05 - Wer wohnt hier denn NOCH alles???

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Erst, als mir die Luft ausgeht, merke ich, dass ich den Atem angehalten habe. Ich hatte das noch nie. Aber jetzt spüre ich eine Welle von Panik auf mich zurollen.
Noch einer? Wie viele sind hier denn untergekrochen!?! Ich muss hier raus!

"Halten Sie sich gut fest. Sie fallen sonst noch rein. Kommen Sie erstmal hoch aus dem Gestank."
Na, der hat ja Nerven. Benimmt sich wie ein gönnerhafter Hausbesitzer gegenüber einer Einbrecherin.
Ich folge dennoch seinem Rat, denn so eingekreist von Wasser und zwei fremden Männern stecke ich echt in der Scheiße.
Mit klappernden Knien wackele ich die morsche Treppe hoch und leuchte wieder alles an.
"Kaputt ist nur die zweite von oben."

Ich beiße die Zähne zusammen und erreiche heile die Steinstufen. Der Bauarbeiter macht höflich zwei Schritte rückwärts und hält mir die Tür auf. Ich verstehe die Welt nicht mehr und eile verwirrt an ihm vorbei bis in die Halle. Erst hier atme ich ein paarmal tief durch. Wieder will mich mein Fluchtinstinkt nach draußen treiben, zu So-Ra, ins sichere Auto. Aber der Rest von Selbstachtung in meinem Oberstübchen bremst und fordert eindringlich, dass ich dieser Sache hier auf den Grund gehe. Wenn die Villa saniert wird, muss sie leer sein. Der Mann hier oben hat keine Waffe in der Hand. Und der Mann da unten braucht Hilfe.

Wie spreche ich einen obdachlosen Bauarbeiter an, der offensichtlich meine Ruine als sein Zuhause betrachtet?
Die Frage klärt sich schnell von allein. Der Typ hat echt das Heft in der Hand. Entspannt schlendert er an mir vorbei durch die Halle. Seine Bewegungen sind geschmeidig, elegant und präzise. Er ist sich seiner Wirkung absolut bewusst und fühlt sich sicher.
"Bin da vorne rechts, da ist die Küche."
Verblüfft von meiner eigenen Geistesgegenwart antworte ich wie auf Knopfdruck.
"Ich weiß."

Abrupt bleibt er stehen, dreht sich um und wirkt plötzlich ziemlich unentspannt. Sein Gesicht ist ausdruckslos, aber sein Blick liegt lauernd auf mir.
"Aha."
Stille.
"Und woher, wenn ich fragen darf?"
Auf einmal bin ich wieder ruhig. Der hat nämlich genau so viel Angst wie ich.
"Ich war heute noch nicht drin. In der Küche. Aber dafür vorher fünfzehn Jahre lang."
Stille. Seine Augen weiten sich, er hat verstanden.
"Ich habe meine Kindheit in diesem Haus verbracht."
Mehr verrate ich erstmal nicht.

Aber er fängt sich schnell wieder und stellt sich ziemlich geschickt an. Ich muss ganz schön aufpassen, was ich sage. Immerhin - seine Anspannung führt dazu, dass ich mich etwas entspanne.
"Und jetzt wollen Sie diesen verrotteten Steinhaufen wieder haben."
"Ich HABE den Steinhaufen. Mit allem, was drinnen und drumrum ist."
Der Mann macht einen Schritt rückwärts.

Doch bevor er antworten kann, höre ich von der Treppe eine weitere, junge, ebenfalls männliche Stimme, begleitet von müden, polternden Schritten. Aber der unterschwellig aggressive Tonfall lässt mich doch hellhörig werden.
"Oh Mann, Hobi. Das ist doch nicht dein Ernst! Wir waren uns doch einig, dass wir hier keine Weiber anschleppen. Schaff die weg! Echt jetzt. Und das vor dem Frühstück."
Der Bauarbeiter - offensichtlich ein Hobi - scheint nun gänzlich überfordert. Er rührt sich nicht von der Stelle und hat kaum Stimme, als er antwortet.
"Klappe, Jeongguk. Das ist keine Schlampe. Das ist die Besitzerin unseres Daches überm Kopf."

