussen – nicht einmal Begabte!

»Lass uns gehen. Die überlegen sich nächstes Mal genauer, ob sie wirklich angreifen.« Tjelvar trieb sein Pferd wieder an.

Aber ...!

Es gab Seher wie sie, Druiden und Langlebige, Wissende und Anhänger der Schwarzen Katze. Keiner von ihnen war zu ... dem da ... fähig.

»Tjelvar?«

»Hm?«

»Das ist eine ziemlich sinnfreie Frage, aber gibt es Magier?«

Er blickte zu ihr, legte einen Finger auf die Lippen und hob nickend die Brauen. Ein stilles Gespräch also. »Sinnfreie Fragen hätten nur früher gestellt werden sollen. Was denkst du denn?«

»Die Bolzen haben einen Bogen beschrieben – und das sollte nicht möglich sein.«

Der Professor legte den Kopf in den Nacken. Seine Mundwinkel zuckten in die Höhe. »Was sagt dir diese Erkenntnis also?«

Sie mahlte mit den Zähnen. Musste sie es aus ihm herausquetschen? »Dass du etwas beherrscht, was im gemeingültigen Kanon nicht existiert.«

»Wohl eher, dass euer gemeingültiger Kanon fehlerhaft ist.«

Der gemeingültige Kanon, der schon seit dem ersten Morgen nach der Langen Nacht existierte? Sie betrachtete ihre vom Zerren geröteten Finger. »Willst du mich jetzt auch glauben lassen, dass die Schwarze Katze tatsächlich im Perlenmeer begraben liegt?«

Er runzelte die Stirn in ihre Richtung. »Nein. Allerdings will ich dich darum bitten, das andere Geheimnis für dich zu behalten. Ich will nicht wissen, wer alles durchdreht, wenn das bekannt wird.«

Sie zog eine Augenbraue hoch. »Natürlich.« Wer sollte ihr diese Geschichte schon glauben?

Zu beiden Seiten stapelten sich die ersten gefällten Baumstämme längs ihrer klagenden Stümpfe – erlaubten mehr und mehr Blicke auf eine verschlafene Aue vor den ersten Ausläufern des Drachenschuppengebirges.

Über einer breiten Flussmündung ragte eine aus dem Stein der Klippen gehauene Burg mit pastellgelben Mauern und erdbeerroten Dächern hervor – herrschte über die Siedlung am vordersten Flusslauf wie der Sonnentempel über Cor Sole. Nicht erhaben oder majestätisch wie der Tempel, doch dominant und unantastbar.

Demgegenüber unterwarfen sich die Ähren zu ihrer Linken und ließen den Wind über sich hinweg peitschen, der die feuchte Luft wie eine Warnung von der Burg zu Tjelvar und Seraphina trug. Die Unebenheiten von frisch gerodetem Waldboden verdeckte das Ährenmeer allerdings nicht.

Rechts von ihnen erstreckte sich ein Kreis noch grünen Weizens – von verschlammten Gräben eingerahmt und in sechs Bereiche unterteilt. Im Zentrum des Kreises befand sich ein sandiger Platz mit nachtschwarzem Kohlebecken. Vom Platz zweigte ein Weg parallel zu einem der Gräben zum Fluss und ein zweiter zur ummauerten Siedlung. Das einzige, was hier blühte, war das sechste Feld mit gelben Blumen.

Ihr Weg indes führte zu einem weiß-braunen Fachwerkhaus vor dem eingerissenen Haupttor. Eine Handvoll Menschen reparierte die zerstörte Steinmauer, aber die Schäden erstreckten sich durch fast ein Drittel der Rundhäuser im Inneren.

»Das ist nicht die Stadt, die wir suchen, oder?« Sera atmete aus, als die Sonne sie wieder erreichte. Die letzten Tage musste sie ihre Energie sparsamer nutzen als noch im lichtdurchfluteten Mervaille.

