23 - im Schatten der Angst

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Jeongguk fängt sich nur langsam wieder, aber alle anderen haben viel Geduld mit ihm, ohne neugierige Fragen zu stellen. Namjoon wird im Laufe von nur zwei Tagen plötzlich extrem nervös und gereizt und verträgt keine Kritik. Wir kriegen aber auch nicht aus ihm raus, was los ist. Also gehen wir ihm alle aus dem Weg.
Und Yoongi ist mal wieder drei Tage lang spurlos verschwunden. Dienstag Abend schreibt mir Jeongguk, dass Yoongi wieder da sei, total übermüdet und abgewrackt. Er habe geduscht, mit niemand geredet und sei dann sofort ins Bett gegangen.
Na, das lieb ich ja. Jetzt müssen wir immer noch warten. Hoffentlich ist er morgen Abend ansprechbar!

Am Mittwoch darf ich mal wieder fürs Abendessen sorgen. Ich steuere grade den Supermarkt an, als mein Telefon hartnäckig bimmelt. Es ist Yoongi. Er klingt außer Atem, und ich höre Windgeräusche.

"Frau Cho? Ich habe Neuigkeiten. Könnten Sie heute früher kommen, damit wir reden können? Ich warte draußen auf Sie."

Tuuuuuut. Yoongi hat aufgelegt.
Na, der ist ja lustig.
Ich plane um, kaufe einen großen Stapel Tiefkühlpizza und fahre sie direkt zum Pförtnerhaus.
Muss sich eben Jin drum kümmern.

Kaum habe ich gewendet und bin den Hang runter gefahren zum Tor, sitzt Yoongi neben mir.
"Und jetzt?"
"Jetzt kommt das, was Jeongguk mir zwischen den Zeilen alles verraten hat, ohne es zu wissen."
Er drückt mir einen großen, dicken Umschlag in die Hand und schaut dann stur durch die Frontscheibe, während ich höchst irritiert den Umschlag öffne und den Inhalt sichte. Es ist eine wirre Mischung aus Fotos, Notizen und offiziellen Schreiben. Entgeistert schaue ich Yoongi an, der immer noch aus dem Fenster starrt. 

"Und jetzt?"
Endlich wendet er sich mir zu.
"Jetzt erkläre ich Ihnen mit diesen Fotos, was ich rausgefunden habe."
Er fängt an, in dem Material zu kramen.
"Das ist der Vater - ein skrupelloser Selfmademan. Der hat vor allem Angst um sein gutes Ansehen. Diese fünf waren erst nur unausgelastete Jugendliche auf der Suche nach ein bisschen Spaß. Jeongguk war ihr erstes dauerhaftes Opfer, denn da war Geld zu holen. Es hat allerdings keiner damit gerechnet, wie zäh Guk ist, wie schlau er ausgewichen ist, wie erfolgreich er sich gewehrt hat. Vor zwei Jahren ist die Gang dann 'etwas außer Kontrolle' geraten. Gewaltbereit waren sie schon länger. Also haben sie erst versucht, Guk umzubringen. Dann haben sie sich die ganzen Beteiligten vorgeknöpft, bedroht, gequält, erpresst."
Mein Hirn rast, mein Puls auch. Es ist ein großer Unterschied, ob man theoretisch weiß, dass sowas immer wieder vorkommt, oder ob man jemand kennt, der durch diese Hölle gegangen ist. Und noch geht.
Ich versuche, irgendwie adäquat zu reagieren. Ich kann nur keinen klaren Gedanken fassen.
"Und jetzt?"

"Und jetzt kommt der Clou. Weil Gukkie den Bodyguard hatte, haben sie ihn noch eine Weile beobachtet, ob der wieder verschwindet. Das waren die Momente, wo er sie gesehen und immer mehr Angst entwickelt hat. Weil der Aufpasser aber nicht verschwand und außerdem nie die Polizei im Spiel war, haben sie irgendwann einfach aufgegeben und sich andere Opfer gesucht. An Guk kamen sie nicht mehr ran. Da war auch nichts mehr zu holen. Und das wars."
Ich wiederhole mich, zu mehr bin ich nicht in der Lage.
"Und jetzt?"

