38 - Verschlossen ist verschlossen, und wird nicht aufgebrochen

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Vincent schluckt. Seine Brust hebt und senkt sich in unregelmäßigen Abständen, während sich meine Mundwinkel langsam, aber stetig zu einem selbstzufriedenen Grinsen verziehen. Ich könnte mich überall mit ihm vergnügen, und das Schöne daran ist, dass er sogar spontan genug ist, sich jedes Mal darauf einzulassen. Auf Vincent ist Verlass, was eine schnelle Nummer angeht. Das Wasser plätschert leise, als ich mich in der Badewanne auf ihn rauf lege.

„Au, au", flucht er leise, blinzelt irritiert und ich weiche einen Moment zurück, sodass er bequem ein Stück runterrutschen kann, tiefer rein in das lauwarme Badewasser. Auf der Oberfläche schweben nur noch die kläglichen Reste watteweicher Schaumwolken. Vincents Anspannung löst sich auf und der süße Zustand völlig abstrakt gedankenloser Schwerelosigkeit legt sich wie ein Schleier über seinen Blick. Ich suche erneut seine Nähe und diesmal hält er mich im Arm, so wie ich es von Anfang an wollte. Verträumt, obwohl mir das nicht sonderlich ähnlichsieht, streiche ich mit meinen Fingernägeln sanft über seine nackte Haut. Doch das Kribbeln in meinem Innern, das mich warmhält, während das Wasser um uns herum abkühlt, lenkt mich nicht von der Frage ab, ob Vincent der doch recht speziellen Beziehung zu seinen Eltern überhaupt etwas abgewinnen kann.

„Glaubst du, Familienliebe ist sozial konstruiert?", frage ich ihn darum und sehe zu ihm auf.
Eine Sekunde mustert mein Freund mich aus seinen braunen Augen, als hätte ich ihn gerade gebeten, mir Einsteins Relativitätstheorie in drei einfachen Stichpunkten zu erläutern. Dann schmunzelt er spöttisch und streicht mir ein paar nasse Haarsträhnen hinters Ohr.
„Du bist so unromantisch." Ich schenke ihm ein geheimnisvolles Lächeln, bevor ich seinen Hals mit Küssen übersäe.
„Der Handjob war romantisch."
„Du verwechselst romantisch ziemlich oft mit erotisch", wendet er ein. Ich ignoriere es geflissentlich. Vincent schmeckt leicht salzig und er riecht angenehm. Besonders sein Haar, das nach Shampoo duftet. „Ich glaube", antwortet er auf meine Frage, „Familienliebe ist beides: eine Naturgegebenheit und ein soziales Konstrukt."

„Liebst du deine Eltern eher aus sozialer Obligation oder aus freien Stücken?", bohre ich weiter nach und knabbere kurz an seinem Ohrläppchen. Vincent schnaubt amüsiert.
„Beides", wiederholt er seine vorherige Antwort und ich sehe ihm ernst in die Augen.
„Ihr habt eine komische Dynamik", falle ich mit der Tür ins Haus. „Insbesondere deine Mutter und du." Vincent seufzt zwar nur geräuschlos, verdreht aber minimal die Augen dabei und verrät sich dadurch.
„Ja, stimmt. Warum ist das jetzt wichtig?" Ich lege den Kopf schief und schiebe meine Hände unter Wasser auf seinen Rücken.
„Wieso willst du nicht darüber reden?", frage ich und versuche dabei, möglichst aufgeschlossen zu klingen. Vincent schaut auf das schwarze Frotteetuch, das an einem Haken zum Abtrocknen bereithängt, nimmt seine rechte Hand von meinem Körper runter und platziert seinen Arm auf dem Rand der Wanne.