Das Poltern verstummt. Und ich verliere meine Angst nun völlig, denn ich habe es hier zwar offensichtlich mit einem ganzen Obdachlosenheim zu tun, aber bestimmt nicht mit einer bis an die Zähne bewaffneten Verbrecherbande. Die sind alle unausgeschlafen, verunsichert und sich gegenseitig nicht grün. Ich verkneife mir ein völlig unangepasstes Kichern und schaue lieber nach oben. Auf halber Treppe steht ein gar nicht mehr aggressiver Jugendlicher, zur Salzsäule erstarrt, und wedelt erst nach einer langen Schrecksekunde hilflos mit den Händen in Richtung Hobi Bauarbeiter. Was auch immer er ihm damit sagen will.

Um dem ganzen absurden Theater die Krone aufzusetzen, hört man in die Stille hinein kurz ein Schlurfen und dann ein Gähnen, das einem Löwen alle Ehre gemacht hätte, gefolgt von einer sehr tiefen Stimme irgendwo oben. Ich kann das Lachen kaum zurückhalten.
"Guckie, wenn du nicht sofort aufhörst, mitten in der Nacht so einen Lärm zu veranstalten, dann hetz ich meinen Mops auf dich."
In Jungkook kommt wieder Leben. Er muffelt zurück in Richtung der Stimme, ganz der typische, schmollende Teenager.
"Du hast keinen Mops."
"Das werde ich aber bald ändern, wenn du so weiter machst."
Das müde Schlurfen entfernt sich wieder, im ersten Stock klappert eine Tür. Erneut Stille.

Ich schaue auf meine Uhr und erschrecke.
So-Ra muss sich doch Sorgen machen - es ist schon elf Uhr! Apropos elf Uhr.
"Mitten in der Nacht??? Es ist elf Uhr vormittags!"
Hobi zuckt mit den Schultern.
"Das ist bei Yoongi mitten in der Nacht."
Jeongguk flüchtet mit Poltern die Treppe nach oben.
Ich beschließe, Bewegung in die Sache zu bringen.
"Gibts in der Küche noch Tisch und Stühle?"
Hobi begreift wohl, dass ich Beruhigung und Klarheit schaffen will, und verfolgt endlich nach einer halben Ewigkeit seinen ursprünglichen Plan. Er dreht sich um und geht in die Küche. Dumpf höre ich von dort seine Antwort.
"Zwei Stühle, eine halbe Küchenzeile - und zum Glück Strom und Wasser."
Ich folge ihm, inspiziere mit Wehmut die beiden alten Stühle und entscheide mich für den, der weniger schwankend aussieht.

Ich zücke mein Handy, das So-Ra schon mit vielen hübschen Fragezeichen vollgespamt hat.
"Lassen Sie sich bei was auch immer nicht stören. Ich muss nur kurz meinen Kampfhund zurückpfeifen."
In aller Seelenruhe schreibe ich eine Nachricht an meine ungeduldige Freundin und beobachte dabei aus dem Augenwinkel, dass Hobi Bauarbeiter deutlich zusammenzuckt. Sein Rücken wirkt verkrampft. Seine Bewegungen werden hektisch. Ich kann seine panischen Gedankengänge förmlich durch seinen Hinterkopf hören. Alles in allem scheine ich hier einen nicht so schlechten Stand zu haben.
So-Ra will natürlich sofort an meine Seite eilen, um mich zu retten, aber ich verbiete es ihr. Das hier muss und will ich alleine regeln. Was auch immer daraus werden wird.

