22 - Schlafende Hunde

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Triggerwarnung - zweiter Teil.
Heute erzählt Jeongguk, was ihm alles widerfahren ist.
Wenn Du schlechte Erfahrungen mit Mobbing,
körperlicher Gewalt und/oder Bandenkriminalität hast,
dann lass bitte die Finger von diesem Kapitel. Das geht unter die Haut.

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Namjoons guter Wunsch für diese Woche geht in Erfüllung. Das einzig Nennenswerte ist nämlich: nichts. Eine ganze Woche ohne Aufregung, Panik, umdisponieren, spontan irgendwo hinflitzen. Für Mittwoch Abend verbieten mir die Jungs schon zwei Tage vorher, mir übers Abendessen Gedanken zu machen. Als ich dort ankomme, ist alles für einen entspannten Grillabend vorbereitet. Am Freitag bewundere ich die nun wieder geschlossenen Zimmerdecken in der Villa. Der Dachdecker ist seit heute Morgen oben mit seinen sämtlichen Angestellten. Er gibt sein altes Wissen weiter und schult sie an einem Modell darin, diese Dachkonstruktion sicher erkennen, berechnen und aufbauen zu können.

Der Fensterbauer spricht mich an, ob ich mir mal Fenster, Türen, Rolläden und Co. aussuchen möchte, damit er planen und Kosten überschlagen kann. Anhand alter Fotos versuche ich, möglichst Modelle zu finden, die die selbe Unterteilung haben. Die ganzen großen Türen von der Wohnzimmerflucht raus auf die Terrasse bekommen im oberen Segment sogar Buntglaseinsätze. Das Portal wird aufgearbeitet werden. Und bei den ungewöhnlich hohen Zimmertüren ist es auch einfacher, sie zu renovieren, als neue zu bestellen.

Dafür ist die Sache mit den Rolläden etwas komplizierter. Ursprünglich hatten alle Fenster an der Front und im Erdgeschoss auch nach hinten hölzerne Fensterläden. Nur oben und an den Seiten gab es Rollläden. Der Fensterbauer würde gerne alle Läden durch Rollos ersetzen. Das sei doch viel angenehmer zu öffnen und zu schließen und mache bei Wind auch nicht so einen Lärm. Ich dagegen hatte schon darüber nachgedacht, ob wir nicht die Rollladenkästen überall beseitigen und stattdessen an allen Fenstern Klappläden anbringen sollen. Das spart auch Energie, weil diese Kästen echte Kältebrücken sind. Also vertagen wir die Beantwortung dieser Frage noch einmal.

Als ich am Samstag ausgeruht und relativ früh mit dem Frühstück komme, schleicht Namjoon grade ins Bett. Idiotischerweise arbeitet er unter der Woche nachts und am Wochenende nachmittags, was bedeutet, dass er samstags zwischen der Nacht und dem Nachmittag Kampfschlafen betreiben muss, um das überhaupt durchhalten zu können. Aber er braucht jeden Won, um seine Schulden abzubezahlen, also hält er den Mund.

Die anderen dagegen tauchen mehr oder weniger wach und zerknittert aus ihren Zimmern auf.
Hoseok brummt.
"Warum kommst du eigentlich jeden Samstag noch früher? Das is echt anstrengend!"
"Guten Morgen, lieber Hobi. Und: das ist doch ganz einfach - weil es so unglaublich viel Spaß macht, euch dabei zuzusehen, wie ihr verzweifelt versucht, wach zu sein, bevor ich wieder nach Hause fahre."
Hihi. Wenn Blicke töten könnten ...

Etliche Kannen Kaffee später sind alle satt und geistig anwesend.
"Wie geht es euch inzwischen mit Namjoon? War die Entscheidung richtig?"
Yoongi schüttelt sich.
"Am Donnerstag Vormittag ist der Oberaufseher tatsächlich - wie Sie es vorausgesehen haben - unangekündigt auf der Baustelle rumgestolpert. Zum Glück war ich zu Hause und grade in der Küche, als er buchstäblich durchs Gebüsch gekrochen kam. Für hier im Haus haben wir ein Zeichen mit der Glocke verabredet. Einzelne lange Schläge wie mit einer Sturmglocke. Guk hat sich in seinem Zimmer eingeschlossen, der Typ hat hier durchs Fenster gelunzt, ich hab ihm mit Schwung das Fenster vor der Nase aufgemacht, er ist zu Tode erschrocken und rückwärts gestolpert."
Allgemeines Gekicher in der Tischrunde.
Jei, die sind heute gut drauf!

