Der Mitternachtsjunge (3)

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Es war nicht weit bis zu der Siedlung, in der Anoushka und Egor wohnten. Normalerweise brauchten sie fünfzehn Minuten, wenn Pawlik sie mitnahm - oder eine knappe halbe Stunde mit der Bahn. Aber nur, weil man da einmal umsteigen und mit ein wenig Wartezeit rechnen musste. Heute ließ sie das Wetter kaum vorwärts kommen, die Fahrt erschien ihr endlos lang. Sie konnte nicht einmal die Geschwindigkeit abschätzen, mit der Pavlik den Wagen durch die Wand aus wirbelndem Schnee steuerte. Dunkle Eingänge und hell erleuchtete Fenster zogen in Zeitlupe an ihr vorbei, Lichtreklame in schrillen Farben, ein paar junge Leute, die entlang der Straße liefen. Ein Mann mit Hund.
Ganz nach innen gekehrt dachte sie an alles und nichts. Es war, als löste sie sich auf in der Musik, dem Reden und Lachen der anderen, den zuckenden Lichtern, die hier und da in das Halbdunkel des Wagens drangen. Sie hätte ewig so dasitzen und mitfahren können, den Herzschlag an den Rhythmus der Scheibenwischer angepasst, den Atem an den Takt der Musik.

Sie hatte ihr Ziel vergessen, den Grund, warum sie unterwegs waren, die Zeit, den Wochentag und die Szenen der letzten zwei Tage, da fuhr Pavlik an die Seite und hielt an. Der Motor ging aus, der Scheibenwischer stoppte, die Musik verstummte. Ohne das Schaukeln und Rucken und die Klänge und Geräusche ringsum fühlte sie sich auf einmal furchtbar nackt. So, als hätte sie tief geschlafen und würde geweckt, indem man ihr die Decke weg zog. Sie war absolut nicht präpariert für die Realität.

Ein Geruch nach Feuerwerk hing in der Luft, als sie ausstiegen. Sie hatte sich noch gar keine Haltung zurecht gelegt. Die brauchte sie, wenn der Abend gut verlaufen sollte. Er hatte ihr weh getan, also durfte sie sich distanziert geben. Nicht zickig, das würde neue Konflikte schüren, aber ein wenig mehr zurückgezogen als sonst, stiller, ernster durfte sie sein.
Es hatte sich bewährt. Oft bemühte er sich dann um sie - zumindest provozierte er keine neuen Streitereien, wenn sie den richtigen Abstand hielt. Nicht zu weit, nicht zu nahe. Es war anstrengend, sich so zu halten, insbesondere, wenn es über Stunden ging. Sie konnte dann nicht tun, wonach ihr der Sinn stand, blieb besser draußen, weil er im Raum war - oder drinnen, damit er nicht fragte, wohin sie ging. Sie musste alles vermeiden, was ihn aufmerksam werden ließ, durfte nichts tun, was ihn ärgern würde. Darum putzte sie dann meistens irgendwo und irgendwas, legte Wäsche zusammen, räumte in der Wohnung herum - das war banal genug, um sie aus seinem Kopf zumindest so weit verschwinden zu lassen, dass er mit seinen Gedanken bei sich blieb und sich beruhigte.

Wenn sie das lange genug durchhielt, brachte es manchmal sogar seine besseren Seiten zum Vorschein; dann konnten gute Tage folgen. Allerdings durfte sie es ihm nicht zu schwer machen, sie musste schon auch auf ihn eingehen. Ihm zeigen, dass sie ihm entgegen kam, wenn er seine Versuche machte. Sonst gab ihre Sturheit ihm einen neuen Grund, wütend auf sie zu sein. Wohin sie mit ihrer eigenen Wut sollte, sie hatte keine Ahnung. Bisher schluckte sie sie hinunter und sammelte sie an einem dunklen Ort.
Ein Abend auf dem Drahtseil also, ein weiterer. Mit blutigen Füßen. Wenigstens für Silvester hatte sie sich anderes erhofft.