Als Hobi Bauarbeiter der antiken, laut röchelnden Kaffeemaschine seinen Kaffee entrissen hat, dreht er sich langsam zu mir um. Mustert mich vorsichtig. Seine greifbare Unsicherheit und Lauerstellung kann ich überhaupt nicht einschätzen. An der Kellertreppe war er noch so lässig und entspannt. Jetzt flattert er förmlich vor Angst. Schlürft einen Schluck von seinem Kaffee. Gibt sich wohl innerlich einen Ruck.
"Dann fragen Sie schon los."
Seltsame Ansage. Aber wie auch immer er mich einschätzt - genau das werde ich auch tun.

"Wer wohnt hier denn noch alles?"
Ich meine, so etwas wie Erstaunen in seinen Augen zu sehen. Zum Antworten fehlt ihm wohl der Mut.
"Bisher habe ich gefunden einen Hobi Bauarbeiter, einen Jeongguk Vielzujungundfrech, einen Yoongi Löwengähnen, ... achja - und einen KeineAhnung alias LeicheimKeller. Sind das alle, oder wohnen hier noch mehr?"
"Das sind zur Zeit alle. Vor Jin ... - der Leiche im Keller - waren zwei andere da. Die haben auch für Strom und Wasser gesorgt. Fragen Sie mich nicht, wie. Seitdem schwimmt jedenfalls der Keller, aber dafür haben wir hier oben fließendes Wasser. ..."

"Vielleicht kommt demnächst ein Koll... scheiße! Das geht dann ja gar nicht."
Frustration macht sich auf seinem Gesicht breit, als er die letzten zwei Sätze mehr zu sich selbst als zu mir murmelt und sich dabei fahrig durch die Haare strubbelt. Ich dagegen speichere interessiert die kleine Wendung "zur Zeit" ab.
Allmählich habe ich den Verdacht, dass dieser Hobi der einzige hier mit Hirn, einem Leben und Überblick ist. Also sowas wie der Kopf dieser Truppe. Was ich nur noch überhaupt nicht weiß, ist, wie ich mit dieser Situation jetzt umgehen soll.
"Wie viele Räume sind hier denn ... bewohnbar?"
Der junge Mann hockt sich mit einem Seufzer auf die "halbe Küchenzeile", die mal eine elegante Anrichte war.
Zu meiner Zeit ...

"Okay, Sie haben gewonnen. Wenn wir Sie nicht sofort umbringen und im Garten verbuddeln wollen, kommen Sie sowieso mit der Polizei wieder und schmeißen uns raus. Und ich wollte nicht den Rest meines Lebens hinter Gittern verbringen. Ich hab noch Pläne für nach dem hier."
Mit einer ausladenden Geste zeigt er auf die Trümmer meiner Kindheit um ihn herum.
"Und da ich nicht daran glaube, dass ihr KaMpFhUnD Massenger-Nachrichten lesen kann, weiß jetzt sowieso schon ein weiterer Mensch von uns und ist auf dem Weg hierher. ... Also, wir ... Wir haben gegenseitig alle sehr wenig von uns erzählt. Wir sind aus unterschiedlichen Gründen hier gestrandet, leben nebeneinander her, füttern die 'Leiche' und versuchen mehr schlecht als recht, dem Frechdachs noch sowas wie Erziehung angedeihen zu lassen. Yoongi ist der einzige, den Jeongguk an sich ranlässt."
Stille.
"Wir ... wären alle ziemlich am Arsch, wenn Sie uns raussetzen. Aber Sie sind als Besitzerin am längeren Hebel. Vielleicht ... dürfen wir so lange bleiben, bis wir alle was anderes gefunden haben?"
Fragend schielt er über den Rand seiner Kaffeetasse zu mir rüber. Ich bin erstaunt, dass er so schnell aufzugeben scheint.
"Ach ja - es sind neun Zimmer bewohnbar, die Küche hier ist Küche und Bad, ganz nach oben hat sich noch keiner getraut. Zu baufällig."
Ich bin verunsichert, was ich jetzt als nächstes tun sollte. Die Männer einfach zur Tür rausjagen? Um sie drumrum sanieren? Gar nichts unternehmen und die Situation als perfekte Ausrede für Drückebergerei nutzen?_
Hmpf. Kommt gar nicht in Frage! Hier muss was passieren.