"Jetzt habe ich mein Netzwerk angefixt, um das alles mal rauszufinden. Jeongguk und seine Familie sind überhaupt nicht mehr in Gefahr. Die Bedrohung existiert nur noch in seinem Kopf."
Gaaaanz allmählich schaltet sich mein Hirn wieder ein.
"Yoongi, woher wissen Sie das alles?"
"Weil ich sowieso seit acht Jahren in der Szene bin. Seit ich Jeongguk kenne und hier unter meine Fittiche genommen habe, habe ich zusätzlich die Augen offen gehalten, habe Informationen gesammelt. In den letzten Tagen habe ich meine Quellen angezapft und den aktuellen Stand erfahren. Diese Typen gibt es noch. Zwei sitzen im Knast wegen was ganz anderem, drei haben die Kurve gekriegt. So sehen sie heute aus."
Yoongi zeigt mir die Fotos von fünf jungen Männern. Von zweien sind es Fahndungsfotos, die anderen drei sind mehr oder weniger bürgerlich angezogen, normal frisiert und offensichtlich in einem normalen Leben angekommen. Glücklich sehen sie aber alle fünf nicht aus.

Das klingt ja dann doch wieder plausibel. Ach, Mann! Ich bin viel zu aufgewühlt und verwirrt und ...
Immerhin bringe ich inzwischen auch andere Wörter über die Lippen.
"Und was können wir jetzt tun?"
"Den Bruder herholen und die beiden zusammenbringen. Das dürfte ein großer Schritt nach vorne, aus der Selbstisolation sein. Und bei Guk Überzeugungsarbeit leisten, dass er seine Ängste wirklich loslassen darf. Deshalb hab ich diese ganzen Informationen in Wort und Bild aufgetrieben - damit ich eine Chance habe, dass er mir glaubt."

Ich versuche zu verarbeiten, was ich grade alles erfahren habe. Es fällt mir schwer, von jetzt auf gleich den Schalter umzulegen.
Eigentlich könnte bald alles in Ordnung sein, alles wieder ins Lot kommen. Aber Jeongguk ist so nachhaltig und tief innendrin verletzt, verraten, verfolgt und traumatisiert worden - wie schwer wird es ihm dann erst fallen, diese neue Realität zuzulassen und seine weggesperrte Seele tatsächlich frei zu lassen? Fünf Jahre Qual - wie lange wird es dauern, das zu überwinden?
In meiner Schockstarre schalte ich um auf etwas möglichst Banales.
"Lassen Sie uns hoch laufen und mit den anderen essen. Jin dürfte inzwischen fertig sein."

Die Pizza schmeckt super, denn Jin hat für jeden von uns nach Geschmack noch was extra draufgelegt und nachgewürzt. Ich bin allerdings nicht ganz bei der Sache. Ich beobachte Jeongguk - alles wie immer. Ich beobachte Yoongi - ich kapiers nicht. Namjoon ist noch nicht los zur Arbeit und mit den Gedanken ganz weit weg. Seine innere Unruhe wirkt wie ein Fremdkörper im Raum. Oder wie eine Farbe, die sich mit allen anderen im Bild beißt. Ich bin aber zu blockiert von den Ereignissen und Erkenntnissen um Jeongguk und dränge diese komischen Schwingungen lieber in den Hintergrund.

Tae hatte ein schönes Wochenende, mag seine Arbeit und mümmelt entspannt vor sich hin. Jin ist stolz, dass es allen so gut schmeckt. Hoseok beobachtet Guk, Yoongi und mich und schüttelt immer wieder den Kopf. Es ist offensichtlich, dass er etwas spürt, das aber aus Mangel an Informationen nicht einsortieren kann. Irgendwann höre ich auf zu essen. Ich krieg nichts mehr runter, weil ... Ich kann nur essen oder grübeln. Beides gleichzeitig geht nicht.

