𝟔.𝟐 | 𝐕𝐨𝐧 𝐊𝐫𝐢𝐞𝐠 𝐮𝐧𝐝 𝐅𝐫𝐢𝐞𝐝𝐞𝐧

Màu nền
Font chữ
Font size
Chiều cao dòng

✥             ✥          ✥

Man mochte meinen, dass es nicht allzu leicht sein konnte, jemanden wie Lisitsyn aus den Augen zu verlieren, mit seiner alles bestrahlenden Aura, der Heiterkeit und das Plaudern, das ihm auf Schritt und Tritt folgte – und doch bedurfte es nur weniger Minuten, des Erscheinens des Generalfeldmarschalls und schon fand sich Mikhail alleine gelassen in dem Irrgarten aus prächtigen Hallen.

Das darin herrschende Summen war hier etwas leiser, von ihm getrennt durch einige Wände und nachdem er ein paar Schritte gelaufen war, begegneten ihm auch keine vorbeieilenden Dienstboten mehr, sondern lediglich Stille, die den Palast in eine merkwürdige Stimmung tauchte. Ohne all die Menschen – Aristokraten, Hofdamen, Lakaien –, die all dem Leben einhauchten, wirkten der goldene Stuck, die gewaltigen Kronleuchter, die edlen Vasen kalt und tot. Erhaben, aber doch ohne Seele, wie ein Monument vergangener Zeiten.

Irgendetwas daran schien Draganov merkwürdig vertraut. Vielleicht, weil er selbst sein Anwesen darin wiedererkannte, dass mit der Abwesenheit seiner über die Welt verstreuten Geschwister und des ewig kränkelnden Vaters, der ihm längst frühzeitig sein Erbe überlassen hatte, zu leer war. Oder gewesen war. Mittlerweile füllte wieder ein kleiner Hauch leben die altehrwürdigen Hallen des draganov'schen Hauses.

Der Fürst warf einen Blick auf seine Taschenuhr, um sich zu vergewissern, dass ihm noch etwas Zeit blieb, die Unzahl an hier gesammelten Kunstwerken zu bewundern.
„Ich dachte, wir wären uns einig gewesen", durchschnitt eine scharfe Stimme die Stille, die der Polkovnik sofort als die der Zarin wiedererkannte, wenn auch durch eben jene sonst völlig fehlende Heftigkeit verfremdet. 

Sofort blieb er wie angewurzelt stehen und sein Blick zuckte in die Richtung der nur angelehnten Tür, an der er achtlos vorbeischreiten wollte.
„Wovon sprichst du, meine Liebe?", kam eine irritierte, aber ruhige Antwort. Der Zar.
„Graf Lisitsyn. Du schickst ihn nach Asen'ja wegen mir, nicht wahr?"
Ein Rascheln wie von Röcken und dann von Papieren, die widerwillig beiseitegeschoben wurden; das Knarzen von Holz; ein Seufzer.

„Aber, Seti, das hat doch nun wirklich nichts damit zu tun."
„Wage es nicht, mich anzulügen, Gerasim", in die Stimme der Zarin schlich sich ein zorniges Beben, das das Zittern von Lippen und tränenglänzende Augen erahnen ließ, „Du wählst von allen ausgerechnet ihn, jemanden ohne jegliche Erfahrung in dieser Aufgabe, und erwartest, dass ich dir glaube, es hätte keinen tieferen Grund? Verkauf mich nicht für dumm."

Lisitsyn und die Zarin ... Es stimmte also? Bittere Galle der Enttäuschung trat in ihm hoch und er konnte sich der Anklage nicht erwehren. Bisher hatte der Fürst sich nicht vorstellen wollen, dass Valentin sein rücksichtsloses Spiel auch hinter den Mauern des Zarenpalastes trieb. Doch wie es schien, hatte er sich damit gewaltig getäuscht – sowohl im Grafen als auch in der Herrscherin.

Dass die Ehe in höheren Kreisen wie in den meisten Ländern rein politisch war und nichts Ehebruch untersagte, tat weder Tratsch noch vernichtenden Skandalen einen Abbruch. Kein Richter fällte ein grausameres Urteil als die velische Gesellschaft und keiner tat es mit einer solchen Unberechenbarkeit. Üblicherweise scherte sich Draganov nicht um dieses gesellschaftliche Possenspiel, aber hier ging es um das Ansehen der Zarenfamilie und damit um Velija. 