Die ganze Situation ist so komplex und kommt so plötzlich, dass ich jetzt unmöglich eine bedachte Entscheidung fällen, auf den Tisch hauen, drohen, die Polizei rufen, So-Ra reinlassen oder sonst irgendwas Normales tun kann. Wider alle Vernunft schenke ich also dem genauso überrumpelten Mann mein Vorschussvertrauen.
"Ich bin noch viel zu überrascht. Ich weiß ... Ich kann ... Ich habe das Grundstück und Haus grade erst geerbt von meinem Onkel, bei dem ich aufgewachsen bin. Er hat testamentarisch festgelegt, dass ich hier alles sanieren soll. Ich hab aber noch keine Ahnung, wie man so etwas anpackt. Das wird also sicher ... Ach, ich muss erstmal drüber schlafen. Bis ich eine Entscheidung fällen werde, wird noch viel Wasser den Han runterfließen. Vielleicht finden wir ja eine Lösung, die allen gerecht wird.
Keine Ahnung, warum. Aber so lange Sie mir nichts tun, tu ich Ihnen auch nichts. Ist das ein Deal fürs erste?"

Erstaunt reißt er die Augen auf.
"Sind Sie so naiv, dass Sie keine Vorstellung davon haben, was alles passieren könnte? Mit uns? Durch uns? Mit Ihnen? Oder nehmen Sie das bewusst und eiskalt in Kauf?"
"Nicht eiskalt, aber Ja. Wie gesagt - ich bin überrumpelt. Ich möchte erst ganz viel verstehen und dann entscheiden. Aber ich sehe noch keinen Grund, Sie von heute auf morgen rauszuwerfen. Niemand landet freiwillig auf der Straße. Ich ... komme dann morgen wieder, wenn ich einen klareren Kopf habe und das alles hier ein bisschen sacken konnte."
Ich will mich erheben von dem knarzenden Stuhl, nicke Hobi zu und würde gerne verschwinden.
"Danke! Echt. Danke!"

Ich schaue noch einmal zu ihm hin.
"Vertrauen gegen Vertrauen. Der KaMpFhUnD sitzt übrigens draußen im Auto und wartet. Ich werde ihn aber nicht von der Leine lassen. Bis morgen."
"Bis morgen."
Seiner Stimme nach zu urteilen, zweifelt er grade an meinem Verstand, ist aber ehrlich erleichtert.
Ich stehe einfach auf und gehe. Während ich durchs Wohnzimmer raus in den Garten laufe, höre ich es hinter mir wieder auf der Treppe poltern.
Jeongguk. Ob der Junge überhaupt normal laufen kann?

Ich lasse meinen Blick über den weitläufigen Garten schweifen. Das Schaukelbrett ist durchgegammelt, die traurigen Reste hängen an den morschen Seilen über hohen Brennnesseln. Im Sandkasten wächst ein Baum. Wo einmal weite Rasenflächen, gepflegte Spazierwege, gemütliche Sitzecken, ein Pavillon und ein Grillplatz waren, ist jetzt alles verfallen und überwuchert von Efeu und Winden. Die Hälfte des weitläufigen Parks, der sich einst den Hang des Bukhansans hochzog, hat sich der Wald inzwischen zurückgeholt. Aber der Himmel ist blau, die Luft ist frühlingsfrisch mild, und die Obstbäume am Teich blühen wunderschön wie eh und je. Nach den langen, vollen und traurigen Wochen seit Onkel Harrys Tod fühle ich endlich sowas wie Aufatmen und Vorfreude in mir.
Es war so schön hier! Und das soll es auch wieder werden. Hier ist noch so viel geblieben! Darauf kann ich aufbauen.