'Bei Guk Überzeugungsarbeit leisten, dass er seine Ängste wirklich loslassen darf' - das sagt sich so leicht. Aber der macht doch schneller dicht, als wir den ersten Satz zu Ende gesprochen haben! Mir fällt einfach nichts ein, welcher Ort, welcher Zeitpunkt, welcher erste Satz geeignet sein könnte, um ihm die Entwarnung glaubhaft zu vermitteln.
Offensichtlich habe ich mir zu viele Gedanken gemacht. Kaum ist der Tisch abgedeckt, schnappt sich Yoongi den dicken Umschlag, schaut mich auffordernd an und schiebt Jeongguk zur Tür.
"Lass uns rausgehen, Guk. Ich will dir was zeigen."
Ich dackele einfach hinterher und warte ab, was kommt. Yoongi scheint eine Strategie zu haben.

Wir setzen uns zum Hackklotz hinter der Werkstatt auf einen liegenden Baumstamm.
"Gukkie, ich möchte mich zuerst entschuldigen, dass ich am Samstag einfach so verschwunden bin. Ich war in der Stadt, an verschiedenen Plätzen, und habe Insidern ein paar Fragen gestellt."
Jeongguk blickt misstrauisch auf den Umschlag in Yoongis Hand.
"Was für Insider? Und was für Fragen?"
"Ich wollte wissen, was aus den Mitgliedern der Gang inzwischen geworden ist.''
Jeongguk springt von dem umgestürzten Baum hoch, schlagartig zitternd, als stünde er unter Strom.
"Bist du verrückt???"
Yoongi spricht leise und sanft und sieht ihm fest in die Augen.
"Bitte glaube mir - du bist nicht in Gefahr. Deine Familie ist nicht in Gefahr. Niemand ist durch dich mehr in Gefahr."

Jeongguk holt kaum Luft vor Anspannung, bereit, jederzeit wegzulaufen. Ich reiche ihm meine Hand hin, und als er Halt suchend danach greift, ziehe ich ihn wieder runter zu uns auf den Stamm. Mir fällt ja selbst das Atmen schwer.
"Pass auf. Ich zeige dir jetzt Bilder und Dokumente, die dir beweisen, dass du keine Angst mehr haben musst."
Und dann packt Yoongi aus, erzählt, bringt in Zusammenhang, während ich meine Arme um den Jungen gelegt habe, damit er sich geborgen fühlt und nicht doch noch wegrennt. Mehr als einmal muss ich ihn wirklich festhalten, bis Yoongi ihn schließlich von der anderen Seite auch umarmt.

"Ich habe nie an deiner Angst gezweifelt oder an den Auslösern dafür. Ich konnte es einfach nicht mehr mit ansehen und wollte deshalb aus den Gespenstern deiner Vergangenheit greifbare Fakten machen.
Du darfst dich weiterhin unsicher fühlen, du darfst dir Zeit lassen, die ersten Schritte da raus zu machen. Aber du hast uns am Samstag auch erzählt, was du dir wünschst, wen du vermisst. Und das würden wir dir gerne bald ermöglichen, um deine grausame innere Isolation zu beenden."
Jeongguk starrt stumm auf seine zitternden Hände. Es arbeitet in ihm.

Er greift nach den Fotos, die seinen Bruder bei einer Unifete und in einer Vorlesung zeigen. Er ringt mit sich. Flüstert nur.
"Ich möchte Junghyuk sehen - meinen Bruder. Aber ohne die Eltern. Die will ich nie wieder sehen. ... Geht ... das?"
Leise schiebt Yoongi ihm einen Zettel mit einer Telefonnummer rüber.
Kuck an. Das hat er mir noch gar nicht verraten. Er scheint in diesen drei Tagen die halbe Welt bewegt zu haben.
"Er wartet auf deinen Anruf, Gukkie. Er weiß, dass du Zeit brauchen wirst, um wieder normal ohne Angst leben zu können. Und er möchte Dir gerne dabei helfen."