Du solltest nicht hier sein!, riss Mikhail sein Verstand in die Realität zurück, in der er ungebetener Zeuge einer Szene wurde, die ganz gewiss nicht für seine Ohren bestimmt war. Das Bewusstsein gerade das Zarenpaar in einem privaten Streit wie einer dieser nach Ondits hungrigen Voyeure zu belauschen, legte sich wie ein ekelhafter Geschmack auf seine Zunge und Schmutz auf seinen Körper. Er musste hier weg.

Diesmal folgte längeres Schweigen aus dem Raum, nicht einmal vom leisesten Geräusch unterbrochen, so dass sich jeder von Mikhails Schritten ohrenbetäubend laut auf dem Marmorboden hätte anhören müssen. Selbst, wenn er gewollt hätte: Jetzt konnte er nicht gehen. Nicht ohne seine Anwesenheit zu verraten.

Dann erhob die Zarin abermals ihre Stimme, ohne das vorherige Feuer, sondern matt und leise, so dass Draganov die Worte kaum noch verstehen konnte: „Hat es etwas mit mir zu tun?"
Gerasim Chervenkov entkam ein langgezogenes Seufzen. „Mitunter, ja."

„Wie konntest du...? Ich dachte, wir wären...Partner. Für unsere Kinder, für alte Zeiten, für Velija. Ich habe mich nie eingemischt, mit wem du dich umgibst, dir nur das Beste gewünscht, solange..."

Mikhail wusste nicht, ob es ein unterdrückter Schluchzer war, in dem Setenays Worte untergingen oder bloß abermals das Rascheln ihrer Röcke, das ihrer Bewegungen verriet.
„Aber mir geht es um dein Bestes, Seti. Um das aller."

Vorsichtig trat Mikhail von der Tür zurück, Schritt für Schritt, achtsam keinerlei Geräusch von sich zu geben und so unbemerkt und schnell wieder von der Szene zu entfernen, wie er hineingestolpert war.

„Ich verstehe nicht..."
„Bei Kresnik, hältst du mich für blind? Ich habe nichts an unserer Abmachung gebrochen. Weißt du noch, wie sie lautete?", das erste Mal erhob der Zar seine Stimme, ohne jedoch den wohlwollenden, warmen Klang zu verlieren.

„Jeder geht seiner Wege. Keine Intervention, außer es geht um die Kinder oder das Reich", wiederholte sie stumpf.
„Genau. Ich mag Valja. Ich zähle ihn nicht weniger zu meiner Familie als jene, deren Blut ich teile. Aber sein Ruf eilt ihm Voraus und ich höre ganz genau, was man über ihn, über euch redet", fuhr der Zar fort und Mikhail spürte Zorn und Enttäuschung gegenüber Lisitsyn und die Zarin abermals aufkochen.

„Reden, reden, reden – das ist alles was ihr hier könnt, oder? Der Hof von Finience betet, der von Te'gredem kämpft, der von Kellichen tanzt, wenn sie sich nicht grade gegenseitig bekriegen, und Velijas ... Velijas Hof redet." Aus jedem einzelnen der Worte Setenays schien Gift zu triefen. „Was kümmert mich, was irgendwelche Leute sprechen? Sollen sie doch. Sie tun es ja ohnehin, ob mit oder ohne Anlass und immer mit den niederträchtigsten Absichten. Wenn du wüsstest, wie sehr ich Altingrad hasse, Gerasim. Und jetzt nimmst du mir das Einzige, was es mir erträglich gemacht hat."

„Setenay..." Schritte auf schwerem Teppich verrieten, dass sich der Zar erhoben hatte und auf seine Frau zuging. „Bitte verzeih mir, aber ich hatte keine andere Wahl. Nicht nur für Velija wegen irgendwelcher Gerüchte; auch für dich. Denkst du, ich merke nicht, wie du ihn ansiehst? Wenn ich eines weiß, dann dass es kein grausameres Schicksal gibt, als sein Herz an Valentin Lisitsyn zu verlieren. Er weiß mit so fragilen Dingen nicht umzugehen. Ich konnte nicht warten und zusehen, bis er es dir bricht."