„Es ist mir wahnsinnig unangenehm, wie viel ich von meiner Mutter habe", offenbart er mir die Wahrheit und ich muss lachen, kann es nicht unterdrücken.
„Tut mir leid", entschuldige ich mich jedoch sofort. „Im Ernst, ihr habt vielleicht ein paar Gemeinsamkeiten, das will ich gar nicht leugnen. Aber du bist die wesentlich angenehmere Person", versichere ich ihm. „Liegt vermutlich daran, dass du von deinem Vater nur die besten Qualitäten geerbt hast", überlege ich. Vincent lächelt.
„Du bist süß", klaut er mir unverfroren meinen Spruch und küsst mich. Eine Weile liegen wir nur da, genießen beide die Zärtlichkeit und das Vertrauen, das sich immer stärker in unserer Beziehung zu manifestieren scheint. Normalerweise umschiffe ich persönliche Fragen wie die, die er mir als nächstes stellt gern, aber nachdem er sich mir gegenüber geöffnet hat, schulde ich ihm dasselbe.

„Welche Eigenschaften, die du von deinen Eltern übernommen hast, nerven dich am meisten an dir?"
„Hm", summe ich. „Wahrscheinlich die unverblümte Direktheit", antworte ich schließlich.
„Ich mag deine Direktheit", erwidert er und streicht mit dem Daumen sanft über mein Kinn.
„Warte ab, bis wir uns streiten." Ich grinse, doch es ist ein ängstliches Grinsen. Als es erlischt, suchen meine Lippen sich eine neue Beschäftigung und ich küsse kurzerhand seine Fingerknöchel.
„Sind solche Streitereien, in die du verwickelt warst, mal eskaliert oder wieso bist du unsicher damit?", will Vincent es nun natürlich genauer wissen. Ich seufze.

„Bei mir sitzen unnötige Beleidigungen recht locker. In der Theorie weiß ich über Diplomatie Bescheid, ich lege sogar großen Wert darauf in meinem Alltag. Allerdings ist das mit der Umsetzung nicht ganz so einfach für mich. Meine Eltern reden beide schneller, als sie denken, und ich fürchte, ich habe mir das im Laufe der Jahre bei ihnen abgeguckt." Ich lächle defätistisch. „Ist nicht so leicht, deinen Gesprächspartner davon zu überzeugen, dass du gerade versuchst, ein Problem lösungsorientiert auszudiskutieren, wenn du ihn drei Minuten vorher noch als Arschloch bezeichnet hast." Vincent zuckt die Schultern.
„Besser du lässt deine negativen Gefühle erstmal raus." Ich schüttle den Kopf.
„Das, was ich da sage, hat aber nicht viel mit meinen tatsächlichen Gefühlen zu tun. Sobald ich der Meinung bin, der andere versteht mich nicht richtig und gibt sich auch keine Mühe, mich richtig zu verstehen, schrillen bei mir sämtliche Alarmglocken – und ich fange an, schrecklich zu übertreiben und meine Worte immer radikaler zu wählen, weil ich denke, das macht die Sachlage irgendwie klarer. Dabei entferne ich mich sukzessive von meinem ursprünglichen Standpunkt; ich verfremde also letzten Endes durch das, was ich sage, die Dinge, die ich eigentlich sagen wollte", analysiere ich mein Konfliktverhalten. „Lass uns nie streiten, mit mir zu streiten ist furchtbar anstrengend", nuschle ich.

Ich glaube, ich habe zu viel von meiner Schwäche preisgegeben. Als der Gedanke mich streift, was Vincent mit dieser Information alles anfangen könnte, fange ich kaum merklich an zu zittern. Es ist, als wäre ich ihm ausgeliefert. „Wollen wir aus dem Wasser raus?" Die Worte stolpern beinah übereinander, so schnell hintereinander artikuliere ich sie. Die Frage ist ein einziges Artilleriefeuer.
Vincent nickt. Aufgescheucht von meiner eigenen Nervosität steige ich aus der Badewanne und hülle mich ohne Umschweife in das bereithängende Handtuch. Ich fühle mich auf einmal entblößt. Nicht physisch nackt, auch wenn ich das bin ... Emotional entblößt. Vor meinem Freund. So verletzlich wie in diesem Moment habe ich mich länger nicht mehr gefühlt. Das letzte Mal war gegen Ende unseres zweiten Dates.