Jeongguks stille Tränen der Einsamkeit, der Erleichterung, der Verwirrung, der Angst, der Unsicherheit und der Vorfreude laufen unaufhörlich. Sein Gesicht ist so offen, seine Gefühle so vielfältig, dass es mich mitreißt wie eine wilde Strömung. Ich spüre seine vielen Gefühle nahezu selbst körperlich, obwohl ich ihm bei diesem stummen Ringen doch nur zusehe.
"Das ... das heißt ..., dass ... alles vorbei ist? Keiner ist mehr in Gefahr? Ich kann einfach da raus? Ich bin einfach wieder Jeon Jeongguk und kann einen Beruf lernen oder ... irgendwas machen? Einfach so, ohne Angst?"

Nacheinander blickt er uns beiden ins Gesicht, in die Augen und sucht nach der erlösenden Bestätigung. Schnell nicken wir beide ihm zu. Die tiefe Trauer und der Unglauben in seinen Augen treffen mich bis ins Mark.
Ein Siebzehnjähriger sollte nicht so angstvolle, traurige Augen haben! Er hat seine Jugend, seine Familie und sein Vertrauen in die Welt verloren. Das alles gibt ihm nie jemand zurück. 

"Jeongguk? Als Yoongi neulich mit dir reden wollte, da wollte er dir von einem Ausbildungsplatz erzählen. An der Buslinie, die hier den Berg runter führt, liegt eine Zweirad-Mechaniker-Werkstatt, die auch pädagogisch betreut wird. Und sie akzeptieren bei Minderjährigen jeden glaubwürdigen Erwachsenen als Bürgen. Es müssen nicht deine Eltern sein. Also könnte dein Bruder mit dir da hingehen, du bewirbst dich und könntest die Ausbildung machen."
"Oder Yoongi?"
Fragend sieht er zwischen uns hin und her.
"Oder Frau Cho. Sie macht das bestimmt auch gerne für Dich."
Yoongi? Warum bist du jetzt schon wieder ausgewichen? Später.
"Ich habe eben einfach zum 'du' gewechselt. Das gilt natürlich für uns beide, wenn du das möchtest. Oder wir warten beide noch damit."
Jeongguk nickt, und ich deute das einfach mal als 'Ja'.

"Ich möchte dir noch was sagen. Du hast doch mein altes Moped so toll gefunden und so blitzblank geputzt. Wenn du in der Werkstatt alles gelernt hast, was du dafür brauchst, gehört es dir. Du kannst es selbst für dich reparieren und dann einen Führerschein dafür machen. Was denkst du?"
Jeongguk starrt mich ungläubig an, schüttelt sich wie ein nasser Hund, fängt an zu strahlen.
"D... das  ... ist jetzt ein bisschen viel auf einmal. Aber ...danke! Das ist toll. ... Dann ... sollte ich jetzt üben ... Ich muss mich in der Werkstatt bewerben, oder? Hoffentlich haben die überhaupt noch einen Platz für mich!"
"Erst der Bruder, dann die Ausbildung. Was denkst du?"

Ein Fünkchen der unerwarteten neuen Realität scheint bei ihm angekommen zu sein, denn plötzlich fällt er erst Yoongi, dann mir um den Hals.
Gleich darauf ist er wieder ganz still. Er mustert den Zettel mit der Telefonnummer in seinen Händen.
"Ich hab doch gar kein Telefon."
"Hier. Nimm meins."
Fast ehrfürchtig greift Guk nach Yoongis entsperrtem Handy, wählt die Nummer und hält sich den Apparat mit zitternder Hand ans Ohr. Als wir am anderen Ende eine Stimme hören, stehen Yoongi und ich auf und gehen um die Garage zurück zur Haustür. Bei diesem Telefonat braucht er sicher niemand zum Händchenhalten.

