Der Mitternachtsjunge (1)

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INFORMATION:
Auf meinem Profil findet Ihr nun den Mitternachtsjungen auch als Hörbuch. Am 24. August 2023 ist das erste Kapitel als Hörfassung hochgeladen worden, weitere Teile folgen in diesen Tagen. Über Eure Besuche sowie über Sterne, Feedback und Abonnements freue ich mich dort ebenso wie hier, an der Textfassung! :-)

"Masha, kommst du? Wir wollen los!"

Es war das zweite Mal, dass Polina sie rief, diesmal klang es ungeduldig. Sie war ihre Freundin. Nicht irgendeine, sondern eine mit Herz und Antennen. Sie wusste alles von ihr. Beinahe alles. Und sie merkte alles. Normalerweise.

"Masha! Es ist kalt!"

In ihrem Rücken startete Pavlik den Motor. Polina winkte.
"Masha! Nun komm schon ins Auto!"

Der Geruch der Abgase drang zu ihr herüber. Sie hielt die Luft an und sah sich um. Vor dem pechschwarzen Abendhimmel wirkten die Wohnblöcke mit ihren erleuchteten Fenstern wie Schiffe, die in der Straße vor Anker lagen.

"... Masha!"

Ihr Haus ragte so hoch auf wie die Titanic im Hafen von Southampton. Nur dass es nie los fuhr, es brachte einen nicht aus der Stadt heraus. Nicht einmal aus dem Bezirk; war man hier einmal gestrandet, kam man so schnell nicht mehr weg. Wenn sie an die Titanic dachte, war es vielleicht besser, dass ihr Schiff niemals ins dunkle Unbekannte hinaus fuhr. Und obwohl sie sich oft fragte, wann man wohl herkam und diese alten Kästen abriss wie all die anderen hässlichen Bauten der Sowjet Zeit, war sie doch froh, dass es bis jetzt nicht geschah. Die Wohnungen waren heruntergekommen und unmodern, aber billig. Woanders würde es mit dem Geld, das sie hatten, schwierig werden.

Ihr Blick ging über die Reihen der Fenster hinweg. Sie funktionierten wie Augen. Wenn man dahinter stand, konnte man zu den anderen schmutzig beige farbigen Plattenbauten hinüber schauen. Irgendwie tröstete es, sich vorzustellen, wie sie alle - auch die Leute, die in den anderen Blöcken wohnten - dieselbe Aussicht teilten. Nur, dass sie gegen ihren Wohnblock, ihre Fenster starrten. Alle boten denselben Ausblick, egal, in welche Richtung die Fenster gingen.

Wenn man drinnen war und vermied, hinaus zu sehen, waren die Wohnungen gar nicht schlecht. Man musste sich nur daran gewöhnen, dann erfüllten sie ihren Zweck. Man konnte hinein gehen, um es warm und sicher zu haben - und hinaus gehen und zum Supermarkt laufen oder zur Arbeit fahren, und auch der Bus war gut erreichbar. Man konnte sein schlichtes Leben leben und alles hatte seine Ordnung. Nur, dass man aus Moskau nicht weg kam.
Um ihre Mutter zu besuchen, musste sie den Bezirk verlassen und eine sehr lange Strecke mit der Metro fahren, und das war gut. Hierher gekommen war ihre Mutter nur ein einziges Mal. Das war kurz nach ihrem Einzug gewesen. Sie beschwerte sich nie deswegen, sondern fuhr tatsächlich lieber zu ihr hinaus. Wegen des befreienden Gefühls. Und weil Maxim schwierig war mit Besuch. Nur das Zurückkommen, besonders abends und im Winter, wenn die Straßen und Häuser grau und die Schatten tief waren, fühlte sich nicht gut an. Abends war sie gerne vor ihm zuhause.

Irgendwo ließ jemand ein paar Böller knallen. Die Explosionen verhallten zwischen den Gebäuden. Es begann zu schneien. Der Wind wirbelte die Flocken kreuz und quer durch die Luft. Vor dem Licht der Straßenlaternen sah man, wie er mit ihnen spielte - als ginge es darum, sie möglichst lange in der Luft zu halten, bevor sie auf die gefrostete Schneedecke niederfielen. Sie kauerte sich in ihrer Steppjacke zusammen.

"Masha! Nun komm endlich ins Auto! Du erfrierst noch!"

Pavlik drehte die Musik auf. Man hörte es durch die geschlossenen Türen hindurch.