»Doch. Wir sind angekommen.« Tjelvar wies zum Fluss. »Dort mündet die Savage in den Vert. Für den mervaillschen Handel sind beide Flüsse unabdingbar und beliefern seit jeher den nördlichen Teil des Landes mit Rohstoffen.«

»Ich hatte mir die Stadt Sale ... größer vorgestellt.« Mehr als tausend Einwohner konnten die Häuser vor ihnen unmöglich beherbergen – wären sie alle intakt.

»Entscheidend für Sale und unseren Auftrag ist nicht die Größe, sondern die strategische Lage.«

Seraphina legte den Kopf schief. Die strategische Lage, die diese kleine Siedlung nicht einmal ausnutzte? »Dazu bräuchten sie aber mindestens einen zweiten Stadtteil auf der anderen Seite der Flussmündung.«

»So sieht's aus, Reisende. Eure Namen, den Grund eurer Durchreise und euren Zielort.« Ein Soldat mit weiß-rotem Waffenrock und Hellebarde sah unter seinem Helm zu ihnen auf.

Ihr Professor beugte sich zur Seite und musterte den Mervailler.

Dieser starrte zurück.

Langsam runzelte Tjelvar die Stirn.

Mit offenem Mund zuckte der Blick des Soldaten zu Sera.

Manieren hatten die Mervailler inzwischen auch abgelegt, wie? Sie richtete ihren Rücken kerzengerade auf, legte die Hände mit den Zügeln in den Schoß und hielt das Gesicht reglos wie Stein.

Der Soldat räusperte sich. »Bitte.«

Tjelvar nickte. Er nahm die Brieftasche aus einer seiner Satteltaschen und zeigte ihm die von Meister Xanthos unterzeichnete und gestempelte Einverständniserklärung. »Wir sind die Füchse, die König Philippe im Namen des Kommandanten Nolann und Stadtgrafen Bastien Boucher von Sale erbeten hat.«

Die Hellebarde fiel dem Soldaten fiel fast zu Boden. 

»Der Mondgott möge mir verzeihen!« Er faltete die Hände und senkte den Kopf, ehe er sich umdrehte und ihnen zum Folgen winkte. »Das ist unsere Kaserne. Der Kommandant hat sicher nichts dagegen, Euch willkommen zu heißen und etwas zu essen zu geben, solange er noch in der Stadt ist. Letzte Nacht haben die Barbaren wieder ein Lagerhaus geplündert.«

Ein anderer Soldat in der Pause löste die Torwache ab und leitete die Füchse ins Innere. Kerzenständer und Wandleuchter im einheitlich weiß verputzten Speisesaal warteten bereits durch die hornbeschichteten Fenster auf die Dunkelheit.

Sie seufzte. Die Zeit des Luxus und der Farbenpracht war vorbei. Morag hatte nie eine Infrastruktur wie die südlichen Länder besessen, die Handel und Geld in die Staatskassen spülte. Folglich fehlte es hier selbst an Druckerpressen, nächtlicher Beleuchtung wie in Speranx oder Lumista oder gar der Möglichkeit, das ganze Land von einem einzigen Herrschersitz aus zu regieren.

Aber wenigstens waren sie jetzt angekommen. Sera setzte sich Tjelvar gegenüber an die verlassene Tafel. Keine schweigsamen Reisetage mehr. Dafür ein kriegszerrüttetes Lehen.

Eine Frau mit ersten Fältchen im Gesicht brachte ihnen ein Tablett mit zwei Krügen und einer Tonkaraffe. Süße wie von einer Schokoladentorte kroch Sera in die Nase, dass sie husten musste.

Die Dame gluckste. »Die Moragi nennen es Honigblütensaft. Er stärkt die müden Glieder, aber er riecht ziemlich stark. Ich hole schnell noch Brot und Käse.«

Hatte Anthelia nicht auch einmal Honigblütensaft aus ihren Vorlesungen erwähnt? Verwechselte Sera es nicht mit den Mutterlilien, war die Anzucht von Honigblumen nur durch Druiden möglich.

