40 - Ehepaar Engler lädt ein

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Am Freitag ist es schließlich soweit. Ich halte Vincents Hand, die ungewöhnlich schwitzig ist. Seine Anspannung überträgt sich womöglich gleich noch auf mich und das kann ich nicht gebrauchen, deswegen schlinge ich beide Arme völlig unvermittelt um seinen Körper und küsse ihn. Mein Freund ist dermaßen perplex von meiner Offensive, dass er den Kuss erst nicht erwidert, dann aber scheint er sich daran zu erinnern, wie gut es sich anfühlt, wenn wir einfach bloß rumknutschen. Seine Hände legt er auf meine Hüften, zieht mich zu sich und ich seufze.

Genau in dem Moment öffnet mein Vater uns die Tür und Vincent löst sich erschrocken von mir.

Papa mustert meinen Freund aus seinen grauen Augen streng und ich kichere innerlich. Er sieht wesentlich bulliger und einschüchternder aus, als er in Wahrheit ist, aber das weiß Vincent noch nicht. Dementsprechend paralysiert steht er neben mir wie das Reh im Scheinwerferlicht und starrt meinen Vater verängstigt an.
„Vincent", sagt er dann jedoch mit fester Stimme, als er sich plötzlich fängt. Er setzt sein typisches, leicht spöttisches Grinsen auf und reicht Papa die Hand.
„Tach, ich bin Falk", stellt Papa sich vor und nimmt Vincents Hand in seine kräftigen Pranken. Er lächelt und kleine Fältchen bilden sich rund um seine Augen, die augenblicklich seine gesamten Züge verändern und ihn gleich viel freundlicher wirken lassen. „So wie ich mein Lottchen kenne, hat sie dich geküsst und nicht umgekehrt."
„Und wenn's andersherum gewesen wäre?", frage ich schelmisch. Papa sieht meinem Freund distanziert in die Augen, während er mir antwortet: „Dann sollte Vincent mir das besser verschweigen."

„Na, hast du ihn schon ganz verschreckt, Falk, ist er schon gegangen?", ertönt plötzlich die Stimme meiner Mutter im Flur und wenig später schüttelt auch sie Vincent die Hand. „Dorothea, wir sagen Doro", stellt sie sich knapp vor und bindet ihre blonden, von vielen grauen Strähnen durchzogenen Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen. „Charlotte, Schatz." Sie küsst mich auf beide Wangen, auf die französische Art. „Kommt rein. Du bist ...?", dreht sie sich halb zu meinem Freund um, den ich an die Hand nehme, damit er mir auf dem Weg ins Wohnzimmer nicht verlorengeht oder gar von meinem Vater in ein Gespräch verwickelt wird.
„Vincent, freut mich", wiederholt er seinen Namen für sie.
„Vincent, alles klar", nickt Mama resolut und wir landen kurz darauf auf der Couch.

„Zwei Bier", stellt meine Mutter fest und deutet auf uns beide. Dann mustert sie Papa, zeigt erst auf sich selbst, dann auf ihn. „Vier Bier."
„Vier Bier und das Knoblauchbrot", bestätigt mein Vater.
„Vincent", wendet meine Mutter sich an meinen Freund. „Du isst doch Knoblauch, oder?"
„Nur wenn Charlotte welchen isst", erwidert er und meine Mutter lacht.
„Die konnte Tiefkühl-Knoblauchbaguettes noch nie widerstehen, also brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Hilf mir mal tragen", bittet sie Papa schließlich.
„Entschuldigt uns", verabschiedet er sich stellvertretend für sie beide und meine Eltern verlassen das Wohnzimmer.

