6 - Besuch vor Mitternacht

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Quincy hatte keine Ahnung, wie sie es schaffte, den Montag zu überleben. Sowohl in der Uni als auch am Nachmittag bei ihrem Nebenjob in der Eisdiele kreisten ihre Gedanken ununterbrochen um Isla und Dale.

Ihnen war doch nichts zugestoßen, oder? Zumindest in den Nachrichten war von keinem Todesfall berichtet worden ...

Quincy versuchte sich einzureden, dass sie die Verantwortung komplett an Dale abgegeben hatte, doch das funktionierte leider nur so semi-gut. Würde sich das Schicksal mit seinen Klauen auf die kleine Isla stürzen, würde sich das Quincy niemals verzeihen.

„Oh Gott, du siehst echt scheiße aus, Quinny!", begrüßte Miles seine beste Freundin am späten Abend. Trotz des Grinsens, das auf seinen Lippen lag, schob sich ein Schleier des Mitleids über seine Augen.

„Na vielen Dank auch!", erwiderte Quincy empört. „Wenn ich so scheiße aussehe, kannst du mich ja bestimmt massieren, oder?"

Sofort hoben sich Miles' Mundwinkel zu einem Lächeln. „Schau doch mal in dein Zimmer, Quinny", zwinkerte er ihr zu. „Eventuell habe ich da schon etwas für dich vorbereitet."

Ohne auch nur eine einzige Sekunde zu zögern, schlüpfte Quincy aus ihren dreckigen Sneakern und huschte dann in ihr Schlafzimmer.

Auf ihrem Bett befand sich ein Tablett, das mit Süßigkeiten und einer Flasche Wein gefüllt war. Der Raum war abgedunkelt und wurde nur durch den Schein von Lichterketten, die Miles an der Wand angebracht hatte, erhellt. Neben dem Tablett lag ein Zettel, auf dem in krakeliger Schrift Netflix? geschrieben stand.

Quincy grinste breit. Ein entspannter Abend mit ihrem besten Freund war jetzt genau das, was sie brauchte. Und eventuell ein oder zwei Gläser Rotwein.

„Oh man. Manchmal frage ich mich echt, womit ich dich überhaupt verdient habe", seufzte Quincy, ehe sie Miles stürmisch um den Hals fiel.

„Na ja, Dumm und Dümmer gesellt sich halt gern, richtig?"

„Hey!" Quincy boxte Miles lachend gegen den Oberarm. „Nicht frech werden, Freundchen, sonst teile ich die Süßigkeiten nicht mit dir!"

„Wie grausam du doch sein kannst, Quincy Morgan ..."

Gemeinsam machten es sich Quincy und Miles in dem großen Bett bequem. Mit Schokolade, Chips, Salzstangen und Rotwein bewaffnet, startete Miles die Serie Prison Break. Dass Quincy sich eigentlich nur auf die Serie eingelassen hatte, weil Wentworth Miller so eine gute Figur als Micheal Scofield abgab, wusste Miles natürlich nicht.

Aber er musste ja auch nicht alles wissen, oder?

Quincy und Miles starrten gebannt auf den Fernsehbildschirm. Gerade als es spannend wurde und die Flucht aus dem Gefängnis kurz bevor stand, klingelte es an der Tür.

„Och nö!", fluchte Miles genervt, während er die Folge pausierte. „Ernsthaft?!"

„Mach einfach weiter!", forderte Quincy. „Ana macht bestimmt auf."

„Nur blöd, dass Ana gar nicht hier ist, sondern sich auf irgendeiner Studentenparty herumtreibt."

Nun war auch Quincy genervt. Sie drückte Miles ihr Rotweinglas in die Hand, ehe sie sich aus ihrer flauschigen Decke schälte und dann barfuß zur Wohnungstür tapste.

Sicherlich irgendein betrunkener Student, der sich an der Tür geirrt hatte. Wäre zumindest nicht das erste Mal gewesen ...

Quincy wollte schon zu ihrer spießigen Predigt über die Folgen von einem zu hohen Alkoholkonsum ansetzen, da blieben ihr die Worte allesamt im Hals stecken.

Vor ihr stand nämlich kein betrunkener Student, sondern Dale Edwards höchstpersönlich.

Dale war pitschnass. Seine braunen Locken fielen ihm in nassen Strähnen ins Gesicht und seine Klamotten klebten wie eine zweite Haut an seinem Körper.