„Gratuliere, du bist ihm zuvorgekommen."

Mikhail war gerade erst um die nächste Ecke gekommen, als er bereits die Tür auffliegen hörte und hektische Schritte, die sich ihm so schnell näherten, dass Flucht undenkbar war. Die silbernen Schnallen ihres aspravischen Kleids blitzen im Licht. Ihm blieb nur noch Zeit, ihren Zusammenprall zu verhindern.

Erschrocken sah Setenay zu ihm hoch, tränennasse Wangen, gerötete Augen und so aufgelöst wie er die sonst immer stille, schöne Frau nie gesehen hatte.

„Oh, Verzeihung. Ich ..." Weiter kam sie nicht mehr. Schamesröte und Angst spiegelten sich in ihren Augen, die sich noch vertieften, als sich ihnen eine Gruppe junger Aristokraten näherte. Vor ihrem geistigen Auge schien sie bereits zu sehen, welches Gerede das wieder nach sich ziehen würde.

„Eure Majestät, was ist passiert?"
„Fühlt ihr Euch nicht wohl?"

Sofort wurde sie mit geheuchelter Besorgnis überflutet und Draganov mit kritischen Blicken, in denen er zu erkennen glaubte, wie sich der ein oder andere innerlich die Hände rieb: Also nicht nur der Graf Lisitsyn, sondern auch Fürst Draganov teilen mit unserer Herrscherin das Bett? Und ach, wie skandalös – sind wir etwa mitten in eine tragische Szene gestolpert? Er scheint ihr das Herz gebrochen und sie zum Weinen gebracht zu haben!

Setenays Lippen öffneten sich, doch ein gerader Satz oder auch nur ein richtiger Ton wollten ihr nicht gelingen. „Nein ... ich ...", wisperte sie und ihre Blicke zuckten panisch um her, wie die eines Tiers in der tödlichen Falle eines Jägers.

„Ihre Majestät fühlt sich nicht wohl. Migräne. Ihre Majestät der Zar hat mich gebeten, sie an die frische Luft zu begleiten", erklärte Draganov so nüchtern und souverän, dass sich fast so etwas wie Enttäuschung auf den Gesichtern der anderen abzeichnete. „Wenn Sie also erlauben?"
Damit führte er die Zarin sanft an den anderen vorbei und aus ihrer Reichweite.

„Danke", flüsterte Setenay irgendwann. „Was auch immer Sie gehört haben–"
„Was sollte ich gehört haben?"
Natürlich begriff die Zarin sofort dieses Versprechen seines Schweigens. „Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken–"
„Gar nicht, Eure Majestät. Ich sehe das als meine Pflicht an."

Abrupt blieb sie stehen und ihre Hände schlossen sich fest um seine. „Bitte, lassen Sie mich Ihnen danken. Niemand sonst hätte das getan. Alle warten nur darauf, mich scheitern zu sehen. Wenn Sie oder Ihre Familie jemals etwas brauchen sollten, genügt nur ein Wort."

Mikhail zwang sich, sie nicht länger anzusehen, doch wahrscheinlich war es hoffnungslos. Ihre zarten Finger um seine, diese vor Dankbarkeit strahlenden Augen ... Sein Herz erweichte sich längst wider seinen Willen und ein Hauch von Mitleid für die einsame Zarin, die zwar für ihre Schönheit bewundert wurde, aber nie geliebt, deren Leben hier von Ablehnung, Verzweiflung und Heimweh bestimmt war – und nun vielleicht auch noch von Liebeskummer.

Verflucht, Lisitsyn, was denken sie sich dabei?

Vorsichtig entzog Draganov sich ihrem Griff, in dem irrigen Wunsch sich damit auch dem Bann Setenays zu entziehen, der seinen kühlen, klaren Blick auf diese Angelegenheit zu trüben begann.

„Ich fühle mich geehrt, aber ich habe dem Zarenhaus die Treue geschworen und wenn Ihr mich braucht, diene ich Euch gerne." Mit diesen Worten verneigte er sich und flüchtete geradezu vor der Zarin, das Gefühl in etwas hineingezogen worden zu sein, mit dem er nie zu tun haben wollte, wie eine dunkle Wolke über ihm.