„Das Schlimmste, was meine Eltern mir mitgegeben haben ist diese totale Überforderung mit Emotionen", durchbricht Vincent unser Schweigen unerwartet und ich atme hörbar aus. Wir vermeiden es beide einander in die Augen zu schauen, aber nachdem auch er sich ein Handtuch aus dem Schrank geschnappt und um die Hüfte geschlungen hat, tritt er hinter mich und faltet seine Hände über meinem Bauch zusammen. Scheinbar weiß keiner von uns beiden, was er sagen soll.
„Überforderung mit deinen eigenen Gefühlen?", hake ich nach. Meine Stimme klingt ein wenig kratzig. Er bejaht, mit ebenfalls rauer Stimme, und fährt dann fort: „Aber vor allem auch mit den Gefühlen anderer. Ich bin kein sonderlich guter Trostspender."
„Solange du daran arbeitest", murmle ich.
„Sowieso", räuspert er sich. „Wow, das war komisch", spricht er es aus und ich lache unwillkürlich auf.
„Schon irgendwie. Tut mir leid."
„Wofür entschuldigst du dich?", fragt er ratlos.
„Weiß nicht", gebe ich zu.

+

Auf der Couch, eingekuschelt in meine Decke, leere ich Schluck für Schluck die Bierflasche, die ich in der Hand halte. Über meinen Fernseher flimmert eine Dating-Show, der ich so aufmerksam folge, dass es mir eigentlich peinlich sein müsste. Wahrscheinlich kompensiere ich damit Vincents Desinteresse. Er hat sich in die andere Ecke gepflanzt und meine Füße liegen auf seinem Schoß.
„Müde?", frage ich ihn. Mein Freund gähnt passenderweise.
„Ist spät geworden. Lass uns schlafen gehen", schlägt er vor.

Und genau das tun wir dann auch. Als ich wenig später zu ihm robbe und er einen Arm um mich schlingt, atme ich seinen unverwechselbaren Duft ein. Er streckt den anderen Arm aus und löscht das Licht auf dem Nachttisch. Doch statt sein leises „Gute Nacht" und den Kuss auf meinen Haaransatz wie sonst einfach hinzunehmen, drehe ich mich zu ihm um und streichle mit einer Hand langsam über seine Seite, lausche seinem Atem dabei. Ich schließe die Augen, spüre jedoch, wie er mich mustert. Er weiß, dass ich nicht im Begriff bin, einzuschlafen. Wieder fange ich deutlich seine mentale Abwesenheit auf, er ist nicht präsent. Ich blinzle.

„Wo bist du in Gedanken?", frage ich ihn. Vincents Mundwinkel zucken ein winziges Stück. Offenbar will er nicht darüber sprechen.
„Es ist alles gut, Chacha", versichert er mir.
„Lüg mich nicht an", sage ich leise. Hinter ihm leuchtet der Mond groß, rund und weiß im Fensterglas meiner Balkontür. Vincents sorgenverhangenes Gesicht hebt sich düster vor dem strahlend hellen Grund ab.
„Ich habe gerade an meine Ex-Freundin gedacht", erklärt er und ich streiche stumm über seine Wange, während er mir prüfend in die Augen sieht. Davon wollte er mir wohl nichts erzählen, weil die Gefahr besteht, dass ich eifersüchtig reagiere, doch diese Option verwerfe ich. Schließlich will ich meine Eifersucht wirklich ablegen.
„Woran denn genau?", hake ich nach, gebe mir Mühe, kein bisschen feindselig zu klingen. Vincent registriert anhand meines Tonfalls, dass ich bloß neugierig bin.
„An die Gründe fürs Scheitern unserer Beziehung", offenbart er, dreht sich dabei auf den Rücken und ich drücke mich automatisch mit den Ellbogen hoch, um weiter sein Mienenspiel beobachten zu können. Vincent schaut den Mond an. „Gab viele", fährt er nun fast flüsternd fort. „Ihre Gefühle waren einer. Maria war ... zu viel für mich." Jetzt wandert sein Blick zu mir. „Ich war oft überfragt, was ihre Stimmungsschwankungen anging." Er streicht mir die Haare hinters Ohr und sieht mir ernst – aber zugleich ängstlich – in die Augen. „Ich hoffe, mir passiert nicht eines Tages dasselbe mit dir, Charlotte." Daher weht also der Wind.