"Jin ist von hinten aufgetaucht, hat mich gefragt, was los ist, hat angefangen hier die Stühle hochzustellen und zu fegen. Ich hab Herrn Kim die Haustür aufgemacht und ihm ein paar trockene Blätter aus der verrutschten Frisur gepflückt. Der wollte sofort auf Namjoons Zimmertür zurennen. Aber nicht mit mir. Ich hab mich breit in den Flur gestellt und ihn zugelabert. Er meinte, er wolle zu seinem Klienten. 'Aber doch nicht um die Uhrzeit?' Er hat sich dumm gestellt, ich habe ihn hier rein gelotst, wo Jin ihm als erstes über die Schuhe gefegt hat. Und dann hab ich Tacheles geredet."
Wir lachen gemeinsam so laut und herzlich, dass ich schon befürchte, dass Namjoon aufwachen könnte.
"Ich habe ihm das Versprechen abgenommen, dass er keinen Pieps sagt oder tut, wenn ich ihm dafür zeige, dass Namjoon vollkommen ordnungsgemäß in seinem Bett liegt. Hat er dann auch brav gemacht. Noch viel lieber hätte ich ihn allerdings in unsere nicht mehr vorhandene Jauche oben im Keller geschubst."

Mit mir geht ein kleiner Teufel durch.
"Also - Yoongi! Böse! Das kann ich ja gar nicht verstehen. Der ArMe MaNn !!!"
Yoongi grinst so breit, wie ich es noch nie gesehen habe.
"Antwort auf deine Frage: wir sind alle noch sehr vorsichtig, um eine neue Balance zu finden. Aber bereut haben wirs bisher noch nicht. Er macht sich."
Ich schaue in der Runde rum und finde das in allen Gesichtern bestätigt. Das freut mich richtig. Gemeinsam decken wir den Tisch ab und bringen die Küche in Ordnung.

"Und jetzt?"
Jin winkt und geht schlicht wieder zurück ins Bett. Hobi zieht sich Schuhe an, greift sich eine kleine Bluetoothbox aus dem Regal und macht sich auf den Weg nach draußen.
"Ich geh hoch zur Villa. Muss ausnutzen, dass es noch kühl ist."
Aha, der geht trainieren. Da würd ich ja zuuuu gerne ... Wobei ... Idee! Das muss ich mit der Kunsthistorikerin Dr. Lee besprechen. In die Wohnzimmerflucht sollten unbedingt große Spiegel integriert werden a la Versailles. Wenn schon Barock, dann richtig.

Tae wird auf einmal ganz hibbelig.
"Nelli, drückst du mir die Daumen? Ich geh heute mit meinem Papa auf eine Handwerkermesse, um mir verschiedene Berufe anzukucken. Und dann werd ich zum ersten Mal dort übernachten."
"Uiiii! Das ist ja klasse! Mach Bilder. Viele Bilder. Dann kannst du das Wochenende hinterher ganz in Ruhe für Dich reflektieren. Komm mal her."
Wie ein aufgeregter Junge zu Weihnachten kommt er zu mir gehüpft, und ich nehme ihn ganz fest in die Arme.
"Soll ich Dich gleich mitnehmen?"
"Wär cool. Ich glaub, wenn ich jetzt eine Stunde lang öffentlich durch die Gegend gurke, drehe ich dezent durch."

In dem Moment kommen Jeongguk und Yoongi dazu. Guks Hände zittern, er holt ganz tief Luft und fängt leise an zu sprechen.
"Frau Cho? Ich ... hab nochmal mit Yoongi geredet. Und ..."
Er schlägt die Hände vors Gesicht und flüstert nur noch.
"Ich hab so Angst!"
Stille. Jeongguk bebt am ganzen Körper. Ich würde ihm am liebsten eine Tarnkappe überstülpen, so sehr leide ich mit.
"Ich ... will kein Zombi mehr sein. Ich will versuchen, ob ich was erzählen kann. Aber ich weiß nicht, wo ... da darf echt keiner mithören!"
Die helle Panik schwingt in seiner Stimme mit.