"Schlechte Laune?"

Aus ihren Gedanken aufgeschreckt zuckte sie zusammen, als die Freundin unter ihrer großen Kapuze dicht an sie heran kam. Polina legte ihr den Arm um die Schultern und sah zu Maxim und Pavlik hinüber. Die Männer standen im Schneegestöber beieinander und begutachteten den Wagen. Pavlik erklärte irgendetwas, aber Maxim schien nur halb bei der Sache zu sein. Es war ihm anzusehen, dass es ihn nicht interessierte. Die alte Karre seines Freundes entsprach nicht seinen Vorstellungen von einem Auto. Dabei war es besser, Pavliks Auto zu haben als gar keines.

"Ich? Nein. Ich bin nur müde."

Polina schüttelte den Kopf. "Ich meine Max", flüsterte sie halblaut. "Was ist los mit ihm?"

Masha nahm die Tüte mit den Salaten an die Seite, hakte sich bei ihr unter und zog sie ein paar Schritte zum Hauseingang hin.
"Er ist ... unzufrieden. Seit sie ihn gefeuert haben. Er hat jetzt diesen blöden Job. Er mag ihn nicht, es ist nur ... ein Übergang. Er verdient dort nicht so viel wie vorher." Sie biss sich auf die Lippe. "Weniger als ich, um genau zu sein." Sie zuckte mit den Schultern. "Das macht es nicht einfacher."

Polina verzog den Mund. "Hui, das ist übel." Sie rückte ganz nahe an sie heran und presste Mashas eingehakten Arm an ihre Seite. "Aber wenigstens habt ihr deinen Verdienst. Da kann er doch froh sein. Wenn er jetzt allein wäre, würde es ihn härter treffen." Mit der freien Hand streifte sie den Schnee von ihrem Mantel. Als Masha schwieg, lächelte sie ihr aufmunternd ins Gesicht. "Hey. Das wird schon wieder. Er ist ein ehrgeiziger Typ und nicht auf den Kopf gefallen. Wenn jemand das schafft, dann ihr." Sie zwinkerte. "Ich glaub' an euch."
Die Männer kamen heran, Pavlik trug einen Kasten mit Getränken. Polina ließ sie stehen, trat an die Eingangstür und fuhr mit dem behandschuhten Finger über die Reihen der Namen. Sie drückte auf den gesuchten Klingelknopf.

Der Summer brummte, sie stemmte sich gegen die Tür.

Den offenen Eingang fest im Blick, lief Maxim an Masha vorbei; erst zwei Schritte später wandte er sich um, kam zurück und baute sich vor ihr auf.
"Alles in Ordnung?"
Wollte er sie das nun den ganzen Abend hindurch fragen? Alle halbe Stunde? Sie überlegte noch, was sie antworten sollte, da beugte er sich zu ihr hinunter und küsste sie auf die kalte Stirn. Sie mochte das nicht. Es war ihr zu ... väterlich. Als würde er sie für eine halten, auf die man herab sehen durfte. Oder sich selbst für jemanden, der ihr überlegen war. Das mochte er denken. Der einzige Vorteil, den er tatsächlich hatte und der sie selbst zugleich schwächte, war, dass sie ihn liebte. Aber diese Liebe war inzwischen ... angeschlagen. Im wahren Sinn des Wortes.
Hinter ihnen hielt Pavlik die Tür auf.

Als sie in den Hausflur trat, spürte sie Maxims schiebende Hand in ihrem Rücken. Das war ganz und gar unnötig. Als ob sie ohne seine Führung die Richtung verfehlen würde. Oder flüchten.