Durch den Palast irrend hoffte Mikhail seit Langem das erste Mal, jemandem über den Weg zu laufen und nicht seinen Gedanken überlassen zu sein. Am besten Lisitsyn, damit er ihm die Leviten lesen konnte, höherer Rang hin oder her.

„Mama? Bist du das? Komm rein und sieh dir mein Kleid an!", ertönte neben ihm eine Stimme, die Mikhail abermals innehalten ließ. Diesmal war es Zinaïdas und diesmal war er nicht gewillt sich in irgendeine unangebrachte Situation ziehen zu lassen.
Als er zu sprechen ansetzte, schnappte drinnen die Zarewna nach Luft. „Was machst du denn da, Parasha? Das ist zu eng."

„Aber die Damen in Finience tragen das jetzt so!", protestierte die Zofe, wie Mikhail vermutete.
„Dann überlasse ich es gerne den Damen von Finience, sich selbst zu foltern. Ich trage mein Korsett wie immer", erwiderte die Kronprinzessin ernst. 

„Was meinst du, ana?" Zinaïda wandte sich erneut gen Tür und die vermeintliche Zarin dahinter, diesmal in deren Sprache. „Komm doch endlich rein!"

„Eure Hoheit, ich muss Euch enttäuschen, ich bin nicht ...", setzte Draganov an. Doch die Zarewna riss bereits mit einem breiten Grinsen die verzierte Holztür auf, nur um dann mit einem verwunderten „Oh" direkt vor ihm zu erstarren.

„Sie sind das. Ich dachte ... Verzeihung, Sie ..." Verlegen suchte sie nach den richtigen Worten.
„Ich ... Ich habe mich wohl verlaufen. Tut mir leid, ich wollte nicht ..." Es kam nicht oft vor, dass Mikhail Draganovs durch und durch souveräne Fassade Risse erhielt, noch seltener aber, dass er in die peinliche Lage kam, beinahe in den Ankleideraum der Kronprinzessin gestolpert zu sein.

Zinaïdas Anspannung löste sich in einem glockenhellen Lachen auf. „Oh, das passiert hier schnell. Ana nennt den Palast immer ‚den Irrgarten'. Nun, wo Sie schon einmal hier sind und sie nicht, Gospodin Polkovnik, muss ich Sie nach Ihrer Meinung fragen."

Das Kleid, eine kreative Mischung aus aspravischer, velischer und finiencischer Mode, schwang wie die sanften silbrig-blauen Wellen des Weißen Meers um ihren Körper, als sie sich um ihre eigene Achse drehte. Auf ihrem dunklen Haar glänzte ein blassgoldener Kokoshnik wie Sternenlicht. Allerdings waren es ihr strahlendes Lächeln und das schelmische, aber aufrichtig freundliche Blitze in ihren Augen, die den Blick gefangen hielten. 

Vielleicht war dies das erste Mal, das Mikhail wirklich begriff, warum Zinaïda Chervenkova so verehrt wurde. Nicht wegen ihrer Schönheit. Nicht wegen ihrem Pflichtgefühl. Nicht wegen ihrem Verstand. Nicht nur. Es war diese einnehmende warme Aura, die sie umgab wie ein Heiligenschein.

„Was meinen Sie? Ist das für den heutigen Anlass angemessen?"
„Aber Eure Hoheit, das könnt Ihr doch nicht fragen!", flüsterte ihre Zofe ihr eindringlich zu, aber Zinaïda schien an der Situation nichts Unpassendes zu finden.

„Es vermittelt sehr passend die Eintracht zwischen Staaten und erinnert, bei aller Feier des Friedens, daran, dass die Feinde Velijas im Kriegsfall auch mit seinen verbündeten Nachbarländern rechnen müssen", antwortete Draganov sich räuspernd.
Zinas Augenbrauen schossen in die Höhe und ein Schmunzeln spielte um ihre Lippen. „Eine erfrischend ungewöhnliche Perspektive."