Ich fange fieberhaft an zu überlegen.
Hier auf dem Gelände gibt es eigentlich keinen geschützen Ort. Noch nicht. Und von hier weg will er nicht. Er balanciert schon jetzt nur noch auf ganz dünnem Eis. Es sei denn ...
Uff. Da muss ich aber entscheiden, ob ICH das will.
Lange überlege ich nicht.
"Jeongguk, ich möchte Ihnen ein Angebot machen. Nichts muss! Aber es ist eine Möglichkeit."
"Ja?"
Seine Stimme zittert.
"Wir fahren gleich zusammen hier los. Tae steigt unterwegs aus, Yoongi sitzt hinten, Sie liegen hinten. Und dann fahren wir zu mir nach Hause. Ich wohne im fünften Stock unterm Dach, drumrum sind keine höheren Häuser, auf der Etage bin nur ich, wir fahren von der Tiefgarage mit dem Aufzug bis oben durch. Und dann machen wir es uns gemütlich. Dort sieht und hört uns niemand, ich kann mich vollkommen auf Sie einstellen. Verhungern werden wir auch nicht. ... Was halten Sie davon?"

Gespannt warte ich auf seine Antwort. Er schaut zu Yoongi, der ihm wohlwollend zunickt. Er schaut wieder mich an, wird abwechselnd blass und rot. Schluckt.
"Das ... kann ich glaub ich schaffen. ... Jetzt gleich? Bevor ichs mir anders überlege?"
Tae hat stumm dabei gestanden und seine eigene Aufregung fast vergessen.
"Klar! Ich bin mit meinem Papa an dieser Messe verabredet, also kann ich da auch schon früher auftauchen und in der Wartezeit über die Messe schlendern. Ich richte mich nach dir."
Yoongi atmet tief durch und klopft Jeongguk auf die Schulter.
"Dann lasst uns aufbrechen. Hast du schon gepackt, Tae?"
"Da war nicht so viel zu packen."

Ich schaue mich nochmal sorgfältig um, greife meine Sachen und eine Decke vom Sofa. Tae hat einen kleinen Rucksack dabei. Und so laufen wir runter zu meinem Auto. Yoongi rutscht auf die Rückbank, Jeongguk legt sich daneben und kuschelt sich so in die Decke, dass nur noch zwei ängstliche Augen und eine Nasenspitze rauskucken. Tae kuckt kurz nach, wo ich ihn am besten rauslassen kann. Dann gehts los.

Eine dreiviertel Stunde später sitzen wir zu dritt in meinem Wohnzimmer, Getränke stehen bereit - und Jeongguk weint sich die Seele aus dem Leib allein bei der Vorstellung, uns jetzt irgendwas zu erzählen. Wir müssen eine ganze Weile mit ihm ausharren. Und mein Kopf fährt Achterbahn.
Ob er uns wohl was von den Narben erzählen wird? Oder sie uns zeigen wird? Was geht nur in den Köpfen von Menschen vor?!?
Da plötzlich setzt er sich kerzengrade hin, reißt sich das T-Shirt vom Körper und vergräbt sein Gesicht darin. Yoongi und ich schauen uns kurz an.
Wie können wir darauf jetzt richtig reagieren?
Der Anblick schüttelt mich wieder richtig durch. Ich taste mich leise vor.
"Waren das 'die da draußen'?"
Der Jugendliche zwischen uns auf dem Sofa nickt. Schluchzt. 

"Ich glaube ..., ... ich war ein ganz normaler Zwölfjähriger, als es anfing. Ich bin zur Schule gegangen, war überfordert, habe mich angestrengt, aber es wurde nicht besser. Ich habe meinen großen schlauen Bruder geliebt und bewundert, habe meinen Eltern vertraut und geglaubt, wenn ich nur noch ein klitzekleines Bisschen mehr ... DANN! Aber 'dann' kam nie. Ich wurde nur jedes Mal in den Senkel gestellt und ansonsten ignoriert. Mit jeder schlechten Note hatte ich mehr Angst, nach Hause zu gehen. Ich bin auf Bahnhöfen und an Sportplätzen rumgeschlichen. Der Druck zu Hause wurde immer größer. Die Lehrer fanden es auch nicht so witzig, dass meine Eltern dauernd Terror gemacht haben. Und dann ist schließlich die Gang auf mich aufmerksam geworden."