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Das Treppenhaus war mit dröhnender Musik angefüllt. Auf mehreren Ebenen schien es Partygesellschaften zu geben, Bässe, Rhythmen, Stimmen vermischten sich zu einem akustischen Chaos. Die Graffiti im Fahrstuhl sprangen sie aggressiv an, es schienen mehr geworden zu sein seit dem letzten Mal. In der Kabine roch es nach kaltem Rauch.

Unfassbar, wie krass der Unterschied zwischen der schmuddeligen Umgebung und der gemütlichen Höhle war, die Anoushka und Egor bewohnten! Ihr letzter Besuch war Wochen her, aber sie trug das Gefühl, das ihr diese Wohnung vermittelte, stets mit sich. Das kuschelige Nest, das die beiden mit so viel Liebe eingerichtet hatten, war ihr von Mal zu Mal mehr zu einem Ideal, einem Lebenswunsch geworden. Ein ferner Traum war es, schmerzlich unerreichbar, und doch verkörperte es alles, was sie sich so sehnlich wünschte. Auch, wenn sie wusste: Um so etwas zu haben, brauchte man den richtigen Partner. Möbel, Pflanzen, Dinge konnte man kaufen, es musste ja nichts Teures sein. Und ein Händchen fürs Einrichten, das brachte man mit, das gab es umsonst. Anoushka und Egor schienen aber ein Herz, eine Hand, eine Seele zu sein, und das war zu spüren, wenn man sie besuchte, in jedem Raum, in jeder Ecke. Später - irgendwann, in einer fernen Zukunft - da wollte sie auch so leben.

Der Ruck, als der Fahrstuhl sich in Bewegung setzte, brachte sie aus dem Gleichgewicht. Sie lehnte den Rücken gegen die Wand und starrte geradeaus, während sie spürte, dass Polina und Max sie ansahen. Er sollte sie einfach in Ruhe lassen. Und Polina ebenfalls. Wie sie ihr zuzwinkerte, als er nach ihrer Hand griff ... Sie merkte nicht, dass diese Story weit unterhalb dessen stattfand, was zu sehen war.
Polina verstand tatsächlich nicht alles. Vielleicht war das gut so. Bei solchen Dingen musste man wohl seine eigene Lösung finden. Allein.

Elfter Stock. Der Fahrstuhl hielt mit einem Ruck an, Maxim ließ ihre Hand los und sie atmete auf. Fünf Sekunden länger, und sie hätte das ganze Haus zusammen geschrien.

Von unten her hörte man leise die Musik und das Stampfen der Bässe, auf dieser Etage jedoch war es still. Sie folgten dem linken Gang. Aus der vierten Tür auf der rechten Seite drang Licht, dazu ein herrlicher Duft nach Gebratenem. Anoushka war so bewundernswert! Wie sie solche Dinge stets mit leichter Hand zauberte! Da stand sie im Türrahmen und sprang wie ein Flummi auf und ab. Vor Erwartung und aufgeregter Stimmung schien sie beinahe zu platzen, die dunklen Locken tanzten um ihre Schultern. Aufgeregt und auf verzeihliche Weise übertrieben wedelte sie mit beiden Händen in der Luft, bis sie bei ihr ankamen. Ihr auberginefarbiges Kleid mit den transparenten Ärmeln stand ihr, als sei sie damit geboren. Ungeduldig trippelte sie auf der borstigen Fußmatte herum und streckte ihnen die Hände entgegen.

Sie verschwand in Maxims Armen. Er hob sie von den schwarz bestrumpften Füßen, schwenkte sie hin und her und roch an ihren Haaren. Er seufzte laut. "Ah ... du riechst gut."
Anoushka kicherte. "Ja, nicht? Das ist neu. Ein Weihnachtsgeschenk."
"Von Egor?" Er setzte sie wieder ab.
Sie blieb ihm die Antwort schuldig und wand sich aus seinem Griff. "Kommt rein, ihr Süßen", lachte sie und streckte die Hand nach Mashas Tüte aus. "Gebt mir eure Sachen, alles her zu mir. Ich nehme es mit in die Küche."