Kaum bin ich von der Veranda runter und auf dem Weg ums Haus zum Auto, bekomme ich weiche Knie. Das Wechselbad der Gefühle schüttelt mich erbarmungslos durch.
Was hat mich denn da grade geritten?!? Vertrauen gegen Vertrauen. Die können mir durchaus auch morgen noch die Kehle durchschneiden! Aber es fühlt sich doch so richtig an!
Kopfschüttelnd stapfe ich durch das hohe Gras zum Auto. So-Ra steht dagegen gelehnt und begrüßt mich mit einem Stirnrunzeln.
"Ach, kuck an, du lebst noch. Sag mal - hast du sie noch alle? Warum durfte ich da jetzt bitteschön nicht die Polizei rufen? Diese Einbrecher schneiden dir noch die Kehle durch. Die gehören doch hinter Gitter!"
Dejavu.
Und mal wieder ein Gefühl, das ich so noch nicht kannte. Trotz. So-Ras Proteste lösen zum allerersten Mal in mir puren Trotz aus.

"Lass uns fahren. Du wirst immer wissen, wenn ich hier bin, das verspreche ich dir. Aber die Hütte ist so kaputt, da hilft sowieso keine Eile. So lange können die ruhig bleiben."
"Spinnst du?"
Meine Freundin schaut mich mit einer Mischung aus Unglaube, Unmut und Entsetzen an. Ich gebe mir Mühe, mich nicht verunsichern zu lassen.
"Nö. Mir gehts gut. Nationalpark?"
"Wie bitte? Du willst JETZT ..."
"Wir müssen nicht. Aber ein Spaziergang im Nationalpark würde mir gut tun. Die Hütte steht halb unter Wasser und stinkt bestialisch, ich muss dringend meinen Kopf lüften."
"Na, DAS Gefühl hab ich aber auch."
So-Ra muffelt noch eine Weile weiter vor sich hin, während sie den Wagen die Straße runter und dann der Beschilderung folgend nach Jeongneung-Dong lenkt. Von dort geht es wieder den Berg rauf zum Eingang vom Nationalpark Bukhansan.

Ursprünglich lag der Berg nördlich außerhalb von Seoul. Inzwischen ist die Stadt so gewachsen, dass sie praktisch um den Berg herum und bis an die Grenzen der Nachbarstädte gewuchert ist. Die Ausläufer des Berges ziehen sich als steile, schlanke Rücken bis weit in die Stadt hinunter. Nur die Täler dazwischen sind bebaut. Wenn man von einem Tal ins nächste kommen will, muss man zum Teil erhebliche Umwege drumrum fahren oder einen der Tunnel benutzen.
Am oberen Ende eines dieser Täler steht auch die Villa. Der Bukhansan ist heute eine der grünen Lungen der Mega City, und schickt entlang seiner Ausläufer viel frische Luft in die Stadt. Der Nationalpark ist riesig. Trotz der vielen Besucher ist es hier weitläufig, friedlich und still.
Eine Weile spazieren wir schweigend durch den Frühlingswald. Aber bald halte ich es nicht mehr aus.
"Du sagst gar nichts mehr dazu. Bist du nicht neugierig?"
"Was soll ich denn noch sagen, wenn du offenbar den Verstand verloren hast? Ich warte einfach ab, bis du deinen KoPf GeLüFtEt hast."

Irgendwas kommt da noch. Das war doch noch nicht alles!
"Außerdem muss ich grade verdauen, dass du mir zum allerersten Mal in unserer Freundschaft Paroli geboten und deinen eigenen Kopf durchgesetzt hast. Das ist eigentlich toll und laaaaaange überfällig. Aber in diesem speziellen Fall mache ich mir einfach Sorgen. Kannst du das wenigstens verstehen?"
"Klar kann ich das verstehen. Aber ich habe in Berlin gelernt, ein bisschen mehr auf meinen Bauch zu hören. Und der sagt: im Moment ist das in Ordnung so. Bloß nichts überstürzen. Die Jungs da drinnen sind so harmlos wie Sommersprossen auf der Nase. Ich will morgen wieder hin. Wer weiß - vielleicht sind die Typen dann schon über alle Berge. Und wenn nicht ... keine Ahnung. Frag mich morgen nochmal."