Für heute Nacht waren minus zwölf Grad angesagt. Es hatte kältere Jahreswechsel gegeben. Schon wieder Silvester ... und ein weiteres Jahr lag vor ihnen. In den letzten zwei Jahren war so viel passiert. Wie es von hier aus weiter gehen sollte, sie hatte keine Ahnung. Im Jackenärmel drehte sie ihre schmerzenden Handgelenke. Sie hatte sich den Pulli mit den extra langen Ärmeln angezogen. Da gab es kleine Schlitze in den Nähten der Bündchen, man konnte die Daumen hindurch stecken. So rutschten die Ärmel nicht das Handgelenk hinauf. Es war der einzige Pulli, der sich für solche Phasen eignete. Eigentlich hatte sie heute ein Kleid anziehen wollen. Die Jahreswechsel waren kompliziert. Überhaupt die dunkle Jahreszeit. Die Weihnachtszeit.

Der Wind zückte sein Messer und schnitt ihr ins Gesicht. Sie drehte sich weg, zog ihre Kapuze tiefer über die Augen. Am linken Augenwinkel sah man es heute noch mehr als gestern. Hoffentlich hielt das Make up.

"Was ist denn nun? Komm endlich."

Unter der Kapuze wandte sie den Kopf. Polina stand beim Wagen, mit ihren dicken Stiefeln trat sie von einem Bein auf das andere, um sich warm zu halten. Der gefrorene Schnee knirschte laut unter ihren Sohlen. Schließlich schüttelte sie sich die Flocken vom Mantel und stieg ein. Das dumpfe Zuschlagen der Tür verriet, dass ihre Geduld am Ende war. Das hatte sie neuerdings öfters. Vielleicht hätte sie es ihr sonst erzählt. Vielleicht. Beim letzten Mal war sie beinahe versucht gewesen, denn Polina verstand vieles. Aber so einfach ließ sich da keine Lösung finden. Es brauchte Geduld, und Polina hatte nicht genug davon.

Mit hochgezogenen Schultern wandte sie sich zum Eingang mit der Nummer Hundertvierundzwanzig. Sie legte den Kopf in den Nacken, schob die Hände in die Taschen und sah zum neunten Stock hinauf. Sie spürte ihren Rücken, unten, bei den Nieren. Er hatte sie mit dem Stiefel getroffen. Das hatte er noch nie getan. Jedenfalls nicht, wenn sie am Boden lag. Sie hatte das auf dem Handy gegoogelt, vorsichtshalber. Man musste darauf achten, ob Blut kam beim Pinkeln. Wenn das passierte, würde sie zum Arzt gehen müssen - und erzählen, sie hätte sich irgendwo gestoßen. Aber morgen ging es nicht, da war Neujahr. Und Maxim würde ausflippen, wenn sie in die Klinik wollte. Vielleicht würde es irgendwann auf diese Weise passieren. Dass es aufflog.

Den zusammen gekniffenen Blick auf das hell erleuchtete Küchenfenster gerichtet wartete sie, dass er da oben das Licht löschte. Die Salate standen noch auf dem Küchentisch. Sie hatte Angst gehabt, zurück zu gehen und sie zu holen. Er war so wütend gewesen. Und wie immer gab er ihr die Schuld.
Ihr Atem dampfte vor ihrem Gesicht. Über ihre Schuld hatte sie schon öfters nachgedacht. Mittlerweile dachte sie manchmal, dass sie vor allem an einem Punkt Schuld hatte: dass sie im Radius seiner Fäuste lebte. So nahe, dass auch ein geworfener Teelöffel oder ein Teller Spuren an ihr hinterließen. Auf kaputte Weise hatte er recht. Und sie Schuld.

Als sie vorhin Jacke und Schuhe zusammen raffte und auf Socken ins Treppenhaus flüchtete, hatte er mit gepresster Stimme in den Flur hinaus gezischt: "Geh nur, verschwinde! Lauf weg, wie du es immer tust. Ich komme nicht mit. Frohes neues Jahr schon mal. Wir sehen uns."

Das Letzte war eine Drohung gewesen. Es sollte ihr Angst machen, und die hatte sie. Ihr Wohnungsschlüssel war in ihrer Tasche - und die lag auf dem Stuhl in der Küche. Bei den Salaten. Der Schnee legte sich auf ihr kaltes Gesicht.