Sie waren dabei, ihre nassen Schuhe an der Wand aufzureihen, als Egor im Flur erschien. Seine dunkelblonden Haare wirkten zerrauft; der Schnitt war heraus gewachsen, darum kamen die Locken durch, und er ließ sich einen kurzen Bart stehen. Masha mochte das. Es wirkte gemütlich und entspannt, sein Anblick tat ihr gut.
Maxim reagierte zuerst, mit einer beinahe förmlichen Miene gab er ihm die Hand. Wollte er einen seriösen Eindruck machen - für alle Fälle? "Neuer Look?", neckte er ihn und wies auf sein Gesicht. "Was ist passiert? Bist du unter die Holzfäller gegangen?"

Egor knuffte ihn gegen die Schulter. "Drängel' dich nicht vor, du Ochse. Benimm dich. Ladies first!"

Als Masha von ihrem Gastgeber umarmt wurde und seine warme Geste ihr ein Lächeln entlockte, wurde ihr bewusst, dass Maxim ihnen zusah. Sie genoss die kräftige Umarmung und tat, als würde sie seinen missbilligenden Blick nicht bemerken. Es war ja nur dieser eine Moment. Nur zur Begrüßung.
Egor war ein anständiger Kerl. Auch Max sollte das wissen, immerhin waren sie Freunde, und das nicht erst seit gestern. Wie er selbst gerade Anoushka durch die Luft geschwenkt und seine Nase in ihre Haare gedrückt hatte, gab nicht weniger zu denken. Ob er das auch getan hätte, wenn Egor früher aufgetaucht wäre? Aber für ihn schien das zweierlei zu sein. Er brachte es tatsächlich fertig, in solchen Dingen einen Unterschied zu machen. Sie musste vorsichtig sein. Mit allem.

Im Wohnzimmer stand noch der Weihnachtsbaum. Er war so groß wie sie selbst und funkelte über und über in kitschigem Blau. Anoushka und Egor mussten - zumindest, was ihren Baum betraf - an heftiger Geschmacksverirrung leiden! Beim ersten Hinsehen tat es in den Augen weh, aber heute liebte sie diese Farbe irgendwie. Das tiefe Blau war so eindeutig und klar. Es machte keine Kompromisse, es versuchte nicht anders zu sein. Es versteckte sich nicht, sondern zeigte sich als das, was es war: krass und einschneidend, selbstbewusst und kompromisslos. Es brauchte keine andere Farbe neben sich. Nur Raum zum "Sein". Ein solches Blau fragte niemanden danach, ob es leuchten durfte - und Leute wie Maxim kannte es gar nicht.

Der herrliche Duft, der aus der Küche drang, ließ ihren hungrigen Magen knurren. Der Raum war kuschelig beheizt; wahrscheinlich war sie mit ihrem Pulli und der Jeans viel zu warm angezogen. Während Egor die Musik leiser stellte und Max und Polina sich in der Sitzecke niederließen, blieb sie stehen und sah sich neugierig um.
Einige der Möbel hatten seit ihrem letzten Besuch neue Plätze gefunden. Das Sofa stand nicht mehr unter dem Fenster, sondern in der Ecke, und es gab jetzt ein weiteres dazu, das sie noch nicht kannte, einen Zweisitzer. Im Winkel dazwischen stand ein eckiger Tisch, auf dem Gläser, Getränke und Knabberzeug aufgebaut waren. Ein breites Regal ragte daneben von der Wand ins Zimmer hinein und schloss die Sitzecke schön zur übrigen Fläche ab. Den kleinen Esstisch dahinter erkannte Masha als Anushkas alten Küchentisch. Die altmodisch geschwungenen Beine, die unter der Kante des dunklen Tischtuches hervor sahen, verrieten es. Obendrauf stand eine Sammlung dicker brennender Kerzen. Der alte Spiegel, der dahinter an der Wand lehnte, ließ ihre Anzahl doppelt so groß wirken und multiplizierte das goldene Licht, das die Flammen in den Raum strahlten.

