𝟔.𝟑 | 𝐕𝐨𝐧 𝐊𝐫𝐢𝐞𝐠 𝐮𝐧𝐝 𝐅𝐫𝐢𝐞𝐝𝐞𝐧

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Für einen Moment legte sich erdrückende Stille um die Welt. Schwarze Raben stoben von einem der Dächer auf in den Himmel, der mit einem Mal verdunkelt erschien – die Sonne wandte ihr Antlitz von dem ab, was hier auf Erden geschah.

Als würden die Tore zur Unterwelt aufgebrochen, zersprang das Pflaster der Dubravskajastraße in einer Wolke aus Staub. Es war ein Anblick wie Mikhail ihn so oder so ähnlich bereits durch Artilleriegeschosse gesehen hatte, nur dass diese plötzliche Zerstörung keine sichtbare Ursache zu haben schien.

Beinahe hätte man glauben können, die Schlange würde sich aus dem Krater winden, um dem alten Kreislauf zu folgen und Kresnik seine Vesina zu rauben.

Mit einer erschreckenden Leichtigkeit wurden Menschen in die Luft gehoben, wie Puppen von einer grausamen Hand. Vor sich sah Mikhail dieselbe unsichtbare Gewalt Sharkolija und Valentin erfassen, der von seinem Hengst geschleudert wurde.
Ihm blieb keine Zeit, den unabwendbaren Aufprall mitanzusehen.

Bevor er die Entscheidung selbst treffen konnte, spürte Draganov sich selbst vom Pferd springen. Dann – – ein Schlag gegen seine Brust, der in seinem Inneren widerhallte und es erbeben ließ. Ein ohrenbetäubender Knall, der ihm das Trommelfell zu zerreißen schien. Sterne, die vor seinen Augen tanzten und ihm die Sicht raubten. Und schließlich eine Welle aus Schmerz. Sie wusch über seinen Körper hinweg, in dem Moment, da er mit dem harten Grund zusammentraf. Ernüchternd und betäubend zugleich.

Neben seinem Gesicht trommelten Hufe, wahrscheinlich die seines eigenen Pferds, auf das Pflaster und verfehlten ihn nur knapp.
Schwarze Raben, der Tod zieht an mir vorbei ... Ach was, Ammenmärchen!

Bilder einer anderen Welt rauschten an seinem inneren Auge vorbei; von spitzender Erde, Schießpulver in der Luft, Schussgewitter und dem Vibrieren von Magie. Doch das hier war nicht das Schlachtfeld, nicht die Ferne, das hier war Altingrad!

Für einen Moment, vielleicht mehrere, blieb Mikhail nichts als in dieser Position zu verharren, während die Welt um ihn unterging, die Hände schützend um seinen Kopf geschlungen.

„Für Freiheit!", ertönte ein wütender Schrei, wie eine Antithese zu dem begeisterten Jubel der Masse, der vor nur wenigen Sekunden die Straßen erfüllt hatte.

„Kresnik, stürze den Zaren!" Es war eine Verhöhnung des ersten Verses der velischen Hymne: Kresnik, schütze den Zaren.

Um Mikhail donnerte es erneut.
Ein Anschlag!

Gegen den Schmerz, der wie brennendes Blei in jeder Faser seines Körpers saß, ankämpfend, raffte er sich auf. Der Griff seines Säbels schien ihm dabei wie ein Rettungsanker, an dem er sich auf die Beine ziehen konnte, selbst, wenn die Waffe in diesem Augenblick unbrauchbarer nicht sein konnte.

Mikhail schüttelte den Kopf, um den Nebel, der sich um seine Sinne gelegt hatte, zu vertreiben. Rauch kratzte ihm mit jedem Atemzug in Nase und Lunge und schien sich dort festzubeißen. 

Am liebsten hätte er es mit einem Schluck Mastika weggespült. Automatisch zuckten seine Finger in Richtung seiner Tasche, tasteten jedoch in eine enttäuschende Leere.