Er pokerte mit ihr. Er wusste, dass sie ihren Schlüssel nicht dabei hatte. Wenn er nicht mitkam, war sie später auf ihn angewiesen, dass er ihr Klingeln hören wollte. Oder sie stand draußen in der Kälte. Aber sie hatte sich vorgenommen, ruhig zu bleiben. Sie kannte ihn, er drohte nur. Das machte er immer. Er ließ sie immer eine Weile zappeln, aber dann ... meistens funktionierte es am besten, wenn sie die Nerven behielt. Wenn sie ruhig abwartete, ihm Zeit zum Nachdenken ließ, denn das tat er. Nachdenken. Jetzt dauerte es schon gefühlte zehn Minuten. Noch zwei oder drei, dann müsste sich entschieden haben, was er tun würde.

Und wenn er heute tatsächlich nicht mitkam, was dann? Sie versuchte es sich vorzustellen. Seit sie einander begegnet waren, hatten sie Silvester nie getrennt verbracht, in vier Jahren nicht. Am Anfang hatte sie das schön gefunden, er war so anhänglich und auf sie konzentriert gewesen. Sie hatte es für Liebe gehalten, und vielleicht war es das ja. Vielleicht war seine Liebe nur kaputt. Er hatte kein gutes Elternhaus.

Manchmal tat er ihr leid, wenn er so zu ihr war; es half ihr, damit fertig zu werden, sie dachte dann weniger an sich selbst. Aber inzwischen wollte sie gerne einmal ohne ihn sein. Mit den wenigen Freunden, die sie hatte, einen friedlichen Abend verbringen. Einmal wieder nur sie selbst sein, ohne Stress, ohne Ärger. Ohne Angst, etwas falsch zu machen. Das wäre gut.
Aber wegen seiner Eifersucht konnte sie das vergessen. Und Anoushka und Egor, bei denen sie heute feierten, waren seine Freunde, nicht ihre. Sie gehörten zusammen, Maxim war mit ihnen seit ihrer Schulzeit befreundet und sie kannten auch Polina aus der Schule. Und sie selbst, sie war Polinas beste Freundin. Somit bildeten sie einen Kreis, alle waren sie Freunde füreinander. Aber er - er bestand darauf, dass Anoushka und Egor seine Freunde waren, nicht ihre.

Egor war nett, auch zu ihr. Er sah nicht so gut aus wie Maxim, aber er hatte menschliche Augen und er war extrem aufmerksam. Und immer gleich freundlich. So unglaublich verlässlich und beständig, es gab nicht viele Menschen, die das boten. In ihrer heimlichen Welt erträumte sie sich manchmal ein völlig anderes Leben. Ein Leben mit jemandem, der so war wie Egor. Manchmal wünschte sie sich, er hätte wenigstens einen Bruder. Auch diesen Bruder, den es nicht gab, hätte sie ungesehen genommen. Es hätte ihr gefallen, näher an Egor und Anoushka heran zu rücken, familiär betrachtet. Nur ... sie hatte Maxim. Und vielleicht wurde es ja wieder besser mit ihm. Denn zu Beginn war er nicht so gewesen.

Mit Anoushka gab es nie Langeweile. Sie wusste immer etwas zu erzählen, sie war witzig und sie lachte viel. Kein Wunder. Sie hatte einen Egor. Anoushka und sie lebten in völlig verschiedenen Welten. Wann wurden Freunde, die Maxim hatte, auch ihre Freunde? Wann begann sie wirklich dazu zu gehören - ohne dass er darüber bestimmen konnte, wie wer zu wem stand?

Sie blinzelte gegen den Schnee an, starrte zum Küchenfenster hinauf. Denk an die Salate, denk an die Salate. Und bring meine Tasche mit. Bitte. Er musste herunter kommen. Er würde sie nicht allein fahren lassen. Er musste kontrollieren, wie sie aussah, wie sie sich benahm, wer mit ihr sprach und was sie erzählte - insbesondere, weil Polina dabei war. Denn Polina ... Polina hatte Antennen. Und sie verstand vieles.

Oben in der Küche erlosch das Licht. Neun Stockwerke mit kaputtem Fahrstuhl. Ihr Herz klopfte. Im Treppenhaus wurde es hell. Bring meine Tasche mit. Und die Salate.

Sie begann zu schwitzen in der Kälte. Ihre Nase lief. Polina musste ebenfalls die Fenster beobachtet haben, die Wagentür öffnete sich und sie streckte den Kopf heraus.

"Da kommt er ja endlich. Steig ein, wir wollen los."

Einen Moment zögerte Masha, dann wandte sie sich vom Haus ab und lief zum Auto hinüber.

Ende Teil 1


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