Warum duftete es bei ihnen zuhause eigentlich nicht nach Orangen? Hier jedenfalls gab es sie, sie lagen in einer großen silbrig angelaufenen Schale und waren mit Nelken gespickt. Die fruchtige Würze mischte sich aufs Schönste mit dem Duft aus der Küche. Masha trat an den Tisch heran, nahm eine der verzierten Orangen aus der Schale und hielt sie sich unter die Nase. So schnell waren diese schönen Dinge gemacht - und so einfach! Man musste es nur tun, das war das ganze Geheimnis.

Vom ersten Tag an hatte ihr der wirkungsvolle Mix aus modernen Möbeln und alten Stücken extrem gefallen; und doch war sie weit davon entfernt, die Wohnung, in der sie mit Maxim lebte, ebenso gestalten zu können. Ihre eigenen Möbel hatte sie beim Zusammenziehen mit ihm verschenkt, denn sie hatten sich neu einrichten wollen - was sie auch begonnen hatten, aber dann kamen andere Dinge dazwischen. Wichtigere. Maxim machte Schulden. Er brauchte Geld. Und aus den Dingen, die sie geplant hatten, wurde nichts weiter. Vieles war bis heute unfertig und improvisiert - und schön war es schon gar nicht.

Wenn sie es sich genau überlegte, hatte er allem, was sie wollte und woran ihr Herz hing, von Anfang an im Weg gestanden. Er war dagegen, dass sie die spießigen Nachtschränke wegwarfen, die er von seinen Eltern bekommen hatte, und die Gardinen durften nur bis zur Fensterbank gehen. Bodenlange Vorhänge kamen nicht in Frage, dabei hätten sie das Schlafzimmer so viel schöner gemacht. Er wollte keine Bücher im Wohnzimmer haben, und auch im Schlafzimmer durften sie nicht stehen. Weil er mit Büchern nichts anfangen konnte, er las nicht. Ihre Fotos, ihre Sachen, das geblümte Geschirr von der Oma, ihre gemütlichen Lieblingsbecher, die Frühstücksbretter mit den Rosen am Rand - nichts davon hatte nach ihrem Einzug tatsächlich einen Platz in der Wohnung gefunden. So gab es seit vier Jahren diese zwei Kartonstapel im Flur hinter dem Vorhang. Sie enthielten all das Leben, das sie wegen ihm aufgeben hatte.

Aber wie schön die vielen Bücher in diesem Regal aussahen! Von beiden Seiten hatten sie sie hinein gestellt, so dass man die eine Hälfte der Bibliothek sah, wenn man in den Raum trat, und die andere, wenn man von der Sitzecke aus darauf schaute. Anoushka und Egor besaßen unglaublich viele Bücher - deswegen das neue Regal. Die langen Ranken der Topfpflanzen, die in den oberen Borden standen, drapierten sich entlang der Bücher herab. Es schienen neue dazu gekommen zu sein. Oder sie waren gewachsen.
Bei ihr zuhause wuchs nichts - außer dem mulmigen Gefühl, das sie wie ein Geschwür in ihrem Bauch herum trug.

Sie musste gestehen, sie war neidisch auf all das kreative Leben, das sich hier sichtbar präsentierte. Einfach so die Möbel umstellen, nur weil es einem spontan anders besser gefiel - und Dinge kaufen, weil man sie gerade gebrauchen konnte, oder einfach, weil man sie schön fand!
Keine Pflanzen, hatte Maxim gesagt. Die brachten nur Dreck in die Wohnung. Und Ungeziefer. Und Schimmel. Dafür ließ er seine schmutzigen Sachen im Bad in den Winkel zwischen Dusche und Wand fallen. Und die nassen Handtücher obendrauf. Und sie musste sie dort wegnehmen, seine Handtücher zum Trocknen aufhängen und alles, was trocken war, in den schmalen Schrank im Flur werfen, wo sie die Schmutzwäsche sammelten. Zumindest war das einmal der Plan gewesen. Einen schmalen Wäschebehälter für die Nische neben der Duschwand kaufen wollte er aber nicht. Er hielt das für Geldverschwendung. Aber wenn dort die Fugen langsam schwarz wurden, wollte er, dass sie die Fliesen öfters und gründlicher schrubbte und gab ihr die Schuld dafür, wie es dort aussah.