„Was war'n das vor der Tür vorhin, hä?", fragt Vincent mich sofort und ich kann nicht anders, ich lache ihn leise aus für seine überschäumende Nervosität. „Ich dachte, mir ist das wichtig und dir ist das wichtig. Nimm das bitte ernst."
Er klingt wie seine Mutter, aber das sage ich ihm jetzt nicht, dafür würde er mir wahrscheinlich noch den Kopf abreißen.
„Tu dir einen gefallen, Vincenzo, und entspann dich", rate ich ihm, streichle über seine Wange, aber er weicht mir aus.
„Würde ich ja, aber du bringst mich vor deinem Vater in Verlegenheit, und wenn du nochmal so 'nen
lustgeleiteten Anschlag auf mich planst, dann warn mich doch wenigstens. Selbst Terroristen kündigen ihre Attentate vorher an, wieso machst du das nicht?" Ich zücke unbeeindruckt mein Handy.
„Ich tweete mal kurz, dass ich nachher noch flachlegen werde." Vincent greift nach meinem Handgelenk.
„Das wirst du schön bleiben lassen, außerdem lass ich mich von dir nachher ganz bestimmt nicht mehr anfassen, du sabotierst mich hier nach Strich und Faden."
„Es ist süß wie du immer noch glaubst, du hättest da irgendein Mitspracherecht", grinse ich und pikse ihn verspielt in den Bauch.
„Ey, du –" Er packt mich an den Hüften, schlingt beide Arme um mich und drückt meine Arme gegen meinen Körper. So viel Kraft wendet er nur selten auf, aber diesmal hat er einen Standpunkt zu vertreten. „Du kleine Schlampe", flüstert er leise in mein Ohr und es bringt mich zum Lachen. Vincent knabbert versöhnlich an meinem Ohrläppchen, da räuspert sich mein Vater hinter uns und mein Freund läuft rot an wie eine Tomate, gibt mich ohne Umschweife frei und ich rutsche brav von seinem Schoß, ziehe die Beine an und lecke mir kurz über die Oberlippe. Vincent sieht es im Augenwinkel. Mit einem schüchternen Danke nimmt er das Bier entgegen, das Papa ihm reicht.

„Vincent", spricht meine Mutter ihn an. „Er will dich bloß ärgern, lass dich von ihm nicht verkackeiern", klärt sie ihn auf und mein Vater sackt automatisch enttäuscht in sich zusammen.
„Och, Doro, du bist so eine Spaßbremse."
„Guck dir den armen Bengel doch mal an", rügt sie Papa vorwurfsvoll und gestikuliert in Richtung Vincent. Als hätte dieses Statement meiner Mutter etwas bei ihm ausgelöst, richtet mein Freund sich neben mir fast kerzengerade auf.
„Du bist gemein, Falk", fährt meine Mutter fort und verpasst meinem Vater, der in dem roten Sessel neben ihrem blauen Platz genommen hat, einen Klaps auf den Oberschenkel.
„'Tschuldige, Vincent", seufzt Papa. „Es ist eine meiner Lieblingsbeschäftigungen, Charlottes Freunde zu verschrecken. Wenn man so alt ist wie ich hat man nicht mehr viele Hobbys. Falls du mal Vater einer hübschen Tochter wirst, kann ich dir nur ans Herz legen, das mal auszuprobieren, es macht einen Heidenspaß." Er zwinkert ihm zu.

„Wollt ihr denn später Kinder?", mischt meine Mutter sich ein und ich lache.
„Mama, wo hast du dein Klemmbrett versteckt? Sollen wir dir eine Spermaprobe hierlassen?", frage ich sie.
„Ich bitte dich, Lottchen, gib dich nicht so herablassend, du bist auch nicht mehr die Jüngste", erwidert Mama trocken und trinkt einen Schluck aus ihrer Bierflasche.
„Keine Kinder, bevor ich dreißig werde", erinnere ich sie an meine Prinzipien.
„Das geht manchmal schneller als man denkt", ermahnt sie mich trotzdem.
„Deswegen bin ich ja auch doppelt vorsichtig." Ich spüre, wie Vincent seine Hand auf meine legt. Er sucht Halt bei mir.
„Also, ich wollte Sie heute um ihren Segen bitten, damit ich diese Frau heiraten und ihr ein Dutzend gesunde Kinder schenken darf –" Noch bevor Vincent zu Ende gesprochen hat, prustet Papa los.
„Hach, der Junge gefällt mir", grinst er und wischt sich ein winziges Lachtränchen aus dem Augenwinkel.

Auch Mama lächelt Vincent warm an.
„Den Segen hast du, aber der ist nur pro forma" Ihr Blick trifft meinen. „Wir vertrauen Charlotte. Sie wird sich den Richtigen schon selbst aussuchen. Und wenn du es bist ..." Ihre Augen schwenken wieder zurück zu Vincent. „Dann herzlichen Glückwunsch, du hast ein gutes Mädel abgegriffen."
„Na, das weiß er", kommentiert mein Vater. „Guck ihn dir mal an, wie er sie anschmachtet", lächelt er belustigt.