Dem letzten Tropfen hatte er schon vor Wochen in die Erde sickern sehen; eine Gabe an Veles, als er dem beruhigenden Rausch abgeschworen hatte.
Draganov ließ seine Hand wieder sinken.

Die Blicke des Fürsten zuckten durch seine Umgebung und ihnen schlug nichts entgegen als Zerstörung. Zersplittertes Pflaster und ein Kampf aus menschlichen und tierischen Leibern, die wild in alle Richtungen flohen, sich dabei gegenseitig stießen, verletzten und über jene stolperten, die zu Boden gerissen worden waren – oder das, was von einigen übriggeblieben war.

Sicherheitskräfte der Politsija, die den sicheren Ablauf der Parade hätten gewehrleisten sollen, waren zerstreut, verwundet oder tot und die, die um die Wiederherstellung der Ordnung noch kämpfen konnten, taten dies vergeblich. Ihre Autorität versagte im Angesicht der Todesangst.

Ein Mann, dessen Bein in blutigen Fetzen endete, brüllte vor Schmerz, auch wenn Draganov es nur sehen und nicht hören konnte in diesem Dröhnen aus Geschrei und dem Pfeifen in seinen Ohren. Die Menge trampelte achtlos über ihn hinweg, bis ihn ein Huf am Kopf traf und zum Schweigen brachte.

Ja, das war das Getümmel eines Schlachtfelds – mitten in ihrer Hauptstadt am Tag des Friedens.

Draganov wandte sich ab und seinem Kavallerieregiment Devana zu. Mit zerrissenen, schmutzigen Uniformen hievten sich in Mitleidenschaft gezogene Körper auf die Beine. Einige schienen mit ein paar Kratzern glimpflich davongekommen zu sein, andere waren von umherschießenden Splittern getroffen.

Lisitsyn entdeckte er nirgendwo. War er etwa...? Für einen Moment, sah er ihn unter jenen, die in Stücke gerissen worden waren; eine blutige Masse aus Gliedern, die nichts mehr von dem glücklich strahlenden Mann übrigließ, der er vor wenigen Minuten noch gewesen war. Sofort verbannte er diesen Gedanken.

„Polkovnik ...", stieß ein zerzauster, aber sonst unversehrter Bjalski atemlos aus. „Sie sind verletzt."

Verwundert berührte der Fürst sein Gesicht und spürte klebriges Blut an seinem Fingern, das ihm über die Stirn lief.
„Bloß Kratzer. Wo ist der Generalleutnant?" 

„Verschwunden. Ich habe ihn weder lebend noch tot gesehen", antwortete Bjalski und die anderen nickten mit grimmigen, bleichen Gesichtern.
Mikhail biss die Zähne zusammen.

Wo er auch war, er konnte unmöglich unverletzt sein. Nach ihm zu suchen hätte jetzt kostbare Zeit verschwendet, die sie vermutlich nicht hatten. Er musste sich an jemand anderen wenden.

Es war wohl bloß Zufall – überaus glücklicher Zufall –, dass er in diesen Moment eine Bewegung aus den Augenwinkeln registrierte, die in dem Meer aus Panik seltsam ruhig und kontrolliert erschien und sich dem Strom entgegenstellte. Eine einsame, dunkel gekleidete Gestalt, eine Schiebermütze tief ins Gesicht gezogen, schlängelte sich geschickt durch den Tumult. In ihrer Hand blitzte eine Waffe auf.

„Ein Bewaffneter ... der Zar!" Die Zarewna!
Noch bevor Draganov ein Kommando erteilen hätte können, löste sich ein Soldat aus der alarmbereiten Menge, dem mutmaßlichen Attentäter hinterherhetzend und seine eigene Pistole gezückt.

„Was fällt Ihnen – stehenbleiben!", rief Mikhail ihn zurück. „Das ist ein Befehl!"
Doch wie ein unfolgsamer Hund zeigte der junge Mann nicht einmal die Andeutung eines Zögerns, womit er seinen Polkovnik fluchend zurückließ, der nichts weiter tun konnte als zu hoffen, dass dieser Idiot sich oder andere nicht ins Grab beförderte. Einen Moment später war der unbekannte Soldat bereits im Durcheinander verschwunden.