Zu seinem Glück oder Unglück unterbrachen sowohl ihre Mutter als auch Ergena die Szene.
„Ich habe Sie schon überall gesucht", meinte die Kresnitsa gespielt besorgt und Mikhail schloss sich ihr nach einem unangenehm verschwörerischen Blick, den er nicht mit der Zarin hatte austauschen wollen, an.

„Stellen Sie etwa der kleinen Zarewna bis in ihre Ankleideräume nach? Wie unanständig", zischte Ergena ihm mit einem bösen Grinsen zu, als sie außer Hörweite waren.

Draganovs Hände ballten sich zu Fäusten und seine Mund öffnete sich. „Gospozha Kapitan–"
Doch er hielt inne, als er spürte, dass die junge Frau ihm gar nicht zuhörte. 

Ihr Blick hing an einem gewaltigen Gemälde, von dem aus Krieger aus weißen, steinigen Gipfeln auf Reittieren direkt auf sie zustürzten. Ihre goldenen Hufe und Hörner, und der Münzschmuck glänzten in einer blassen Wintersonne – ebenso wie die Helme, Klingen ihrer Schwerter und Spitzen ihrer Pfeile. Am Fuße des aspravischen Gebirges erwartete die fremden Kämpfer eine kleine Truppe unter der Führung eines stoisch dreinblickenden Feldherrn.

Es zeigte die Schlacht bei Bjalsk, die den Beginn des Endes der Vargije bezeichnete, der barbarischen Räuber aus den Bergen. Keiner dieser Männer war heimgekehrt und ihre Waffen zierten die Wand neben der eindrücklichen Darstellung.

Ergena betrachtete ihre eigenen, vom Maler so eindrücklich als Feind inszenierten Vorfahren mit fest aufeinander ruhenden Lippen. Was dabei in ihr vorging vermochte nur Kresnik alleine zu sagen.

Es war eine Eigenart von Altingrad, dass ihre Bewohner immer alle Gefühle mit ihr teilen mussten. Trug sie den weißen Trauerschleier des Nebels, mochte man selbst dazu greifen und. Wenn die Frühlingssonne den glitzernden Schnee schmolz, taten es ihm die Herzen gleich. Weinte Altingrad war auch ihren Kindern danach zumute, lachte sie, begegnete man auf der Straße einer Vielzahl fröhlicher Gesichter. 

So ist es und so war es immer schon gewesen und am Ende wusste niemand mehr ganz genau, ob nun die Bewohner Spiegel der Stadt oder die Stadt Spiegel ihrer Bewohner war, nur, dass ihre Stimmung etwas mitreißendes, besonderes war, dem sich niemand so recht entziehen konnte. 

Heute feierte Altingrad. Die Dächer, verfärbten Blätter und die Passanten mit der Sonne um die Wette und vertrieben die vergangen trüb-herbstlichen Tage. Die gesamte Stadt stand in Flammen der Begeisterung.

Unter Mikhail schnaubte sein Pferd in Erwartung der bevorstehenden Parade und wandte seinen Kopf kurz in die Richtung seines Nachbarn, Lisitsyns Reittier.
Valentin hatte sich zu dem Hengst herabgebeugt und murmelte ihm liebevolle Worte zu, während er seine Hand über den kräftigen, ungewöhnlich rot-braun gefleckten Hals gleiten ließ. „Na, Sharkolija, ist das nicht mal ein Publikum nach unserem Geschmack?"

„Sharkolija? Wie das Pferd des legendären Helden?"
Ein stolzes Grinsen breitete sich auf Valjas Lippen aus. „Ganz recht. Passt ganz hervorragend zu ihm nicht? Sie sollten uns auf der Rennbahn sehen – ich wette mein Sharkolija könnte selbst seinen Namensvettern einholen."
Der Hengst schnaubte zur Bestätigung.

Mikhail suchte nach den richtigen Worten, um das Thema zu wechseln. „Was ich Ihnen vorher sagen wollte ..."
Grün-leuchtende Augen legten sich auf ihn. „Nein, unterstehen Sie sich. Heute ist ein viel zu wundervoller Tag für Sorgen. Haben Sie Spaß! Wann liegt uns schon einmal ganz Altingrad mit solcher Ekstase zu Füßen? Also machen Sie kein so grummeliges Gesicht, Mishka."