„Au ja", werfe ich ein. „Euer nächstes Album besteht bitte nur aus Minnegesang."
„Ode an dich, oder wie?", lacht Vincent. „Wenn wir das ganze Album Mittelalter-Style aufziehen muss aber Dag singen. Meine rohe, unbearbeitete Stimme über mehrere Tracks? Da verbluten dir sonst die Ohren." Ohne ein geschicktes Konterfei aus dem Ärmel zu ziehen, informiere ich meine Eltern: „Vincent spielt in einer Band und ist hauptberuflich Musikproduzent."
„Echt?" Die Augen meines Vaters werden groß. „War ich auch mal!"
„Du Lügner", bezichtigt meine Mutter ihn lachend. „Du hast damit nie auch nur eine müde Mark verdient."
„Aber ich hab's geliebt", beteuert er. „Wir waren Rocker durch und durch", schwelgt er in Erinnerungen. „Aber heute ist das alles bestimmt ganz anders."
„Ist 'ne harte Branche", bestätigt Vincent. „Ich mach das mit 'nem Kumpel seit über zwanzig Jahren. Die ersten Sachen haben wir noch in meinem Kinderzimmer aufgenommen." Während Vincent erzählt, beobachte ich ihn aufmerksam. Oder ich schmachte, wie Papa es nennen würde.

Eine Weile unterhalten sich meine Eltern mit meinem Freund über seinen Beruf und er geht auf, wie immer, wenn er über seine Arbeit spricht. Seine gesamte Anspannung ist der Lockerheit gewichen, die ich von ihm kenne und die ich so an ihm liebe. Ich werde aus meinen inneren Schwärmereien gerissen, als meine Mutter mir auf die Schulter tippt.
„Hilf mir mal in der Küche", fordert sie mich auf. Ich schiele rasch zu Vincent, aber der ist so in das Gespräch mit meinem Vater vertieft, dass er nicht bemerkt, wie ich aufstehe.

„Der is' aber 'n Netter", zwinkert meine Mutter mir zu und stößt mir leicht ihren Ellbogen in die Seite.
„Schrecklich, oder?", scherze ich. Wir haben den Flur inzwischen durchquert und stehen in der Küche.
„Ich bin froh, dass es dich so richtig erwischt hat." Sie schenkt mir ein Lächeln und ich hole ein paar Teller aus dem Schrank.
„Sehr gut", nickt Mama, „und ein paar Tassen noch für die Suppe."
„Du hast eine Vorsuppe gekocht?", frage ich sie ungläubig und deute auf den großen Topf.
„Ich hab's so in den Knochen gespürt, dass das heute ein besonderer Abend wird", meint sie. „Einen wie Vincent lerne ich vielleicht nie wieder kennen", sagt sie und wiederholt dabei, ohne es zu wissen, den Gedanken, der mich nach dem zweiten Date mit ihm gestreift hat.

+

Wir sitzen an dem runden, polierten Esstisch in einer durch einen Zierbogen abgetrennten Ecke des grau gestrichenen Wohnzimmers. Vincents Hand liegt unter dem Tisch auf meinem Knie. In der anderen Hand hält er ein Glas Wasser und prostet meinem Vater zu. Papa und er reißen, seit wir angefangen haben zu essen, Witze, und schaukeln sich mit ihrem Gelächter gegenseitig hoch. „Und dann sage ich zu ihm: ‚Dicka, du blutest!' – Und er checkt gar nichts, saut sich die Gitarre ein, hinterlässt so überall Blut auf der Bühne, die Fans unten sind alle mega angewidert, ich auch, die ganze Band, und Dag spielt diese Show durch", erzählt Vincent seine Bühnenanekdote zu Ende.
„Meinen größten Respekt", lacht mein Vater. „Ist ja 'ne wilde Welt bei euch auf der Bühne."
„Geht schon lustig zu manchmal." Vincent sticht grinsend mit der Gabel in die Gemüselasagne und schneidet sich ein Stück raus. „Das ist übrigens verdammt lecker", wendet er sich dabei an meine Mutter. „Ich weiß", antwortet sie frech und wir tauschen einen verschwörerischen Blick. Mamas Gemüselasagne ist in Wahrheit vom Italiener um die Ecke. Ich bin zwar ein Kochmuffel, aber nichts übertrifft meine Mutter. Deshalb war ich nicht gerade milde erstaunt, als ich die Ingwer-Karotten-Suppe vorhin auf dem Herd erspäht habe.