„Finden Sie Feldmarschall Wieworka. Bis dahin obliegt die Befehlsgewalt Kapitan Hrushka", bestimmte Draganov in einem gehetzten Staccato.

Zwar zeichnete sich ein Hauch von Verwunderung in den Zügen des Angesprochenen ab, doch keiner kam auf den Gedanken zu widersprechen. „Der Schutz der Zarenfamilie hat oberste Priorität. Rotovnik, Otrjadyn, Sie kommen mit mir."

Das hastige Salutieren wartete Mikhail nicht mehr ab, bevor er seine Pistole zog und mit den anderen beiden der Gestalt nachhetzte.

„Wie lautet der Befehl?", fragte Otrjadyn, ein kräftiger Vargij mit markantem, gutturalem Akzent, im Laufen.
„Wir teilen uns auf, kreisen ihn ein. Sonst verlieren wir ihn."

„Und wenn–", setzte Rotovnik an, der optisch das exakte Gegenstück zu seinem Kameraden darstellte – wendig, kleingewachsen und blond.
„Zögern Sie nicht, ihn auszuschalten", erklärte Mikhail ernst.

Damit schwärmten sie jeder in seine Richtung auseinander, stetig bedacht, den Mann in der sich nur langsam lichtenden Menge nicht aus den Augen zu verlieren.

Einige, wohl mehr aus Gewohnheit, wichen zwar beim Anblick der Uniformen oder Waffen ein wenig zur Seite, doch die allermeisten waren zu sehr auf ihre eigene Flucht bedacht oder konnten, selbst wenn sie es gewollt hätte, in dem Gedränge kaum den Platz freigeben.

Dementsprechend langsam schlug Draganov sich einen Weg hindurch, den Blick stetig an die Gestalt vor ihm geheftet.

Irgendjemand stieß ihm fest den Ellbogen in die Rippen, ein anderer rempelte ihn mit vollem Gewicht an.

Verflucht, so war er viel zu langsam!
Blieb nur zu hoffen, dass Rotovnik und Otrjadyn schneller vorankamen.
Für einen Moment erhaschte er freien Blick auf den Fremden; freie Schussbahn.

Ohne Zögern riss Mikhail seine Pistole hoch und krümmte den Finger um den Abzug. Unter dem zarten Rückstoß zuckte sein Arm kurz, während die Kugel längst die Luft durchschnitt – und ihr Ziel gewaltig verfehlte.

Wie auf ein verfluchtes, alles vernichtendes Signal hin stürzte sich ein Soldat auf den Attentäter, der seine Attacke wie eine unangenehme, aber nicht weiter beeinträchtigende Rempelei mit einem Schlag abwehrte.

Zwar taumelte der junge Offizier sofort zurück und landete wenig glorreich auf seinem Hinterteil, jedoch hatte das ungeschickte Unterfangen genügt, den anderen aus der Schussbahn zu befördern.

Stattdessen streifte die Kugel den Arm einer unglücklichen Passantin. Sie stieß einen gellenden Schrei aus und neu entfachte Furcht ließ die Menge auseinanderstieben.

Fluchend griff Draganov nach seiner zweiten Waffe. Für ein Nachladen blieb keine Zeit. Warum musste er auch bloß die Einzellader bei sich haben, die für die Parade zwar edel anzusehen waren, aber in einem Moment wie diesem denkbar ungünstig?

Ein Schuss ertönte. Doch es war nicht sein eigener.

Mit erkaltendem Blut in seinen Adern beobachtete er den Attentäter, der nun seinerseits seine Pistole erhoben hatte.
Nicht aber in seine Richtung, sondern in die entgegengesetzte.