Zögernd goss sie die hellbraune Flüssigkeit in ihren Becher und schwenkte ihn in der Hand. So musste konzentrierter Honig riechen.

»Genieß ihn«, sagte Tjelvar. »Die Honigblumen sterben im Winter und ohne die Druiden werden nächstes Jahr keine neuen blühen.«

»Genießen?« Seraphina verzog das Gesicht, nippte aber an der klebrigen Süße. Die Druiden hatten den Menschen immer schon viel gegeben – und Mervaille eignete sich ihre Errungenschaften selbst an, bevor es die Spuren des Kleinen Volkes aus der Geschichte radieren wollte. »Glaubst du, es haben welche die Säuberung überlebt?«

»Dafür hätte entweder jemand die Ausführung seiner Befehle vernachlässigen oder das Kleine Volk seine Selbstlosigkeit vor der Wirkung der Gabenschlaf-Pfeile aufgeben müssen.« Tjelvar trank mit wippendem Kehlkopf. »Honigblütensaft ist eigentlich den Patienten der Druiden vorbehalten.«

Medizin also – zu Genusszwecken missbraucht.

Die Dame eilte zu ihnen, stellte zwinkernd geschnittenes Brot, Käse und Wurst zwischen sie und verschwand anschließend fröhlich pfeifend.

Sera dankte der Dame kurz und sah wieder zu ihm. »Diese Dinge über die Druiden hast du in den Vorlesungen nie erwähnt.« Andererseits war Tjelvar auch der wortkargste Professor. In Xandria hatte er nie mehr als nötig gesagt.

»Vor vielen Jahren habe ich regelmäßig mit ihnen gearbeitet. Dabei lernt man einiges.« Er nahm ein Käsebrot.

Dabei wirkte Tjelvar nicht älter als Mitte dreißig ...

Die Eingangstür knarzte und ein Soldat in seinen Fünfzigern trat herein. Ein dunkelroter Gambeson lugte unter dem Waffenrock und Arm- wie Beinschienen hervor und Kommandantenplaketten prangten an seinen Schultern.

»Kommandant Nolann vom zwölften Bataillon der Armee der Weizenterrasse.« Seine lederbehandschuhte Faust klopfte zum Salut gegen die Brust und anschließend befreite er sich vom Helm.

Seraphinas Begrüßung erstickte.

Von der Nase bis zum rechten Ohr durchschnitten fünf parallele Narben die lohfarbene Haut, von knapp unter seinem Auge bis weit unter den markanten Kiefer.

Was war dem Kommandanten da widerfahren?

Sie folgte Tjelvars Beispiel und erhob sich – stellte sich mit Knoten im Hals und mit falschem Namen vor.

»Gut, Euch hier zu sehen. Hat der Mondgott Euch geschickt?« Kommandant Nolann starrte in Tjelvars Augen, dass seine Narben verzerrten.

»Das fragt man mich oft«, sagte Tjelvar.

Nicht so oft, wie man nur unausgesprochen darüber rätselte.

»Meine Augen und Haare sind vererbt. Manche aus meiner alten Heimat haben ähnliche Merkmale.«

Sera gefror. Neben ihm und Luan gab es noch weitere mit dem unheilvollen Blut Gesegnete?

»Woher kommt ihr denn, wenn ich fragen darf?« Nolanns rechter Hand fehlten die letzten beiden Finger, seiner linken Teile des Zeige- und Mittelfingers.

Tjelvar schwieg einen Moment und sah zur Decke hoch. »Aus den Schneefängen im Norden, aber meine Stadt ist auf den südlichen Karten nicht verzeichnet.«

»Verstehe.« Nicht wirklich, Nolanns Blick nach zu urteilen. »Ich komme aus einem Dorf in der südlichen Weizenterrasse. Und Ihr, Fräulein, teilen wir unsere Herkunft?« Selbst sein Ohr war halb gespalten.

»Nur mütterlicherseits, fürchte ich.« Lächeln. Unbeeindruckt und entspannt bleiben. Vor allem nicht auf die Narben spähen. In die eisengrauen Augen. Nicht die Spuren darunter.