„Das glaube ich nicht", erwidere ich überzeugt.
„Aber weißt du's?", spielt er mir den Ball sofort zurück. Ich male ein X auf seine Stirn, küsse ihn auf dieselbe Stelle und fahre mit den Fingern sanft durch sein Haar.
„Nein", antworte ich. „Sowas kann man nicht wissen, ich kann nicht in die Zukunft schauen. Ich glaube trotzdem nicht, dass dir das nochmal mit mir passiert."
„Warum nicht?" Ich schenke ihm ein Lächeln.
„Ich kannte dich damals nicht, korrigier mich also, wenn ich etwas Falsches behaupte." Mein Finger malt Schlangenlinien auf seinen Oberkörper. „Allerdings wäre das schon komisch, wenn du dich seit deiner Trennung von Maria als Mensch so gar nicht mehr verändert hättest. Mal angenommen, du wärst noch derselbe wie damals, dann wären deine Befürchtungen durchaus berechtigt. Da geh ich aber nicht von aus. Und das solltest du auch nicht. Es wäre völlig unlogisch, und unlogisch passt nicht zu dir", beschließe ich, beuge mich zu ihm runter und küsse ihn zärtlich. Als ich mich zurückziehe, liegt ein Funkeln in seinen Augen. Es ist mir Beweis genug dafür, dass ich wohl die richtigen Worte gefunden habe, und was noch viel wichtiger ist: Dieses Funkeln lässt gar nicht mehr nach.

Sekunden verstreichen und ich höre das Geständnis knistern, das ihm auf der Zunge liegt, fühle es auf seiner Haut mit allen meinen zehn Fingerspitzen. Doch mein Freund bewahrt vorerst Stillschweigen darüber, macht ein mondsilberfadenscheiniges Geheimnis daraus, das diese Nacht, in ihrem mysteriösen Indigo, nur dürftig verhüllt. Noch muss ich es nicht von ihm hören. Wahrscheinlich ist es zu früh dafür, sonst hätte er die drei magischen Worte längst ausgesprochen.

„Ich dachte, du würdest mich für bescheuert halten, weil mir meine Ex durch den Kopf geistert, nachdem ich dich meinen Eltern vorgestellt habe", sagt er und ich lache.
„Oh, ich halte dich nicht erst seit du von ihr angefangen hast für bescheuert", necke ich ihn. Vincent rächt sich für den Scherz, indem er mich kitzelt. Ich rolle mich kichernd auf der Matratze zusammen. Sobald er von mir abgelassen hat, stützt er sich über mich und senkt seine Lippen erneut auf meine. In meinem Mund prickelt es wie teurer Champagner. Mit den Händen fahre ich über seinen Rücken und ich seufze in den Kuss hinein.

„Du hast dich gut geschlagen heute", verrät Vincent, als er sich von mir löst und grinse.
„Hast du was anderes erwartet?" Er streicht mir durchs Haar und küsst mich langsam und mit Bedacht hinterm Ohr, sodass ich wohlig erschauere.
„Nein, ich wusste, dass sie an dir nix auszusetzen haben würden. Meine Mutter hat sowieso gern jemanden an ihrer Seite, mit dem sie sich gelegentlich gegen mich verbünden kann." Er zwinkert mir zu.
„In der Hinsicht werde ich mich einfach immer doof stellen. Da mache ich nicht mit. Vielleicht vergeht ihr dann die Lust an ihren kleinkarierten Machtspielchen", spekuliere ich. Mein Freund lächelt und küsst mich. „Ich wäre nie gegen dich, Vince", betone ich.

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