Als Jeongguk eine halbe Stunde später zu uns ins Haus kommt, strahlt er wie die Sonne selbst. Erst fällt er schon wieder Yoongi um den Hals, dann Tae, dann mir, schließlich auch Jin und Hobi. Es ist, als tanze ein Schmetterling im Sonnenschein. Es ist so berührend, seine Freude, sein Glück zu sehen.
"Yoongi, kannst du morgen mit mir üben rauszugehen? Ich möchte am Freitag meinen Bruder vom Bus abholen."
"Klar kann ich das. Aber warum willst du das üben? Weißt du nicht, wo die Haltestelle ist?"
"Nein. Doch! Ich ... ich bin eben runter gegangen zum Tor. Ich wollte sofort nach der Haltestelle suchen. Aber in dem Moment, als ich die Klinke vom Tor berührt habe, ist mir die Luft weggeblieben, und ich hab nur noch geschlottert. Ich ... habs ja irgendwie kapiert. Aber ... die Angst ... Es ist, als ob sie ein Eigenleben hat. Das ... ich krieg das nicht alleine hin."
Unsicher schaut er uns nacheinander an. Sein Gesicht sieht aus, als warte er darauf, dass wir ihn auslachen. Aber keiner lacht. Wir freuen uns nur, dass unser Küken auf einmal so frei und fröhlich wirkt.

Ich fahre spontan bei So-Ra vorbei, die sich inzwischen über gar nichts mehr wundert. Ich bringe sie andeutungsweise auf den neuesten Stand.
"Und das war jetzt nur die Spitze vom Eisberg, richtig? Das klingt echt übel. Das wünscht man seinem ärgsten Feind nicht!
Aber ich finde es toll, dass du jetzt auch zu Yoongi einen so guten Draht hast. Überhaupt! Du sanierst nicht nur die Villa - sondern gleich auch noch sechs Leben. Sieben. Deines ja auch. Du hast so viel gelernt, du bist so viel stärker und klarer geworden im letzten halben Jahr. Das steht dir richtig gut."

"Na, weiß nicht. Yoongi und Namjoon sind für mich immer noch Bücher mit sieben Siegeln. Und Jin ist zwar wacher und entwickelt innerhalb der Gemeinschaft ein bisschen Selbstbewusstsein. Aber das macht ihn weder satt noch stabil."
"Immer diese Ungeduld! Ausnahmslos alle haben sich dir von alleine geöffnet und machen erste Schritte in eine selbst bestimmte Zukunft. Du hast bei allen schon ganz viel erreicht.
Weißt du was? Ich glaube, du bist einfach müde und deshalb so voller Zweifel. Ab nach Hause und ins Bett mit dir. Vielleicht schaffst du es dann morgen, stolz auf dich zu sein."

Kurz, bevor ich einschlafe, fällt mir auf, was mich an diesen letzten Sätzen von So-Ra stört.
Auf einmal läuft das alles zu gut! Von den sechs Personen weiß ich nur bei Jin nicht, was seine Vorgeschichte ist. Alle anderen haben mir schon ihr Vertrauen geschenkt. Den Jungs gehts gut, die Sanierung der Villa schreitet voran. Ich habe für jede Arbeit genau die richtigen Fachleute gefunden. Ich habe eine einigermaßen vernünftige Work-Bau-Life-Balance. Wo ist der Haken an der Sache???
Naja, wahrscheinlich hat So-Ra recht, und ich bin einfach zu müde, um mich zu freuen.

Schon am nächsten Morgen werde ich eines Besseren belehrt. Hoseok ruft an. Im Hintergrund sind laute Schimpftiraden zu hören. Wenn ich das richtig identifiziere, ist das die Stimme von Namjoon, und sie klingt irgendwas zwischen gehässig und verzweifelt. Ich verlasse unser Büro und fahre hoch zur Dachterrasse.

"Nelli? Ich ... sorry. Du bist schon im Büro und kannst eh nichts machen. Ich wollte dich nur informieren. Namjoon ist von der Arbeit nach Hause gekommen, total übermüdet und sofort ausgerastet. Jin ist eine Null, Jeongguk ein Angsthase, Tae ein Weichei, Yoongi ein Drückeberger und ich ein Looser."
"Ich hörs. Welche Laus ist dem denn über den Weg gelaufen?"
"Wir haben kein Bügeleisen."
"Kein ... WAS???"
"Kein Bügeleisen."
"Aha."
"Er braucht das aber. Jetzt. Sofort. Und so weiter ..."
"Dann soll er losfahren und sich eins kaufen."
"Haben wir ihm auch gesagt. Aber das kostet zu viel Geld und zu viel Zeit. Er braucht das JETZT."