Sein Tonfall ändert sich auf einmal. Er klingt leiser, fast tonlos, kurz vorm Ersticken.
"Ich war immer irgendwo, und ich war immer allein. Am Anfang waren sie nett und wollten mich unter ihre Fittiche nehmen. Aber ich hab mich zurückgehalten. Mein Instinkt hat mir gesagt, dass ich Abstand halten sollte. Also schlug die Stimmung plötzlich um. Mit dreizehn war ich schon voll drin in der Erpressermühle. Teure Kleidung und Schuhe, mein gesamtes Taschengeld, Handy, ... alles haben sie mir abgeknöpft. Wenn ich mich gewehrt habe, kam sowas."

Jeongguk zeigt auf eine Narbe an seinem Arm.
"Ach, du ..."
Mir stellen sich alle Nackenhaare auf. Meine Haut brennt allein bei der Vorstellung.
"Sie haben Zigaretten auf meiner Haut ausgedrückt. Schnell war die Angst vor der Gang größer als die Angst vor meinen Eltern. Ich habe versucht, immer unter Menschen zu sein und so schnell wie möglich nach Hause zu kommen. Keine Chance. 
Am Anfang habe ich noch geweint und gebettelt. Dann habe ich das dem Klassenlehrer gezeigt. Daraufhin haben sie mich das erste Mal so richtig zusammengeschlagen und mir den Arm gebrochen."
Jeongguk zeigt auf eine OP-Narbe an seinem linken Unterarm.

"Nach der OP habe ich es dem Arzt erzählt. Seitdem hab ich die."
Diesmal zeigt er auf eine Kette von parallelen Schnitten an seiner Seite.
"Dann meinem Bruder."
Stumm deutet er auf seinen Rücken, auf dem ein großer, vernarbter Fleck prangt. Mir dreht sich fast der Magen um.
"Keine Ahnung, womit. Sie haben irgendwie die Haut verätzt. Das hat so irre weh getan wie nichts sonst auf der Welt. Wenn ich konnte, habe ich die Wunden verborgen und versucht, selbst durchzukommen."

"Als ich fünfzehn war, habe ich Boxtraining genommen. Ich habe gekämpft. Ich wollte mich nicht unterkriegen lassen. Im Winter haben sie mich in voller Montur in einen halb gefrorenen See gestoßen. Schneller, als ich denken konnte, war ich schon fast unters Eis gedriftet. Da haben mich Spaziergänger gerettet. Der Arzt war der erste, der weiter gedacht hat. Erst hat er alles aus mir rausgelockt, dann hat er sich meine Eltern geschnappt. Wisst ihr, wie die reagiert haben? Auf meine ganzen Narben? Und auf die ZEUGENaussagen, dass andere versucht haben, mich zu ersäufen?"
Wie kann ein Siebzehnjähriger so über seinen Beinahetod reden? Ersäufen! Er ist doch kein tollwütiger Hund!

Yoongi nimmt Jeongguk fest in die Arme. Ich bin schon lange sprachlos und wie gelähmt vor Entsetzen. Die Tränen laufen mir übers Gesicht, ich bekomme kaum Luft, und mir tut alles weh vor lauter Anspannung. Pure Bitterkeit tropft aus Guks nächsten Worten.
"Sie haben gesagt:'Hör auf mit der Effekthascherei! Wie kommst du dazu, dich selbst so zu verstümmeln? Hoffentlich erfahren die Nachbarn und Kollegen nicht, dass du versucht hast, dich umzubringen. Mach das nie wieder! Konzentrier dich lieber aufs Lernen.' ... Wörtlich."

Yoongi kocht innerlich vor Wut.
"Vollidioten. Aber echt!"
"Der Arzt war geschockt, hat die Polizei einschalten wollen. Meine Eltern haben es - sagen wir mal - unterbunden. In den darauf folgenden zehn Tagen sind meine Eltern auf dem Heimweg vom Theater überfallen und bedroht worden, bei den Spaziergängern, die mein Leben gerettet haben, hat der Briefkasten gebrannt, mein Bruder hat Warnbriefe in seinem Ranzen gefunden und ... und ..."