Damit zwinkerte Valentin ihm zu und trieb seinen Sharkolija auf das Signal der beginnenden Parade hin an.

Mikhail starrte ihm hinterher. Hatte Lisitsyn ihn gerade wirklich so genannt? Er hätte es als Affront auffassen können, dass er es wagte, ihn mit einer solchen Verniedlichung seines Namens anzusprechen, aber er wusste ganz genau, dass der Graf damit noch viel mehr gemeint hatte. Mishka, Bärchen.

Allerdings blieb ihm keine Zeit, länger darüber nachzudenken, denn nun musste jeder Bewegung in einer großen einzigen verschmelzen. Die Musik hatte eingesetzt, kämpfte mit dem Trubel zu seinen Füßen um die Vorherrschaft, während sich der Festzug durch Altingrad schlängelte. Reihe um Reihe reich geschmückter Uniformen und die schönsten Pferde des Landes und in Mitten all dessen die Herrscher der größten Reiche Agvilas selbst, die sich dem Volk präsentierten. 

Valentin schien sich seine eigenen Worte durchaus zu Herzen zu nehmen, denn er sonnte sich mit einem stolzen Lächeln in dem Jubel, der ihnen zuteilwurde. Selbst in Ergenas Zatsepinas Gesicht, auf das er einen kurzen Blick erhaschte, erkannte er ernsten Stolz hier sein zu dürfen.

 Langsam spürte Mikhail in sich dasselbe Gefühl erwachen, während er in die fröhlichen Gesichter blickte, Blüten werfende und Fahnen schwenkende Hände betrachtete und in seinem Torso der Siegesmarsch über die Schrecken des Kriegs vibrierte, in dessen Rhythmus sein Herzschlag trommelnd mit einstimmte. Euphorie und Stolz rauschten durch seine Adern.

Altingrad lag ihm zu Füßen.

Unter Jubel ritt Zinaïda an der Seite eines verbissenen, finiencischen Prinzen nach vorne. Ihrer beider Hände hielten eine kunstvolle mit Linden umschlungene Fackel in den Himmel. Das Licht Kresniks und Aels, des Lebens, das sie aus der Dunkelheit leiten sollte. 

Bei genauer Betrachtung hätte man gemerkt, dass der Imperator nicht begeistert davon war, dass diese symbolische Geste von gerade diesem seiner Söhne übernommen werden musste, doch wer wollte auf so etwas heute schon achten? Im Übrigen galt die größte Aufmerksamkeit ohnehin der lebenden Heiligen, die diesem Bild der Brüderlichkeit ein zusätzliches Strahlen bescherte.

„Für ewigen Frieden!", der Ausruf drang in seinem so enthusiastischen, unverstellt echten Ton aus ihrer Kehle, dass der letzte zündende Funke mit ihm sofort übersprang. Für einige mochte der allgemeine Lärm die Worte zwar verschluckt haben, doch auf den Lippen der Zuschauer verbreitete er sich wie ein Lauffeuer bis in die dunkelste Gasse der Stadt.

„Für ewigen Frieden!", hallte es durch ganz Altingrad und Mikhail merkte erst nach einigen Augenblicken, dass er selbst sich davon mitreißen hatte lassen und mit eingestimmt hatte.

Die Stadt wollte vor Freude zerbersten – bis ein Knall die Luft zerriss und die Welt um Draganov in ein grausames Chaos stürzte.

✥            ✥            ✥

In einer merkwürdigen Mischung aus Vorfreude und Panik erklomm Zarja die Stufen des hellen Gebäudes, in dessen Mauern sich die Militärakademie befand. Oder vielmehr, Kalin, wie sie sich jetzt nannte. Innerhalb einer Nacht hatte sie alles getan, um ihre Verwandlung zu vervollständigen. 

Dem kurzgeschnittenen Haar hatte sie so gut es ging die charakteristische Farbe entzogen, wobei sich das Färbemittel bloß verdunkelnd darübergelegt hatte, ohne aber etwas daran zu ändern, dass die nunmehr mahagonibraunen Strähnen im Licht tiefrot glänzten. 