»Dann wünsche ich Eurer Mutter und ihrer Familie einen leuchtenden Mond. Mit einem Professor an Eurer Seite wird Euch sicher nichts fehlen.«

»Pardon?« Sie starrte von ihm zu Tjelvar und zurück. Das meinte er nicht wirklich so, oder?

»Füchsin Jeanne ist weder meine Versprochene noch meine Gattin. Sie wird uns als mein Lehrling behilflich sein.« Tjelvar blieb ungerührt wie immer.

Schweigen.

Nolanns Blick. Die entstellenden Narben, als er mit den Zähnen mahlte. Darum war ihre Mutter geflohen: Frauen waren hier nicht in Machtpositionen erwünscht.

»Natürlich. Mein Fehler. Tut mir leid, junge Füchsin. Ich hatte nicht erwartet, dass Xandria eine Frau schickt.« Er faltete seine Fingerstummel und verbeugte sich.

Wahrscheinlich dachte dieser Mann auch, Xandria würde ihm helfen, Sale gewaltsam zu unterwerfen. Seraphina lächelte möglichst kokett. »Nicht den Silbermond müssen wir um Vergebung bitten, Kommandant. Der weiß zwar um eine jede unserer Sünden, aber es ist die Sonne, die am Ende über uns richtet.«

Nolanns Augen wurden schmaler.

»Entschuldigt, dass ich mit der Tür ins Haus falle, aber könnt Ihr uns zu Stadtgraf Bastien Boucher führen? Ihr seid uns beide als Hilfesuchende bekannt, deshalb möchte ich auch ihn präsent wissen, wenn Ihr uns die aktuelle Sachlage schildert.« Tjelvar ging vor dem Kommandanten ums Tischende und stellte sich neben Sera.

Schmal und bleich waren Nolanns Lippen, als er nickte. »Nichts einfacher als das: Der lebt in der Burg auf der Landzunge. Da werdet Ihr für die Zeit hier auch wohnen, um Eure Sicherheit zu garantieren.«

Die beiden Füchse ließen ihre Pferde im Stall und teilten ihr Gepäck mit den zwei Soldaten. Seraphina dankte dem Stallmeister, bevor sie zu den vier wartenden Männern aufschloss.

»Vor einem halben Jahr hat unsere Armee Sale eingenommen. Nach der Belagerung sind die restlichen Truppen über den Vert weitergezogen und ich sollte die Stellung hier sichern, aber ...« Kaum hatte Nolann einen Fuß hinter die zersplitterten Stadttore gesetzt, grölte ihnen einer der Handwerker – ein kräftiger Moragi mit dunkelbraunem Vollbart – etwas in der hiesigen, kratzigen Sprache entgegen.

Sera sprang zur Seite. Ein Hinterhalt wie damals?

Die Soldaten schoben sich zwischen die Füchse und den pöbelnden Handwerker.

Nein, kein Hinterhalt. Sie atmete aus. Ihr Begleitschutz verhinderte die Katastrophe noch.

In der stockenden Fremdsprache und mit einem Schwenker ihrer aufragenden Hellebarden verlangten die Torwächter hinter ihnen Ruhe. Der Moragi brüllte etwas einer Morddrohung gleich zurück und widmete sich knurrend wieder seiner Arbeit.

Der Kommandant winkte seinen beiden Soldaten mit seiner verstümmelten Hand zum Weitergehen.

Wie lange noch, bis die Moragi ihre Kräfte bündelten und mit aller Härte angriffen – sie abschlachteten?

»Das war Stojan. Bei dem solltet ihr vorsichtig sein. Er hat meine Soldaten schon öfter verprügelt. Geht ihm am besten aus dem Weg.« Nolann stolzierte den erdigen Pfad zwischen Gras und Kräutern auf die Savage vor der Burg zu.

Dann sollte es höchste Zeit sein, dem Widerstand zuvorzukommen und potenzielle Gefahren ruhigzustellen!