Hätten es nicht mittlerweile genug Passanten aus dem Brennpunkt des Geschehens geschafft oder sich zumindest mit weit aufgerissenen Augen gegen eine Hauswand gepresst, wäre ihm das Opfer dieses Angriffs vielleicht entgangen. Doch so konnte er die Person erkennen, in deren Oberschenkel sich die Kugel schlug, um sie zu Boden zu reißen.
Rotovnik!

Mikhail drückte ab.
Das Projektil riss ein sauberes Loch in die Schiebermütze des Mannes und beförderte sie zu Boden. Deren Besitzer allerdings lief unbehelligt weiter, stürzte sich geschickt in die Menschenmenge in Richtung Befreiungsplatz und war im nächsten Moment verschwunden.

Für den Bruchteil einer Sekunde erwog der Polkovnik, sich ihm hinterher durch das Chaos zu kämpfen, wandte sich aber stattdessen dem Verwundeten zu, aus dessen Wunde ein unaufhörlicher, gewaltiger Blutstrom sickerte und das Pflaster besudelte.

Das sah nicht gut aus. Sich jegliches Zeichen von Sorge versagend, riss er sich die Hüftschärpe vom Körper, ging vor Rotovnik auf die Knie und begann, sie ihm ums Bein zu schnüren. Warmes Blut lief ihm über die Finger. Mit einem Hauch von Erleichterung spürte Mikhail den Puls an der Wunde ersterben.

„Bei den zehn Heiligen", spie Draganov aus zusammengebissen Zähnen aus und durchbohrte den jungen Offizier, der die Schuld an alledem trug, mit Blicken, weil er es mit seinem Säbel nicht konnte. „Was haben Sie sich dabei gedacht? Sie hatten einen Befehl!"

Jener hatte sich langsam wieder aufgerappelt und stand nun mit einer Mischung aus Hilflosigkeit und Trotz wie sie störrischen Kindern zu eigen war vor ihm.

So sah er trotz der prächtigen Uniform auch aus: Wie ein Junge, nicht wie ein Mann im Offiziersrang. Ein Widerspruch, den Mikhail nicht aufzulösen vermochte, denn obwohl ihm etwas an den weichen Zügen und blauen Augen des anderen vertraut erschien, konnte er dem Gesicht keinen Namen zuordnen. 

„Ich wollte ihn aufhalten, wenn es sonst niemand tut", erwiderte der Junge ernst und reckte, um sich selbst zu bestätigen, die Brust nach vorne.

„Und haben ihm dabei zur Flucht verholfen und die Verwundung eines Kameraden zu verantworten, Sie Dummkopf. Dafür sollte ich sie degradieren und auspeitschen lassen."
Draganov fühlte den Zorn in seiner Magengrube kochen ob dieser Arroganz.

Eine aufgebrachtes Glänzen erhellte die Augen seines Gegenübers, das die Hände zu Fäusten ballte. Als er sprach, zitterte seine Stimme. „Was denken Sie, wen Sie hier vor sich haben, Polkovnik?"

Irritiert musterte Mikhail das Bürschchen, das sich ihm gegenüber wesentlich mehr herausnahm, als gut für ihn war. Wer konnte er schon sei ...? Er beendete den Gedanken nicht, denn die Realisation traf ihn wie eine Ohrfeige.

Vasilij Chervenkov, der junge Zarewitsch, der seit kurzem offiziell im Heer diente. Natürlich als Zarensohn nicht wie jeder andere.

Deshalb erschien er Draganov so vertraut; er war ein Ebenbild seiner Eltern. Ohne ganz nach einem von ihnen zu kommen, vereinte er in sich markante Eigenschaften beider. Rein äußerlich, denn mit deren Güte, Ruhe oder Vernunft war er eindeutig nicht gesegnet.

Großartig, er hatte also einen Sprössling des Zaren beleidigt. Was würde ihm das kosten? Seine Chance jemals General zu werden? Vielleicht sogar seinen Rang? Oder –

Ach, soll ihn doch die Schlange holen!
Sie mussten von der Straße weg, alles andere dagegen war zweitrangig.