„Die ist von Ninos Pizzeria drei Querstraßen weiter", lässt Papa Mama jedoch auffliegen und sie verdreht die Augen.
„Einmal, Falk. Nur einmal hätte ich es fast geschafft, jemanden glauben zu machen, ich wäre eine waschechte Küchenfee. Tut mir leid, Vincent", lächelt sie entschuldigend. „Die ist bloß aufgewärmt."
„Schmeckt gut", schmatzt Vincent dennoch.
„Die Suppe war von ihr", sage ich.
Die war auch lecker! Die beste Karotten-Ingwer-Suppe, die ich je gegessen habe", übertreibt er.
„Schleimer", holt sie ihn auf den Boden der Tatsachen zurück. „Ich weiß zwar einen Mann zu schätzen, der schwindelt, nur damit ich mich besser fühle, aber so einen habe ich schon."
„Ich sage immer die Wahrheit, nur eben in schön", redet mein Vater sich raus.
„Hast du Mama nicht zugehört?", necke ich ihn. „Sie sagt, sie schätzt dich."
„Ich schätze dich auch, mein Schatz", wendet er sich sofort an meine Mutter.
„Na, noch hast du mich weder betrogen noch verlassen, also wird's wohl stimmen", tut sie so, als wäre es ihr gleichgültig und entlockt Papa ein Schmunzeln.

„Wie lange seid ihr inzwischen zusammen?", fragt Vincent in die entstandene Stille hinein.
„Puh", macht meine Mutter. „Falk, kannst du dir das ausrechnen? Seit wir beide sechzehn waren jedenfalls."
„Seit der Kreidezeit", fügt mein Vater hinzu.
„Schön, dass es hält", bemerkt mein Freund und meine Eltern lächeln sich an.
„Manche Beziehungen sind einfach für die Ewigkeit", sagt Mama. „Lottchen glaubt uns nicht, aber vielleicht überzeugst du sie ja."
„Mama", stöhne ich genervt auf.
„Glaubst du etwa nicht an die wahre Liebe und an ‚den Einen'?", fragt Vincent mich und ein Grinsen umspielt seine Lippen. Für einen kurzen Moment verliere ich mich in seinen braunen Augen und meine Knie werden weich.

„Ich halte das für ein bisschen eingestaubt und überholt", gebe ich mein Statement ab.
„Ich nicht", überrascht er mich plötzlich mit seinem Einspruch. Er erklärt es nicht weiter, lächelt mir nur rasch zu und wendet sich dann wieder an meine Eltern. „Liebe ist was Seltsames. Meine eigenen Eltern streiten oft, sind aber auch noch zusammen."
„Deine Mutter streitet", korrigiere ich ihn schelmisch. „Ich bin nicht sicher, ob dein Vater zu irgendeiner Form von Wut in der Lage ist." Vincent grinst.
„Als ich seinen Wagen an 'ner Ampel zu Schrott gefahren habe, hättest du ihn mal erleben müssen. Dag und ich haben behauptet, wir wüssten nicht mehr, wer von uns beiden gefahren ist, also ist Dags Mutter rumgekommen. Du musst dir vorstellen: Sie ist die Ruhe in Person, und mein Vater tobt wie ein Tornado durch die Wohnung. Wie meine Mutter sonst, nur cholerischer und weniger stichelnd." Ich lache.
„Falls sie sich doch trennen sollten, gib mir Bescheid, ich besorge uns Popcorn."
„Nee, bei dem Rosenkrieg gibt's Tote, da will ich nicht in der Schusslinie stehen", winkt er ab und mein Vater pfeift durch die Zähne.

„Sind deine Eltern verheiratet?", fragt er.
„Nein, sie hatten jeder 'ne gescheiterte Ehe hinter sich und sind sich witzigerweise im Wartebereich beim Scheidungsanwalt begegnet", plaudert er aus dem Nähkästchen.
„Deine Eltern sind nicht verheiratet, tragen aber beide den gleichen Nachnamen?", hake ich ein, weil mich deucht, es hätte nur ein Name auf dem Klingelschild bei ihnen gestanden.
„Der Ex-Ehemann meiner Mutter hieß Tolga Stein. Sie hat den Namen nach der Scheidung behalten. Es war zwar Zufall, dass mein Vater auch Stein mit Nachnamen heißt, andererseits ist das auch nicht der seltenste Nachname in Österreich", zuckt Vincent die Schultern.
„Und ihr?", fragt Mama munter. „Wie habt ihr euch kennengelernt?"