»Im Grunde ist die Stadt einfach aufgebaut: Folgt der Hauptstraße und Ihr seid erst am Marktplatz, dann am Hafen. Folgt ihr von da nach rechts und Ihr seid im ehemaligen Druidenviertel.«

»Wieso haben die Moragi runde Häuser aus Stein?«, fragte Sera.

Jedes Haus war um drei Steinstufen erhöht und die dunklen Schieferdächer endeten so tief, dass selbst sie sich daran den Kopf stoßen würde. Die Spitze eines jeden Gebäudes krönte ein offener Dachreiter.

»Eine Tagesreise entfernt liegt der Steinbruch, aus dem sie Stein und Schiefer für die Häuser und die Mauer beziehen. Warum sie rund sind« – Nolann zuckte mit den Schultern – »weiß der Mondgott allein. Die Moragi reden kaum mit uns – geschweige denn Mervaillsch.«

Zwischen den Häusern separierten Trampelpfade Blumen und Nutzgärten. Kein Stadtplaner hätte so viel Platz hinter einer Mauer gelassen. Standen die Häuser schon länger als die Befestigung? »Sale wirkt wahrlich wie ein von den Druiden beeinflusstes Dorf.«

Ein angespannter Blick von Nolann. »Angeblich war der stadtälteste Druide schon seit zwei Menschenleben hier. Aber als wir das Tor endlich eingerissen haben, hat er sich kampflos ergeben.«

»Die unbegreiflichen Eigenheiten der Druiden«, sinnierte Tjelvar.

Seraphina schluckte. Quentin hätte gekämpft. Selbst unter dem druidischen Friedensfluch oder mit Giftnadeln im Körper.

»Wo wir aber schon von ihnen reden: Was habt Ihr mit ihnen gemacht?« Tjelvar sah sich um und fixierte schließlich einen Komplex aus mehreren Rundhäusern – über Gänge miteinander verbunden – neben dem Marktplatz. Zerbrochene Schieferplatten und zerborstene Steine lagen vor den aufgerissenen Wänden und im verwüsteten Innern und selbst jetzt noch hing eine Note Rauch in der Luft.

»Verbrannt natürlich.« Nolann deutete mit dem Kinn in die andere Richtung auf dem Platz.

Sera umklammerte ihre Bernsteinkette. Ein Holzpodest stand im Zentrum des Platzes. Darauf ein Galgen. Die Schlinge wiegte im Wind. Leer.

»Vorher hatten wir daneben noch einen Scheiterhaufen, aber den brauchen wir jetzt nicht mehr. Spart uns Holz.« Kommandant Nolann zuckte mit den Achseln und ging weiter.

Sie biss sich auf die Unterlippe. Dieser Mann sprach so beiläufig vom Töten wie ihr Vater!

Die Docks waren ihr Ziel. Vermutlich das dort treibende Boot. Wenigstens war es kein Schafott, obwohl ... nein! »Mit Verlaub, Kommandant, aber alles Weitere sollten wir mit dem Stadtgrafen besprechen, meint Ihr nicht?«

»Eigentlich ... Geht es Euch gut, Füchsin?«

Sie zuckte zusammen. Sah man ihr Unbehagen so deutlich? »Natürlich. Die lange Anreise hat uns ausgelaugt. Eine Pause zur Vorbereitung täte uns daher allen gut.«

»Dem schließe ich mich an.« Tjelvar stützte Seras Arm, als sie ins wankende Boot stieg. »Stadtgraf Bastien möchte uns sicher auch noch empfangen, bevor wir uns zurückziehen. Konferieren können wir morgen in aller Ruhe.«

»Wie Ihr wollt.«

Sera starrte aufs dunkle Wasser, die Algen und den steinigen Grund. Kommandant Nolann hatte Druiden verbrannt und Menschen erhängt – ohne Reue.

An den Docks hinter ihnen lauerte der vernarbte Kommandant und beobachtete sie. Stand dort, als hielte er Wache. Als prüfte er sie aus der Ferne.

Ein Mörder hatte sie hergerufen.

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