Seit er das gerahmte Poster über dem Bett in Scherben gehen lassen hatte, wollte sie gar keine Bilder mehr aufhängen. Es war eine Scheißarbeit gewesen, sämtliche Splitter aus dem Bett zu bekommen. Aber was beinahe noch schlimmer war: Sie hatte keine Bettbezüge gewaschen. Es gab nur noch zwei alte in der Schublade, und die passten nicht einmal zusammen, sie gaben ja nie Geld für neue Dinge aus. So wurde der Abend der schlimmste, den sie bisher erlebt hatte. Weil er nicht unter Rosenbettwäsche schlief und auch pastellfarbige Karos für diese eine Nacht nicht gingen. Ein Kerl, der unter einer röhrenden Yamaha schlief, bettete sich nicht in Blumen und Pastell.

Irgendetwas hatte dieser Abend mit ihr gemacht. Es war sein Bild gewesen, dieses doofe Poster mit dem Motorrad darauf, das sie von Anfang an nicht über dem Bett haben wollte. Motorräder hatten so gar nichts mit ihr zu tun. Auch nicht mit Schlafzimmern. Ganz deutlich hatte sie da gespürt, dass in dem Moment viel mehr als dieser Glasrahmen kaputt gegangen war. Es kam ihr vor, als sei mit dem Bild eine Art Siegel zerbrochen. Was ihm Stärke verlieh, womit er sich identifizierte, zerbrach so einfach - und durch seine eigene Hand.

Mit dem Bild, mit den Scherben fiel ein Schloss samt Kette von der Tür, hinter der sie lebte. Denn wenn die Dinge, die ihn verkörperten, so zerbrechlich waren, musste es Möglichkeiten für Veränderung geben. Mit ihm - oder wenn es sein musste, auch ohne ihn.

Das Makeup tat seinen Dienst; ihr Spiegelbild zeigte die junge Frau, die sie werden wollte. Sie musste unbedingt hinein wachsen, denn bisher wohnte nur ein kleines verunsichertes Mädchen in ihr. Sie musste - oder das Mädchen würde an seiner Angst sterben. Dünn war sie geworden und blass. Ein wenig zu müde. Lebensmüde sozusagen. Aber auch das würde nicht ewig so bleiben, denn niemals blieben die Dinge, wie sie waren. "Friss nicht so viel", sagte er immer zu ihr. "Damit du nicht auch noch fett wirst." Als ob es irgendeinen Vorteil hatte, ihm zu gefallen. Er behandelte sie auch dann nicht besser.
Vielleicht sollte sie aufhören, seinen Vorstellungen überhaupt zu entsprechen. Was würde dann passieren? Kippte er sie dann samt ihren Kartons, in denen sie ihr Leben aufbewahrte, auf den Fußweg? Oder verscharrte er sie im Hof und bestellte sich anschließend eine Pizza?

Noch einmal hielt sie sich die Orange unter die Nase, sog ihren Duft ein. Über die Frucht hinweg sah sie, wie die Flammen der Kerzen in ihren Augen aufblitzten. Einen Moment stand sie da, vertieft in ihr Spiegelbild und nicht näher definierte Gedanken. Dann legte sie die Orange zu den anderen zurück und verließ das Wohnzimmer. Vielleicht konnte sie Anoushka helfen.

Ende Teil 3

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