„Wir haben uns auf einer Party kennengelernt", erzähle ich, bevor mein Freund noch irgendwas beschönigt, der bereits japsend dazu angesetzt hat. „Vincent war angetrunken und hat mich mit der Frau verwechselt, die er ursprünglich abschleppen wollte."
„Nein, wie romantisch!", ruft Mama ironisch aus.
„Ey, wenn du die Geschichte erzählst, klingt das als wäre ich der hinterletzte Trottel", sagt Vincent kopfschüttelnd.
„Bist du doch auch", gebe ich zurück.
„Stehste drauf, wa'?", kontert er. Lachend zeige ich ihm den Mittelfinger.
„Ich habe ihn ins Taxi gesetzt und am nächsten Morgen ist eine Entschuldigung bei mir eingetrudelt plus die plumpe Bitte um ein Date."
Plump. Hallo, geht's noch? Also –", setzt Vincent dazu an, den schlechten Eindruck zu korrigieren, den meine Eltern jetzt von ihm haben könnten.
„Du hast mich gefragt, ob wir zusammen was trinken gehen wollen, wohlgemerkt nachdem ich deine Schnapsleiche am Abend zuvor unter Höchstanstrengungen in dieses Taxi verfrachtet habe."
„Um dir zu beweisen, dass ich auch verantwortungsbewusst trinken kann!"
„So verantwortungsbewusst wie an dem Abend, an dem wir dann zusammengekommen sind?", frage ich spitz.
„Du bist so unfair, 'ne?", murrt Vincent.

Meine Mutter schnaubt amüsiert.
„Du musst ja ein echter Charmeur sein, wenn du besoffen bist."
„Scheint als könnte Lottchen dir in dem Zustand nicht widerstehen", schlägt auch mein Vater sich auf die Seite meines Freunds, der mich triumphierend angrinst. Ich strecke ihm kindisch die Zunge raus und verschränke die Arme vor der Brust.
„Toll, jetzt wo ihr euch alle gegen mich verbündet habt, gibt's wenigstens Schokoladeneis zum Nachtisch oder so?"
„Nicht für dich", sagen Papa und Vincent im Chor, ehe sie sich über die Synchronität ihrer Worte beinah totlachen.

Wieder in der Küche räume ich die Teller in den Geschirrspüler ein, während Mama Eiscreme auf Schüsseln verteilt.
„Das läuft besser als erwartet", befinde ich und kicke die Tür mit dem Fuß zu.
„Na, hör mal, sind wir denn Ungeheuer, Lottchen?"
„Nein", lache ich. „Aber Vince war aufgeregt. Die Eltern seiner Ex-Freundinnen mochten ihn angeblich allesamt nicht."
„Kann ich nicht nachvollziehen, er ist einer von den Guten, das merkt man ja wohl sofort."
„Ach, Mama", murmle ich und umarme sie. „Die Dummen können mit den Guten nichts anfangen, das weißt du doch."
„Dann sollte er sich wirklich weniger um die Dummen scheren."
„Das sage ich ihm auch immer", seufze ich.

+

Satt und zufrieden sitze ich neben Vincent auf der Couch. Meine Mutter berichtet uns die interessanten Details aus dem letzten Urlaub, den Papa und sie gemacht haben. Rentner müsste man sein.
„Fahrt doch auch mal nach Nizza, Frankreich ist wunderschön und es ist nur einen Katzensprung entfernt", schließt sie und ich wehre ab. „M-mh. Ich muss arbeiten." Ich kraule Vincent kurz am Kinn, der es mit einem Lächeln quittiert und den Kopf in den Nacken legt, damit ich freie Bahn habe. „Er muss auch arbeiten", fahre ich währenddessen fort und lasse meine Hand sinken.
„Charlotte, du kannst nicht immer nur arbeiten", schlägt mein Vater einen ernsten Tonfall an und mache mich darauf gefasst, meine übliche Verteidigung runterzurattern.
„Papa, ich habe in Rekordzeit und mit Bestnote studiert, um meinen beruflichen Traum zu verwirklichen. Ich bin eine der wenigen besser bezahlten Frauen im Journalismus mit Aufstiegschancen. Mein Ziel ist es, Chefredakteurin des Magazins zu werden, bei dem ich aktuell arbeite, sobald Klausen abdankt. Du weißt, was mir das bedeutet, und mein Job bereitet mir Freude. Ich möchte mir momentan keinen Urlaub nehmen."
„Momentan, momentan", skandiert meine Mutter. „Das sagst du jedes Mal, Charlotte."
„Wenn sich daran etwas ändert, sage ich bestimmt was anderes", reagiere ich scherzhaft, doch sie sieht mich aus ihren Augen, die meinen eigenen so ähneln, bloß traurig an.