Dass Dale verwirrt war und ein bisschen neben sich stand, verriet Quincy das aufgeregte Zucken in seinen Augen.

Obwohl Quincy eigentlich wütend auf Dale sein sollte, weil er immer so gemein zu ihr gewesen war, überwog das Mitleid in ihrem Herzen. Verunsichert fragte sie ihn: „Ist alles okay, Dale?"

Der Angesprochene rührte sich nicht. Sein Blick war starr auf Quincy gerichtet und schüchterte sie ehrlich gesagt etwas ein.

Hatte Dale einen Geist gesehen oder warum verhielt er sich plötzlich so merkwürdig? Und viel wichtiger: Woher wusste er, wo Quincy wohnte?

„Ähm, möchtest du vielleicht reinkommen?"

Dieses Mal schaffte Dale es, schwach zu nicken.

Sofort machte Quincy einen Schritt zur Seite, damit Dale die Wohnung betreten konnte. Vorbildlich zog er sich die dreckigen Schuhe aus und stellte sie auf der Fußmatte neben der Eingangstür ab.

„Warte hier", murmelte Quincy. „Ich bringe dir ein Handtuch und trockene Kleidung."

Ohne auf eine Antwort von Dale zu warten, huschte Quincy zurück in ihr Schlafzimmer. Miles saß unverändert auf ihrem Bett und stopfte sich gerade eine Handvoll Chips in den Mund.

„Wer war das?", wollte er neugierig wissen, sobald er Quincy am Kleiderschrank entdeckte.

„Dale."

„Dale?" Miles' Augen weiteten sich. „Der Dale, der dich in den letzten Tagen zur Weißglut getrieben hat?"

„Jap, ganz genau", bestätigte Quincy, während sie ein Handtuch, einen großen Pullover und eine Jogginghose aus dem Schrank zog.

„Was möchte er von dir?"

„Keine Ahnung." Quincy seufzte. Nach ihrer gestrigen Auseinandersetzung hatte sie eigentlich gedacht, Dale nie wiederzusehen, aber das Schicksal verfolgte offenbar andere Pläne. Pläne, die Quincy nicht kannte. „Ich denke, ich werde es gleich herausfinden."

„Okay. Falls etwas sein sollte, dann ruf mich einfach." Miles krabbelte aus dem Bett, riss sich sowohl die Süßigkeiten als auch den Wein unter den Fingernagel und schlurfte dann aus Quincys Zimmer.

Zurück blieb nur der Duft seines herben Männerparfüms.

Quincy atmete noch einmal tief durch, ehe auch sie sich zurück in den Flur wagte.

Dale stand noch immer wie bestellt und nicht abgeholt neben der Fußmatte. Vermutlich war ihm kalt, denn sein Körper zitterte und seine Zähne klapperten leise aufeinander.

„Hier." Quincy reichte Dale die trockene Kleidung und das Handtuch. Dann deutete sie auf das Badezimmer, das sich rechts von ihnen befand, und fügte hinzu: „Geh dich ruhig umziehen. Ich warte so lange auf dich."

Trotz seines tranceartigen Zustands brauchte Dale nicht lange, um seine nassen Klamotten gegen die von Quincy zu tauschen. Gemeinsam gingen sie in Quincys Zimmer und hockten sich mit einem gewissen Sicherheitsabstand auf ihr Bett.

„Tut mir leid", durchbrach Dale als Erster die unangenehme Stille. „Ich wollte dich nicht bei deinem Date mit deinem Freund stören."

„Miles ist nicht mein Freund!", erwiderte Quincy direkt energisch.

Ständig dachten ihre Mitmenschen, dass Miles und sie ein Paar wären, doch das war absurd. Quincy und Miles waren wie Bruder und Schwester. Nicht mehr und nicht weniger.

Na gut, ein einziges Mal hatten sie eventuell ihrer Neugierde nachgegeben und sich geküsst. Statt allerdings Schmetterlinge im Bauch zu spüren, waren sie darin bestätigt worden, einfach nur beste Freunde zu sein.

Da Quincy nicht schon wieder erklären wollte, dass auch Männer und Frauen miteinander befreundet sein konnten, fragte sie Dale neugierig: „Was machst du eigentlich hier und wie hast du mich gefunden?"