Jeongguk bricht schreiend zusammen. Ich frage mich allmählich, was denn schlimmer sein kann, aber noch ist er ja nicht mit allen Narben durch.
"Die ... die ... Die Kleine konnte doch gar nichts dafür!"
"Wer war die Kleine? Was ist passiert?"
"Die ... siebenjährige Tochter von dem Arzt. Sie haben sie ... sie haben ihr ... Angst gemacht, sie gehauen, ihre Sachen in den Dreck geworfen und dann immer gesagt:'sag deinem Vater, er soll den Mund halten'."

Schlagartig wird mir das ganze Ausmaß klar. Wann immer Jeongguk versucht hat, ihrer Macht zu entkommen, haben sie den Menschen geschadet oder zumindest gedroht, die ihm helfen wollten.
"Und jetzt hast du Angst um deine Familie, um dein Leben - und um uns, falls du entdeckt werden solltest. Das verstehe ich gut. Das ist ja furchtbar!"
Eine ganze Weile halten wir drei uns nur aneinander fest und versuchen, uns wieder zu beruhigen.

"Meine ... meine Eltern waren so bescheuert. Um mich daran zu hindern, dass ich noch mehr 'gefährlichen Unsinn' mache, habe ich einen Bodyguard bekommen. Danach war natürlich Ruhe. Aber wann immer sich die Gelegenheit ergab, haben sie mir gezeigt, dass sie noch da sind. Immer in meiner Nähe. Immer auf der Lauer.
Meine Noten sind durch all das natürlich nicht besser geworden. Aber ich habe mit niemand mehr geredet darüber. Ich wollte nie wieder jemand in Gefahr bringen. Und schließlich wurde die Angst so groß, dass ich abgehauen bin. Das war gar nicht so einfach. Immer wieder hat die Gang mich zufällig irgendwo entdeckt. Vor allem in mir fremden Stadtteilen konnte ich nicht einfach in den nächsten Laden rennen, einfach weil ich nicht immer wusste, wo der nächste Laden war. Aber eines habe ich sehr schnell gelernt: Gullideckel zu heben, die Gitter von Lichtschächten, die Türen von Kellern, Schuppen und Stromhäuschen aufzukriegen. Mauern am Ende von Sackgassen zu überwinden. Ich hatte ein paar Werkzeuge, und ich hatte Kraft. Viel Kraft. Das lernst du sehr schnell, wenn dein Leben davon abhängt. Fragt nicht, wo ich alles geschlafen habe in der Zeit!"

Wieder ändert sich seine Stimme. Aus Angst wird Wut wird Hilflosigkeit und Einsamkeit.
"Ich bin untergetaucht, habe mich ganz bewusst immer wieder in anderen Teilen von Seoul rumgetrieben, habe mich bei allen möglichen Hilfsstellen durchgeschnorrt, musste immer auf der Hut sein, weil ich noch minderjährig bin. Aber dann kam der Winter. Yoongi hat mich aufgegabelt und zur Villa gebracht. Ohne das wäre ich im letzten Winter erfroren."

Vielleicht hat Jeongguk die Gang tatsächlich abgeschüttelt. Aber für ihn reicht es, dass einer von denen zufällig im selben Bus sitzen könnte. Also macht Guk sich lieber zum Gefangenen seiner eigenen Angst innerhalb des schmiedeeisernen Zauns am Bukhansan, als jemals wieder zu erleben, dass wegen ihm ein unschuldiger Mensch zu Schaden kommt. Sein Ausbilder, wir alle, JEDER, der mit ihm zu tun hat, könnte das nächste Opfer sein. 


"Ich will ja normal leben. Die Schule zu Ende machen. Irgendwas lernen. Ich möchte Kontakt zu meinem Bruder haben. Ich habe Oma und Opa geliebt. Ich möchte diese ganze Scheiße hinter mir lassen können."
Mit Verzweiflung in der Stimme zeigt er auf seine Narben.
"Aber ich habe so Angst, ... dass ... dann wieder jemand bedroht oder verletzt wird!"