"Okay - angekommen. Es ist alles zu frisch, du KANNST grade nicht klar denken. Na, dann schieß los. Was hast du da drin vorgefunden und erlebt? Ich will ALLES wissen!"
Lachend steigen wir einen flachen Hang hoch. Ich hole tief Luft und erzähle einfach drauflos. Von Dingen und Eindrücken, Erinnerungen und Möglichkeiten, Geräuschen und Gerüchen, Farben und Licht. Vom Zustand des Hauses, der 'Leiche' Jin im Keller, dem Schreckmoment mit Hobi Bauarbeiter an der Kellertreppe und dem witzigen Auftritt von Jeongguk und diesem geisterhaften Yoongi in der Halle.
Als sich Hunger und Durst bemerkbar machen, drehen wir um, spazieren zurück zum Auto und fahren zu mir nach Hause.
"Magst du noch mit raufkommen, und ich koche uns was Schönes?"
"Was Deutsches? Immer!"
So-Ra macht sich sofort auf die Suche nach einem Parkplatz. Ich muss lachen. Meine rudimentären Fähigkeiten, deutsches Essen zu kochen, haben So-Ra in den letzten Wochen zu wahren Begeisterungsstürmen veranlasst. Ich hatte in Berlin damit angefangen, weil ich so Sehnsucht nach dem typischen Geschmack von 'Onkel Harry hat heute selbst gekocht' hatte. Nur ans Brotbacken traue ich mich noch nicht ran.

"Süß oder salzig?"
Wir steigen aus und laufen zurück ums Eck zu meiner gemütlichen Dachwohnung.
"Hm. ... Süß."
Kurz darauf hockt meine liebe Freundin bereits mit einem Tee in der Hand in ihrem Lieblingssessel, während ich in der offenen Küche den Teig für Kaiserschmarrn anrühre. Als der verführerische Duft von der ersten fluffigen Ladung aus der Pfanne aufsteigt, knurrt mein Magen.
"Hmmmm! Riecht gut! Was gibts denn?"
"Neugierige Nasen in Senfsauce."
"Hä?"
So-Ra kommt in die Küche und lunzt mir über die Schulter.
"Ach so. Pfannkuchen. Super!"
"Nö. Österreichische Pfannkuchen-Schnipsel sozusagen. Kannst du dann den Tisch decken?"
"Was sind denn Pfannkuchen-Schnipsel???"
"Warts ab!"

Der Kaiserschmarrn mit Rosinen, dicker Puderzuckerschicht und Kirschen aus dem Glas schmeckt so himmlisch, wie er duftet. Wir verputzen tatsächlich noch eine ganze zweite Ladung und halten uns die kugelrunden Bäuche, weil das Zeug so satt macht.
Kaum sind wir voll und glücklich, und So-Ra ist auf dem Weg nach Hause, stürze ich mich auf das inzwischen ganze Regal mit allen Erbunterlagen und suche nach dem Ordner über die Villa. Ich breite alte Baupläne und Grundrisszeichnungen auf dem Fußboden aus, stöbere in Listen mit Baumaterial, skizziere mir mit Hilfe des Fotoalbums die ursprüngliche Raumaufteilung und Nutzung, googele nach Baumärkten und Architekten, sehe mir Youtube Videos über Fundamenttrockenlegung an. Ich habe keine Ahnung von Architektur - aber um so mehr Lust, die Sanierung zu planen.

Was mich bremst, ist nur die Frage, was ich am Ende mit dem Gebäude und dem Gelände eigentlich anfangen will. Der Garten kann irgendwann in Angriff genommen werden. Aber das Haus hat es eilig. Vor dem nächsten Winter müssen das Fundament, der Keller, die Fenster und das Dach erledigt sein, sonst stürzt vielleicht endgültig alles ein. Das sind noch etwa fünf Monate. Da bleibt nicht viel Spielraum für zaudern, rumprobieren und dreimal umentscheiden.
Im Testament steht "ein wohltätiger Zweck, der dir am Herzen liegt". Was auch immer das ist. Aber ich glaube, es hat noch ein bisschen Zeit, bis das alles entschieden werden muss.