„Nizza lässt sich vielleicht irgendwann einrichten", versucht Vincent Frieden zu stiften. Er meint es nicht wirklich, mein Freund hängt genauso an seinem Job wie ich. Urlaub kommt für ihn ebenso wenig infrage wie für mich. Aber er ist der Diplomatischere von uns beiden, darum lasse ich ihn gewähren.
„Der Sandstrand war hinreißend", schaltet meine Mutter wieder zu ihrer Lobeshymne und ich beschließe mich in der Konversation auf einen minimalen Anteil an Beiträgen zu beschränken.

Es geht mir auf die Nerven, wenn Mama und Papa auf meiner Karriere herumhacken und darauf, dass ich viel zu viel vom Leben abseits der Arbeit verpassen würde. Sie wissen, dass ich Freunde habe – heute habe ich ihnen sogar Vincent vorgestellt, meinen festen Freund, und sie haben gesehen, dass ich eine glückliche Beziehung in meiner Freizeit pflege. Aber scheinbar reicht nicht einmal das, um sie davon zu überzeugen, dass meine privaten Angelegenheiten trotz meines unverhohlenen Ehrgeizes nicht zu kurz kommen. Ich bringe keinerlei größere Opfer und ich bin ihre Krokodilstränen leid. Der riesige Streit, den ich nach meinem Abitur diesbezüglich mit ihnen hatte, hat ein tiefes Loch in unser Vertrauensverhältnis gerissen. Bei dem Gedanken daran erschaudere ich.

„Möchtest du eine Decke?", fragt Papa mich, der die Gänsehaut bemerkt, doch ich lehne sein Angebot ab und rutsche stattdessen näher an Vincent heran. Es hilft nicht unbedingt, dass mein Freund bloß halbherzig einen Arm um meine Schultern legt, während er auf das eingeht, was meine Mutter eben gesagt hat. Seine Nähe tröstet mich trotzdem. Immerhin weiß ich, dass er mich im Gegensatz zu meinen Eltern nicht als verrückten Workaholic abgestempelt hat.

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„Danke für den tollen Abend", verabschiedet Vincent sich von meinen Eltern, als wir eine knappe Stunde später aufbruchsbereit vor meinem Prius stehen. Mama und Papa haben uns die hundert Meter Fußweg bis zum Auto begleitet.
„Vincent, komm her", fordert mein Vater ihn auf und drückt ihn fest, wobei er hart auf seinen Rücken klopft. Mein Freund erwidert die herzliche Umarmung zögerlich. „Schön dich kennengelernt zu haben", findet Papa und Mama nickt entschieden.
„Du bist ein super Kerl", macht sie ihm ein Kompliment und herzt ihn ebenfalls. Vincent verkraftet es tapfer.
„Hat mich gefreut", betont er und es entsteht eine komische Pause gefüllt mit Lächeln und Nicken, ehe Mama ihre Arme öffnet.
„Lottchen!" Sie packt mich und zieht mich zu sich. „Lass dich demnächst mal wieder hier blicken, du fehlst uns. Kommt gern zu zweit", lädt sie Vincent direkt mit ein. Papa greift nach meiner Hand, auch er umarmt mich.
„Arbeite nicht zu viel", sagt er und ist sich gar nicht dessen bewusst, dass er nur Salz in offene Wunden bei mir streut. Ich lächle gequält.
„Mache ich nicht", gebe ich zerknirscht zurück und ziehe die Tür auf der Fahrerseite auf. „Danke für das Essen. Bis dann."