Hilflosigkeit überflutet mich wie ein Tsunami.
Was kann ich denn tun? Ist ein Jahr lang genug, um zu hoffen, dass sie ihn vergessen haben? Was hatte Yoongi gesagt? Ich habe meine Kontakte, deiner Familie geht es gut. Was meinte er damit? Ist es möglich für Jeongguk, normal zu leben? Kontakte zu haben? Ohne die Bedrohung? Vermutlich wird Guk nie innere Ruhe finden, so lange diese Typen nicht aus dem Verkehr gezogen sind und alles lückenlos aufgeklärt wurde. Aber das Schlimmste für ein Kind ist wohl, wenn die eigenen Eltern ihm nicht glauben. Selbst der beste Therapeut kann liebevolle Eltern nicht ersetzen. Und DAS ist klar: Jeongguk darf nicht gezwungen werden, zu seinen Eltern zurück zu gehen. DIE Brücke ist abgebrannt, dahin führt kein Weg zurück. Das wird nur das Jugendamt anders sehen.

Auf einmal geht es um sehr viel mehr als die Frage, welche Ausbildung der Junge macht. Hier geht es um die Sicherheit von mehreren Menschen.
Sanft nehme ich Jeongguk sein Shirt aus den Händen und ziehe es ihm wieder an.
"Ich glaube, ich muss mich entschuldigen, Gukkie. Ich habe die ganze Zeit gedacht, mit ein bisschen Anschieben und dem richtigen Therapeuten wird das schon wieder. Aber das ist alles noch viel schlimmer, als ich mir jemals ausmalen könnte. Danke, dass du uns das anvertraut hast."

Yoongi ist sehr blass im Gesicht.
"Was für furchtbare Jahre! Was bin ich froh, dass du mir aufgefallen bist in diesem Lichtschacht! Wann hast du sie denn zum letzten Mal gesehen und wo - kannst du dich erinnern?"
"Ich glaub ... Als du mich aus dem Lichtschacht gepflückt hast ... Ich hatte einen von denen gesehen. Ich bin gerannt wie ein Hase und dann da runter."
Ich stutze.
"Also weißt du gar nicht, ob der dich gesehen hat oder dir sogar gefolgt ist."
"Nö. Mich hat nur interessiert, wie ich da wegkomme."
Wir konzentrieren uns ganz auf Jeongguk, damit er sich für heute stabilisiert. Nebenbei registriere ich allerdings auch noch, dass Yoongi so ernst und entschlossen wirkt wie noch nie. Und dass ihn etwas innerlich zu zerreißen scheint, so heftig wie noch nie.

Um die Situation zu normalisieren und etwas Leichtigkeit reinzubringen, stelle ich mich in die Küche und koche was Schnelles. Anschließend setze ich Yoongi in der Stadt ab und bringe Guk nach Hause. Nach Hause. Die Villa und die Pförtnerei sind sein Gefängnis, seine Trutzburg - und sein Zuhause. Hoseok und Jin kümmern sich sofort um ihn. Also kann ich beruhigt in mein Wochenende starten.

Was man so beruhigt nennt ... Himmel, hat der Junge schon viel mitgemacht! Da ist der beste Hollywood-Blockbuster langweilig neben diesem Horrorstreifen. Oder so. Wenn ich nur irgend einen Anhaltspunkt hätte, wo ich anfangen soll zu suchen! Ich würde Guk so gerne ermöglichen, seinen Bruder zu sehen. Oder ihm sagen können, dass es dem Arzt und seiner kleinen Tochter gut geht. Ich würde gerne die Eltern vor den Richter zerren.

Ich könnte ja einfach zur Polizei oder zum Jugendamt gehen. Aber wenn ich mir Namjoons Anstandswauwau ansehe - bloß nicht! Ich verstehe gut, warum Jeongguk kein Vertrauen in unsere staatlichen "Hilfen" hat.

Yoongi weiß mit Sicherheit mehr, zumindest über die Familie. Aber der hat sich ja eben sofort abgesetzt, mit einem dermaßen entschlossenen und verschlossenen Gesichtsausdruck, dass ich keine Ahnung habe, was von seiner Seite als nächstes kommt. Jeongguk hat uns auch nur die Geschichte seiner Narben erzählt. Aber wir wissen keine Namen, keine Stadtteile, keine Schule, keine Kontakte - nichts! Hoffentlich kann Yoongi ganz viel rausfinden, ohne schlafende Hunde zu wecken!

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27.1.2023    -    22.3.2024

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