Zwischendrin spuken mir die vier jungen Männer durch den Kopf, die ich heute in der Villa angetroffen habe. Ein pragmatischer "Hobi", für den das Haus eine praktische Übergangslösung bis zu einem unbekannten Ziel ist - schnell im Kopf, freundlich, wenn es ihm nützt, aber auf der Hut, wenn man mehr wissen will. Ein depressiver Jin, der lethargisch durch den Keller paddelt. Ein rotzfrecher Jugendlicher, der anscheinend leicht aus der Bahn zu werfen ist. Und ein unsichtbarer Yoongi, von dem ich bisher nur die Stimme kenne und seinen Einfluss auf Jeongguk gespürt habe.

Und diesen vier Typen habe ich mal so eben angeboten, dass sie ihren Hausfriedensbruch gerne unter meiner Aufsicht weiter begehen können, weil das mit der Renovierung ja eh noch ein bisschen dauert. Wenn ich es in Ruhe bedenke, muss ich zugeben, dass die Reaktion von So-Ra viel natürlicher und normaler war als meine irrationale Toleranz.

Insgesamt war mein Verhalten heute ein einziges undefinierbares Hin und Her. Wahrscheinlich, weil ich völlig überfordert war. Au Mann. Ich bin viel zu durcheinander, um mich selbst zu verstehen. Aber eins ist klar. Ich bringe es vielleicht nicht übers Herz, die vier rauszusetzen. Aber ich kann auch nicht dieses riesige Haus in teuerster Lage für ein Schweinegeld grundsanieren, damit dann vier seltsame Gestalten darin hausen. Das war sicher nicht gemeint mit 'wohltätiger Zweck'.
Und trotzdem - es fühlt sich so nunmal richtig an!

Der Gedanke an die vier mehroderweniger-Männer lässt mich auch am Nachmittag nicht los. Also setze ich mich an meinen Computer und versuche als nächstes herauszufinden, wie man in Korea obdachlos wird, welche staatlichen und anderen Hilfsangebote es gibt, welche Probleme Obdachlosigkeit mit sich bringt, in welchen Stadtteilen von Seoul das ein besonders großes Thema ist. Es ist ein verdammt mühsames Geschäft, weil man die entsprechenden Vereine und Initiativen mühsam einzeln zusammensuchen muss. Irgendwann platzt mir fast der Schädel vor lauter neuer Eindrücke und Informationen.

Ändern kann ich daran nichts, nur abwarten, wie die Lage sich entwickelt. Die vier müssen meine Hilfe ja auch wollen. So lange ich nicht weiß, was sie in die Obdachlosigkeit getrieben hat, kann ich gar nichts tun.
Die wichtigste Information ist jedoch: nichts, absolut nichts ist in dieser Stadt vernetzt. Es gibt jede Menge einzelner Projekte hier und da, aber die arbeiten überhaupt nicht zusammen. Seufzend fahre ich den Computer wieder runter.

Meine innere Unruhe und Unentschlossenheit lässt sich leider auch dadurch nicht vertreiben. Ich stelle alle Unterlagen wieder ins Regal und tigere ziellos durch meine Wohnung. Raus auf den Balkon. Wieder rein. Es dauert - wie schon öfter - eine Weile, bis ich begreife, was mich umtreibt. Ich muss das alles aufschreiben, für mich sortieren, damit ich weiß, was ich als nächstes tun will. Also hole ich mir das Notizbuch, mache es mir auf dem Sofa gemütlich und lege einfach los. Es wird ein langer Brief voller Gedanken und Gefühle, Skizzen, Listen, Neugierde und ganz viel Lust auf die nächsten Monate.

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31.12.2022

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