Nevenas Geschick mit Nadeln, das wenn es nicht gerade darum ging einen Stofffetzen so oft zu flicken bis er sich wieder „Kleidung" nennen durfte – darin war Zarja nämlich ungeschlagene Meisterin – weitreichender war als ihr eigenes und das ein oder andere im Güldenen Bären vergessene Teil hatten ihre Garderobe aufgewertet.

Das zusammen mit dem Korsett, unter dem sie die leichte Wölbung ihrer Brüste geschickt verbarg, ließ sie wie einen gewöhnlichen jungen Mann aussehen. Nicht wie eine halbverhungerte, abgerissene ehemalige Sklavin.

Mit jedem Schritt glaubte sie selbst mehr an diese Illusion und konnte sich dabei nicht recht entscheiden, ob sie sich in dieser neuen Gestalt mehr als sich selbst fühlte als jemals zuvor oder noch fremder.

Doch das minderte nicht die Angst, die Zarja, oder nun eher Kalin, die Eingeweide verkrampfte, als sie auf die Portiersloge zuschritt. In ihrem Rücken hörte sie das Tosen auf der Straße, voller Vorfreude auf die bald vorbeiziehende Parade.

Auch sie wäre lieber dort gewesen, doch Zarja witterte das als die ideale Chance. Abgelenkt vom heutigen Geschehen würde keiner allzu genau auf ihre Papiere achten und sollte sie doch auffliegen, erleichterte ihr das allgemeine Treiben die Flucht.

„Guten Tag, ich würde mich gerne für die Militärakademie einschreiben", erklärte sie so leichtfertig und selbstbewusst, als erledige sie hier nur eine lästige und absolut gewöhnliche Notwendigkeit. Dabei zwang sie ihre Stimme trotz Nervosität eine Terz tiefer zu erklingen.

Ihre Papiere warf sie auf den Tresen, während ihr Blick wie sehnsüchtig die Halle entlang hinaus auf die Straße wanderte. Und ganz gespielt war das nicht, denn jetzt hätte sie zu gerne noch einmal Nevenas aufmunterndes Lächeln gesehen, von dem die Tür sie nun trennte.

Wäre doch gelacht, wenn du das nicht hinkriegst, hallten ihre Worte in Zarjas Gedanken wider.

„Die Shchtekin oder die Kaiserliche?", fragte der mürrische Portier als wüsste er es nicht besser. Zwar befanden sich beide im selben Gebäudekomplex, bloß in unterschiedlichen Trakten, doch Zarja sah nun wirklich nicht wie einer von jenen gutbetuchten Aristokratensprossen aus alteingesessenem Adelsgeschlecht aus, die in die bedeutendste Militärakademie Velijas gelassen wurde. Eher gerade gut genug für die der Normalsterblichen.

„Shchetkin."
Unwillig beugte sich der Mann über ihre Papiere. „Kalin Gordejevich Nikolajev?"
Das ist also mein ganzer Name?

Wie ungeduldig ob der überflüssigen Fragen trommelten Zarjas Finger auf die Platte des Tresens und sie warf einen prüfenden Blick auf die Taschenuhr ihres Vaters.
„Richtig."

Die Augen des Mannes blieben an ihrer verletzten Wange hängen, als würde sie dadurch an Vertrauenswürdigkeit verlieren.
„Störrisches, neues Pferd", erklärte Zarja nüchtern. Reiten, das taten doch die besseren Bürger gerne, oder nicht?

Zwar runzelte der Portier die Stirn, ließ es aber auf sich beruhen. „Haben Sie Zeugnisse?"
„Zeugnisse?", wiederholte sie mit tauber Zunge. Ströme von Kälte und Hitze wuschen über sie hinweg. In ihrem Rücken ertönte die velische Hymne, die die Parade begleitete.

„Ja", murrte der Portier und musterte sie mit seinen kühlen, blauen Augen. „Zeugnisse. An irgendeiner Kadettenschule, einem Gymnasium oder was auch immer werden der Herr wohl gewesen sein."

Wäre ich vielleicht, wenn ich nicht damit beschäftigt gewesen wäre, mich ausbeuten zu lassen, schoss es ihr durch den Kopf. Allerdings war ihr vollkommen klar, dass das nicht die richtige Antwort war und sich mit einem „nein" ihrerseits die Tore dieser Akademie sofort verschließen würden.