„Das... das ist Majestätsbeleidigung", blies sich der Prinz vor ihm auf, „dafür könnte ich Sie–"

„Wir müssen hier weg. Helft Ihr mir oder wollt Ihr lieber Euren Männern beim Sterben zusehen, Eure Hoheit?", schleuderte der Polkovnik Vasilij entgegen, ohne ihn zum Ende kommen zu lassen.

Überraschenderweise zeigte es Wirkung, denn er verstummte mit noch geöffnetem Mund und glotzte Mikhail für ein paar Wimpernschläge erschrocken an.

„J-Ja... ich meine nein", brachte er schließlich stammelnd eine Antwort zustande.

Etwas steif setzte sich der Zarewitsch in Bewegung und half Mikhail, den gequält stöhnenden Soldaten weiter weg von dem Gedränge in eine schützende Gasse zu tragen.

Dass es nicht gut um ihn stand, bedurfte keines Experten. Rotovnik war bleicher als die frischgetünchte Wand, an die sie ihn lehnten, schweißgebadet und zitterte wie Espenlaub.

Das Projektil steckte noch im Fleisch, hatte vielleicht sogar den Knochen verletzt und musste dringend entfernt werden, was er hier nicht konnte. Hierfür brauchte es keinen Arzt, sondern besser einen Kresnik.

„Tu-Tut mir leid... Ich... hab ihn entkommen lassen...", stieß Rotovnik zischend hervor, ein schmerzerfülltes Wimmern, das ihm über die bebenden Lippen schlüpfen wollte, merkbar unterdrückend.
„Reden Sie keinen Unsinn."
Wenn jemand Schuld daran trug, dann Vasilij.

„Wir brauchen einen Heiler, sofort", meinte Mikhail mit einem flüchtigen Blick auf den Zarewitsch, der ihm nichts Gutes verriet.

Mittlerweile war der Junge fast so blass wie der Verletzte, nur mischte sich ein grünlicher Ton hinzu, und erweckte mit seinem unruhigen Atmen und Schlucken den Eindruck, als würde er sich gleich übergeben müssen.
Das hätte uns gerade noch gefehlt.

Draganovs Worte schienen nicht recht zu ihm durchdringen zu wollen, denn er starrte wie versteinert auf die Wunde. Vermutlich hatte der Junge nie dergleichen gesehen. Doch Mikhail konnte jetzt kein Verständnis für Vasilijs Schock aufbringen. Nicht, wenn er dazu führte, dass einer seiner Männer dafür bezahlen musste.

„Sie wollen einen Ved'mak an mir rumpfuschen lassen? Rozhanitsy steht mir bei", warf Rotovnik mit einem rauen Lachen ein, das nahtlos in einen Schmerzenslaut überging.

Auf der Straße rief jemand verzweifelt einen Namen; eine Stimme, die sich kurzzeitig aus dem Lärm erheben konnte, bevor das allgemeine Getöse sie wieder verschluckte.

Mikhail verlor die Geduld. „Worauf wartet Ihr noch?!"

„Sie meinen, ich...", krächzte Vasilij und sah ihn an wie ein verschrecktes Kaninchen die Zähne eines aspravischen Berglöwen.

„Ja, verdammt. Es sei denn Ihr könnt Euch um die Wunde kümmern. Dafür müsstest Ihr aber Euren Sicherheitsabstand von einem Meter aufgeben."

Vermutlich war es nicht weise, doch Mikhail gelang es nicht, seinen bissigen Ton hinunterzuschlucken. „Also, los! Beschafft mir einen Heiler!"

Mit wackligen Beinen lief der Zarewitsch davon, mitten in den Tumult, in dem Mikhail nun selbst wohl auch hätte sein sollen, um seinem Souverän zu dienen.

„Sagen Sie nicht, mein Leben hängt von diesem royalen Schwächling ab", schnaufte Rotovnik und das erste Mal schlich sich dabei ein Bjalsker Dialekt in seine Stimme; rau wie die felsigen Berge, an deren Fuße die Stadt lag.