„Hab ich das gut gemacht oder hab ich das gut gemacht?", fragt Vincent mich fröhlich, als wir auf die Hauptstraße abbiegen.
„Du hast das gut gemacht", antworte ich ihm monoton.
„Warum guckst du dann wie drei Tage Regenwetter?", fragt er mich und pikst mich in die Seite. Ich zucke zusammen.
„Mann, Vincent, ich fahre!", rege ich mich auf.
„Hey", meint er sanfter. „Was ist denn los mit dir?", will er wissen.
„Nichts." Ich setze den Blinker nach links. „Meine Eltern tun immer, als hätte ich mein Leben nicht im Griff. Diese Bemerkungen über die Arbeit gehen mir so auf den Senkel", knurre ich.
„Das stimmt doch gar nicht."
„Du hörst nicht, was ich höre", murmle ich.
„Deine Eltern machen sich Sorgen, dass du dich überarbeitest, das ist normal. Meine Eltern sind genauso", vermittelt er ungezwungen.
„Sie müssen sich deswegen aber keine Sorgen machen und dann sollen sie's doch bitte auch einfach lassen", sage ich.
„Chacha, guck mal, deine Eltern lieben dich. Ich bin sicher, sie wollen dir nicht deine Fähigkeit absprechen, für dich selbst zu entscheiden, indem sie dir Urlaubsorte in Frankreich oder sonst wo vorschlagen. Erinnere dich an das, was sie am Anfang gesagt haben. Dass ich mir ihren Segen vor der Hochzeit gar nicht holen bräuchte, weil sie voll darauf vertrauen, dass du eh mal dem Richtigen das Ja-Wort gibst."
„Okay, ja ja, du hast recht, ich habe unrecht", schiebe ich dem Thema einen Riegel vor, aber ich habe die Rechnung ohne Vincent gemacht.
„Ich hab recht, du hast unrecht?" Er lacht und diesmal sticht es unangenehm.
„Vincent, hör einfach auf, gib mir 'ne Minute", bitte ich ihn. Ich spüre seinen Blick auf mir. Schließlich gibt er nach und zieht sein Handy aus der Hosentasche, beantwortet ein paar Nachrichten.
„Hast du versucht, mich zu verstehen, bevor du dich auf Seiten meiner Eltern positioniert hast?", frage ich ihn nach einer Weile ruhig.
„Ich habe mich auf überhaupt keiner Seite positioniert, Charlotte", erwidert in scharfem Ton.
„Ich bin deine Freundin, aber es fühlt sich an, als wärst du in dieser Sache gegen mich", bringe ich zum Ausdruck, was in mir vorgeht.
„Das ist dein Problem, nicht meins", weist er die Verantwortung klar von sich.
„Wow, okay", murmle ich.
„Was denn?", fragt er. „Es verletzt dich, wenn deine Eltern auf deinem Ehrgeiz rumreiten, okay, versteh ich. Versteh ich voll. Aber sie wollen dich nicht kleinhalten, sie machen sich nur Sorgen um dich. Das machen Eltern, denen was an ihren Kindern liegt. C'est la vie."
„Selbst liebende Eltern müssen die Unabhängigkeit ihrer erwachsenen Kinder anerkennen, das gehört genauso zum Leben mit dazu", halte ich dagegen.
„Wieso machst du denn so ein Drama daraus?"
„Sie ärgern sich heute über die Selbstständigkeit, die sie mir früher anerzogen haben und ich leide unter ihrem Frust darüber, den sie an mir auslassen."
„Oh mein Gott", lacht Vincent fassungslos. „Erstens ist Erziehung nicht das Einzige, was dich im Leben prägt und zweitens wirfst du deinen Eltern ihre Liebe zu dir vor, merkst du noch was?", entkräftet er meinen Einwand.
„Ich werfe meinen Eltern ihren Umgang damit vor, dass ich mich von ihnen emanzipiert habe, das ist etwas völlig anderes als ihnen ihre Liebe zu mir vorzuwerfen", erörtere ich.
„Wir müssen Geduld mit unseren Eltern haben, ich weiß, wovon ich rede. Gerade weil wir Einzelkinder sind, wir sind alles was sie haben." Ich muss hart schlucken.
„Vince, ich –" Ich unterbreche mich und schlucke gleich nochmal. „Ich möchte dir was Wichtiges sagen, wenn wir bei mir sind." Vincent schaut mich überfordert an.
„Wieso nicht jetzt gleich?"
„Weil ich fahre und ich wahrscheinlich weinen muss, und dann baue ich eventuell einen Unfall."

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