Dale wich ihrem Blick aus, als er antwortete: „Ich bin nochmal schnell zur Tankstelle gegangen, um Isla eine Flasche Apfelschorle für die Schule morgen zu kaufen. Als ich die Tanke wieder verlassen habe, stand da auf einmal dieses merkwürdige Taxi und ..."

Dale brach ab. Er musste aber auch gar nicht weitersprechen, denn Quincy wusste ganz genau, was passiert war.

Dale war in das Taxi gestiegen und vor ihrer WG abgesetzt worden.

Spätestens jetzt war klar, dass ihre Schicksale irgendwie ineinander verwoben waren.

„Ich ..." Dale schluckte einmal. Quincy konnte genau sehen, wie viel Kraft und Überwindung ihn dieses Gespräch kostete. „Es tut mir leid, dass ich dir und Isla nicht geglaubt habe. Du musst aber auch verstehen, dass es ziemlich komisch für mich war, als du immer wieder wie aus dem Nichts vor meinem Haus aufgetaucht bist und nur wirres Zeug von dir gegeben hast."

Obwohl Quincy nicht fand, dass sie wirres Zeug geredet hatte, nahm sie Dales Entschuldigung an. „Schon gut", beschwichtigte sie ihn. „Hast du irgendeine Idee, was für ein Schicksal wir erfüllen sollen?"

Dales dunkle Augen füllten sich mit Ratlosigkeit. Es dauerte ein paar Sekunden, bis er laut überlegte: „Vielleicht sollst du mir bei meiner Ausbildung helfen?! Ich bin nämlich eine ziemliche Niete in Mathe und könnte deshalb meine Ausbildung nicht bestehen. Ich muss unbedingt ein C in der nächsten Prüfung schaffen."

Quincy war überrascht, wie ehrlich Dale auf einmal zu ihr war. Es gab keine Anzeichen mehr von Abneigung oder Hass.

Quincy musste zugeben, dass es ihr gefiel, sich so normal mit Dale zu unterhalten. Er hatte irgendetwas an sich, das sie faszinierte.

„Ich möchte dich ja nur ungerne enttäuschen, aber von Mathe habe ich leider überhaupt keine Ahnung", sagte Quincy mit einem bedauerlichen Unterton in der Stimme. „In der High School habe ich fast immer ein F bekommen."

„Hm ..." Dale sah unzufrieden aus. Er kniff die Augenbrauen zusammen und legte seine Stirn in tiefe Furchen. „Wie sieht es mit dir aus, Quincy? Hast du irgendwelche Probleme, bei denen ich dir behilflich sein könnte?"

Sofort versteifte sich Quincy. Sie wollte Dale auf keinen Fall von den Geldschulden ihrer Eltern erzählen, aber wie es schien, hatte sie keine andere Wahl.

Vielleicht hatte Dale ja zufällig im Lotto gewonnen und konnte den gigantischen Schuldenhaufen begleichen? Quincy wusste, dass dieser Gedankengang naiv war, dennoch flammte ein winziger Hoffnungsschimmer in ihrem Herzen auf.

„Na ja, weißt du", stammelte sie zögerlich und mit glühenden Wangen. „Meine Eltern haben sich vor einigen Jahren sehr hoch verschuldet. Glücksspiel und so ..." Es war Quincy unangenehm, über die Fehler ihrer Eltern zu sprechen.

„Oh", sagte Dale. Er wirkte verunsichert und schien nicht richtig zu wissen, was er darauf erwidern sollte. „Meine Mutter arbeitet in einer Bücherei. Wenn du möchtest, kann ich sie fragen, ob sie dort noch einen Job zu vergeben haben."

„Nein, nicht nötig", winkte Quincy ab. „Meine Eltern und ich haben bereits einen Job. Es muss also irgendeinen anderen Grund geben, warum uns das Taxi zueinander geführt hat."

Quincy grübelte mehrere Minuten. In der Grundschule hatte sie es geliebt, Rätsel zu lösen, aber mittlerweile war sie viel zu ungeduldig dafür geworden.

„Was ist mit Isla?", hakte Quincy nach einer Weile nach. „Sie hat das Taxi schließlich auch gesehen."

„Mit Isla ist alles okay", behauptete Dale. „Sie ist manchmal ein bisschen aufgedreht, aber sie ist ja auch noch ein Kind."