„Höchstens das Ihres Beins", erwiderte Draganov trocken. Eine glatte Lüge. Zwar spürte er das todbringende Pochen des Lebens nach wie vor nicht unter seinen prüfenden Fingern und der Blutfluss schien versiegt, doch diese notdürftige Versorgung erkaufte ihnen bloß ein wenig Zeit.

„Verflucht, dann sollte ich besser schon mal üben an Krücken zu laufen." Rotovniks Nasenflügel blähten sich unter einer Mischung aus Lachen und Stöhnen, doch selbst sein unveränderter Humor konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass sein Leben langsam zwischen Mikhails Fingern hindurchrann, wie das Blut, das an ihnen klebte.

Die nussbraunen Augen des Soldaten wandten sich gen Himmel, als suche er dort etwas, das sich Draganovs Wahrnehmung entzog.
„Schon eigenartig. Ich dachte immer, ich würde am Schlachtfeld sterben – mit einem sauberen Schuss vom Pferd gefegt. Stattdessen blute ich langsam in einer Altingrader Gasse aus. Hatte mir ein heldenhafteres Ende erhofft."

„Sie werden nicht hier sterben", erwiderte Mikhail. Es klang hohl in seinen eigenen Ohren.
Wieder ertönte ein Donnern. Schüsse knallten.

Sofort zuckten Mikhails Blicke zur Straße, doch er konnte nichts von dem Geschehen erkennen. Ich sollte nicht hier sein. Ich sollte...

„Lassen Sie mich hier."
Im Stillen verfluchte sich der Fürst, dass seine Gedanken so leicht zu lesen waren.

Um zumindest das zu überspielen, zog er seine Jacke aus und deckte Rotovnik damit zu, auch wenn er wusste, dass die Art von Frieren, die seinen Körper schüttelte, nicht mit ein bisschen Stoff überwunden werden konnte.
„Vergessen Sie's."

„Ich bin schon so gut wie im Vyraj, aber da drüben ist die Hölle los und die brauchen Sie." Rotovnik leckte sich wie durstig die Lippen, über denen Schweißperlen glänzten. „Gospodin Polkovnik, ich habe Familie in Belsko."
Belsko – Mikhail hatte diesen alten Namen der Stadt Bjalsk nie außerhalb von Geschichtsbüchern gehört.

„Schreiben Sie ihnen", Rotovniks Hand schloss sich fest um seine. Kühl und feucht, kein gutes Zeichen. Wo bleibt der verdammte Heiler?

Die dunklen Augen des Soldaten bohrten sich mit einer Dringlichkeit in Mikhails, dass es ihm einen Stich versetzte. „Bitte. Sorgen Sie dafür, dass Sie das Sterbegeld bekommen. Und sagen Sie ihnen–"

Schritte näherten sich. Beinahe hätte Mikhail erleichtert aufgeatmet.
Doch als er den Kopf hob, blickte er weder in das Gesicht eines Kresniks, noch das Vasilijs, sondern in Otrjadyns.

„Ich hab ihn verloren", meldete der Soldat grimmig und als sein Blick auf seinen Kameraden fiel, verdüsterte er sich noch weiter. „Wenn ich diesen Schlangensohn finde, reiß ich ihn in Stücke, Ciril, das verspreche ich dir."

Mikhail schluckte seine Enttäuschung hinunter. „Das ist ab jetzt die Aufgabe der Kresniknina. Bleiben Sie hier bei ihm. Ich bin gleich wieder da – mit einem Heiler."
Wenn dieser nichtsnutzige Junge es nicht zustande brachte, einen Kresnik aufzutreiben, dann würde er es eben tun.

Damit riss er sich von Rotovniks eisernem Griff los und rannte.
„Vergessen Sie es nicht. Bitte!", hörte er noch die Rufe des Soldaten, bevor der Lärm seine Stimme verschluckte. 