„Natürlich", antwortete sie also hastig. „Aber ich habe die Zeugnisse nicht bei der Hand. Ich dachte, meine Familie hätte sie bereits an Ihre Institution geschickt. Ist das Schreiben nicht angekommen?"

Der Mann seufzte, ein Laut, der aus dem tiefsten Inneren seiner Seele zu kommen schien und mit all der Resignation über seinen Beruf und Status, die ihn jetzt hier an seine Loge fesselten, gefüllt war. 

„Hören Sie, Gospodich Nikolajev, mir liegt hier nichts vor und wie sie sich denken können, befinden sich alle Angestellten dieses Hauses bei der Parade." Außer ich armer Tropf natürlich, der von hier drinnen dem ganzen Spektakel nur zuhören darf, schien in diesen Worten mitzuschwingen.

„Füllen Sie doch erstmal diese Formulare aus."
Formulare ... ausfüllen ...? Es waren diese zwei simplen Worte, die ihr den Schweiß ausbrechen ließen. Mit einer Intensität als könne ihr alleine Willenskraft verraten, was auf dem Papierbogen geschrieben stand, starrte Zarja auf die vor ihren Augen verschwimmenden Buchstaben und griff mit zitternden Fingern nach dem Stift. 

„Für ewigen Frieden", tönte es von draußen.
Das war das Ende ihrer Reise. Besiegelt durch den verfluchten, einfachen Auftrag ein paar Worte auf ein Blatt Papier zu kritzeln. Beinahe wäre der Stift in ihren Fingern zerbrochen.

Wie hatte sie auch jemals gedacht, es hier rein schaffen zu können? Vielleicht wäre tatsächlich klüger gewesen, dort zu bleiben wo sie sicher war.

Ein ohrenbetäubender Knall zerriss die Luft. Der Boden bebte. Glas zerbrach. Panische Schreie.
Für einen Augenblick glaubte Zarja, die Welt müsse jetzt enden. Der Stift glitt ihr aus den Fingern und spritzte Tinte über das Papier und ihre Finger. Ihr Herz verkrampfte sich in der Erwartung des Endes, wie auch immer es aussehen mochte.

Erst dann begriff sie: die Parade! Nevena!

„Bei Kresnik ...", wimmerte der Portier, bleicher als die Wand hinter ihm. Die freie Hand, mit der sich nicht verkrampft am Tresen festhielt, um nicht vollständig zu Boden zu sinken, nestelte nach einem Talisman um seinen Hals.

Ohne weiter darüber nachzudenken machte Zarja auf dem Absatz kehrt und lief. Allerdings nicht, wie jeder vernünftige Mensch es getan hätte, weg von der Gefahr, sondern ihrem Herzen zu.

Sie hatte die Tore der Akademie bereits wieder erreicht, als ihr der Mann hinterherrief. „Was machen Sie denn? Sind Sie verrückt!?"

„Vermutlich." Ob er ihre Antwort gehört hatte, wusste sie nicht, doch es spielte auch keine Rolle. Mit durch das Adrenalin, das ihren Körper flutete, bebenden Händen riss sie die Tore auf und stürzte sich hinaus in das Chaos aus Rauch, Panik und Tod.

_____________________________

Ja, ja, ich habe versprochen, dass es bald wieder Action gibt: und da kommt die Action! Und das Drama. Dafür auch mal wieder ein etwas längeres Kapitel, was man mir hoffentlich verzeihen möge.

Zu den Anreden, die ich benutze ein kleiner Infodump, der aber auch ins Glossar kommt, keine Angst: Ich dachte mir, weil die velische Gesellschaft weniger durch Sexismus geprägt ist bzw. dieser zumindest weniger vertikale als horizontale Einschränkungen bietet, bräuchte es eigentlich für "Fräulein" ein männliches Äquivalent, wobei ich mich für "gospodich", passend zu gospodichna entschieden hab. In der Realität bedeutet es semantisch zwar so viel wie "Männlein", also für einen kleinen (alten) Herrn, aber Fantasy darf das und so weit ist ja nicht um :'D

Wie immer bin ich auf eure Meinung gespannt ^^

Bạn đang đọc truyện trên: Truyen2U.Pro