Quincy nickte. Ihr fiel nur noch eine einzige Person ein, die eventuell Schuld an ihrem Aufeinandertreffen haben könnte.

„Ich möchte dir damit nicht zu nahetreten, Dale, aber wie ist das Verhältnis zwischen dir und deinem Vater?"

Kaum war diese Frage laut ausgesprochen, wandte Dale seinen Blick von Quincy ab. Obwohl er nun die beigefarbene Jogginghose anvisierte, erkannte Quincy Schmerz in Dales Pupillen aufflammen.

Volltreffer!

„Mein Vater kam nicht damit klar, dass ich kein Mädchen sein wollte", begann Dale zögerlich, zu erzählen. „Als ich mit der Geschlechtsumwandlung angefangen habe, haben wir uns oft gestritten. Meine Mum hat mich immer in Schutz genommen und vor meinem Vater verteidigt. Ihre Ehe ist dann letztendlich an den vielen Streitereien zerbrochen."

Quincy griff vorsichtig nach Dales Hand, als sie erkannte, wie sich vereinzelte Tränen aus seinen Augenwinkeln lösten.

Er fühlte sich schuldig, ganz klar.

„Mein Dad kann einfach nicht akzeptieren, dass ich jetzt ein Mann bin. Wir haben seit etwa fünf Jahren keinen Kontakt mehr zueinander. Nicht einmal zu meinem Geburtstag oder zu Weihnachten schickt er mir eine Karte."

Es tat Quincy unheimlich leid, aber wenn sie ihrem Schicksal auf die Schliche kommen wollte, musste sie tiefer in Dales Wunden herumstochern. „Und Isla?", erkundigte sie sich bei ihm. „Sie hat mir erzählt, dass euer Dad sie sehr liebhat."

Dale schnaubte verletzt. „Mein Dad vergöttert Isla! Sie ist die kleine Prinzessin, die ich nie für ihn sein konnte." Weitere Tränen kullerten über seine Wangen. „Isla verbringt einmal im Monat ein Wochenende bei meinem Dad und seiner neuen Frau. Er hat nur ein Problem mit mir, nicht mit meiner Schwester."

Quincy wollte und konnte sich nicht vorstellen, wie schlimm das für Dale sein musste. Wenn er nicht mal von seinem eigenen Vater akzeptiert wurde, wie sollte er dann lernen, sich selbst zu lieben?

Obwohl Quincy Dale nicht sonderlich gut kannte, spürte sie, dass er ein gutes Herz hatte. Nach wie vor fand sie es mutig von ihm, der Mensch zu sein, der er gern sein wollte.

„Was, wenn das Schicksal möchte, dass du dich mit deinem Vater verträgst?", warf Quincy nach ein paar Minuten eine neue Theorie in den Raum.

Sofort spannte sich Dale am ganzen Körper an. Dass er nicht mit seinem Vater reden wollte, lag auf der Hand.

„Und was hast du damit zu tun? Du kennst uns doch gar nicht", zischte Dale eine Spur zu aggressiv. „Tut mir leid", schob er schnell hinterher, als er bemerkte, wie Quincy zusammenzuckte.

„Keine Ahnung", musste Quincy zu ihrem Bedauern zugeben. „Ich akzeptiere dich aber so, wie du bist. Als ich gesagt habe, dass du stark und mutig bist, habe ich das auch so gemeint!"

Ganz langsam hob Dale seinen Kopf. Seine dunklen Augen, die von den Tränen leicht gerötet waren, verwebten sich mit Quincys Blick. „Danke!", lächelte er sie ehrlich an. „Vermutlich bist du doch keiner Klapse entflohen ..."

Quincy und Dale mussten lachen.

Es fühlte sich gut an, gemeinsam die Vergangenheit hinter sich zu lassen und einen Neustart zu wagen.

Quincy war sich sicher, dass Dale und sie gute Freunde werden konnten - oder mehr, wie ihr ihr aufgeregt hüpfendes Herz verriet.

„Und wie geht es jetzt weiter?", wollte Dale nach einer Weile des Schweigens wissen.

„Wir warten", seufzte Quincy. „So lange, bis wir endlich erfahren, was unser Schicksal ist."

... dass das schon in den nächsten Wochen passieren würde, konnte weder Quincy noch Dale ahnen ...

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