An der Lage auf der Dubravskaja und dem sie schneidenden Sveta-Svatava-Prospekt hatte sich nichts verbessert. Von einer Zurückeroberung der Kontrolle konnte nicht die Rede sein.

Beinahe stolperte Mikhail über einen Leichnam. Als er wieder aufsah, erkannte er Sharkolija an sich vorbeitraben. Oder zumindest glaubte er das. Wie viele Tiere mit solch ungewöhnlicher Farbgebung konnten sich schon zu eben diesem Zeitpunkt hier befinden?

Auf seinem Rücken saß allerdings ein ernster, junger Mann, der hingegen eindeutig nicht Lisitsyn war, doch er führte das Tier mit einem irritierenden Geschick durch das Chaos.

Dieses merkwürdige Bild hielt Mikhail einen Moment gefangen. Wer war das?

Für den Bruchteil einer Sekunde trafen sich sein Blick mit dem des Reiters. Hatte er dieses Gesicht nicht schon irgendwo gesehen?

Doch ebenso schnell, wie er gekommen war, verschwanden er und sein Pferd wieder aus seinem Sichtfeld.

Im nächsten Atemzug packten Hände den Stoff seiner Uniform und verscheuchten den Fremden aus seinen Gedanken. Mikhails Finger schossen zum Griff seines Säbels. 

Aber das angstverzerrte Gesicht einer alternden Frau, die ein vielgeflicktes Festtagskleid einer Bewohnerin des Rattenviertels trug, ließ ihn innehalten.

„Meinen Sohn! Haben Sie meinen Sohn gesehen? Bitte, Gospodin, helfen Sie mir! Mein Sohn Dima..." Ihre Stimme war schrill vor Panik.

„Wenden Sie sich an die Politsija", erklärte Mikhail nüchtern. Hierfür hatte er keine Zeit. Rotovnik brauchte ihn. Mit dem beißenden Gefühl der Schuld schob er die Frau bestimmt von sich und lief weiter.

Für einige Schritte hörte er sie noch hinterherstolpern und flehentlich nach ihm rufen, doch er verbannte sie strikt aus seinen Gedanken.
Vermutlich suchten unzählige Menschen nach ihren Lieben oder benötigten medizinische Versorgung; er konnte nicht jedem davon helfen.

Vor ihm verdichtete sich das Gedränge und die zivile Kleidung wich mehr und mehr Uniformen. Schüsse krachten. Eine Feuersäule schoss ein paar Häuser weiter in den Himmel. Mikhail boxte sich zu den Soldaten durch. Keiner davon zählte zu seinem Regiment.
„Ich brauche einen Heiler!"

„Die Kresniknina ist da vorn", rief ihm einer zu und deutete die Straße entlang nach Osten, ehe er sich wieder seiner Handvoll Männer zuwandte.

Draganov folgte dem Weg, tiefer ins Herz der Gefahr, hier und da einen der Uniformierten ansprechend. Ohne größeren Erfolg. „Heiler. Ich brauche einen Heiler!"

Nicht mehr lange und er musste es bis zur Kresniknina-Leibgarde und der Zarenfamilie geschafft haben.
Halt durch, Rotovnik!

Plötzlich brach Kugelgewitter neben ihm los. Das Schlachtfeld hatte sich verschoben und mit einem Mal befand sich Mikhail mitten darin. Adrenalin schoss durch seine Adern und erfüllte ihn mit seinem vertrauten, angenehmen Rausch. Sofort zog er seinen Pallasch. 

Im selben Moment, traf ihn ein Stoß am Arm und riss ihn zu Boden.

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A N M E R K U N G E N


Das Kapitel hat deutlich zu lange auf sich warten lassen, aber wegen der Verstrickung einzelner POVs hab ich mich bis jetzt nicht recht getraut, es zu posten.

Nach ewigem Hin und Her, Umschreiben etc. hoff ich, dass noch ein Fünkchen Logik übriggebliebenen ist.

Dementsprechend: Feedback ist immer sehr erwünscht! ^^"

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