"Dann solltest du zusammen mit Yoongi die drei anderen aus der Schussbahn bringen und ihn alleine lassen. An dem Ausraster werdet ihr jetzt nichts ändern. Ihr könnt nur euch selbst schützen. Ich nehme ihn mir dann zur Brust."
"Heute oder morgen?"
"Besser schon heute. Aber wenn ihr es schafft, ihn zu isolieren und zu ignorieren, dann kommt er bis morgen Abend vielleicht selbst auf die Idee, was da grade schief läuft in seinem Kopf. Ich komme ja morgen."
"Auch wieder wahr. Okay, ich schnapp mir die anderen, wir gehen einfach zur Villa und machen uns nützlich. Das stabilisiert die drei vielleicht auch wieder ein bisschen."
"Du bist der Beste, Hobi. Ruf ruhig wieder an, wenns was Neues gibt, dann weiß ich, wann ich eingreifen muss. Ich bin nur von 10.00 bis 11.00 in einer Sitzung. Haltet die Ohren steif!"

Seufzend fahre ich runter auf meine Etage, bereite mich auf die Sitzung vor und gebe mir redlich Mühe, mich auf die Arbeit zu konzentrieren. Im Hinterkopf rattert es allerdings unaufhörlich. Entsprechend anstrengend wird das Meeting. Gut, dass So-Ra dabei ist und mich bei der Stange hält.

Als ich danach mein Handy wieder einschalte, purzeln mir einige Nachrichten von Hobi und Yoongi entgegen. Taehyung, Jeongguk und Yoongi sind ganz oben und arbeiten bei den Dachdeckern mit. Yoongi berichtet, dass es den beiden Jüngeren hilft, da sie sich dabei sehr konzentrieren müssen und gleichzeitig von den Handwerkern gut integriert werden.

Hoseok und Jin sitzen in der großen Wohnzimmerflucht, hören Musik und sortieren die vielen, vielen Parkettbrettchen, die im ganzen Haus von den Böden geholt wurden. Einige sind zu aufgequollen oder haben durch herabgefallene Gebäudeteile heftige Macken und Risse. Die werden beiseite gelegt, um irgendwann in einem der Kamine zu landen. Aber der Architekt hofft, dass doch ausreichend Brettchen heile sind und in den oberen Etagen wieder als Versailler Tafelparkett verlegt werden können. Das wird den Räumen einen sehr lebendigen und warmen, alten Look verleihen. Im Erdgeschoss wird dann neues Parkett verlegt, zum Teil auch mit aufwändigeren Mustern. Hobi berichtet, dass diese mechanische Arbeit ihnen hilft, runter zu kommen und mit etwas Abstand zu überlegen, was da heute Morgen eigentlich passiert ist.


Wo und wie Namjoon sich jetzt befindet, wissen sie alle nicht. Sie haben ihn mitsamt seinem verletzenden Gezeter einfach stehen lassen.
Gut so! Hoffentlich hat er bei den Jungs nicht zu viel Scherben geschlagen. Grade Jeongguk hat doch erst gestern all das Neue erfahren und ist ganz bestimmt noch nicht stabil. Er will nachher mit Yoongi üben, seine Angst in Schach zu halten, das Gelände zu verlassen und bis zur Bushaltestelle zu kommen. Da ist so ein Etikett wie 'Angsthase' nicht grade förderlich für den Erfolg.

Gegen Abend trudelt der nächste Bericht ein. Namjoon war wohl am Vormittag weg und ist gegen Mittag wieder gekommen. Im schicken Anzug, mit Hemd und Schlips. Noch müder und noch wütender als am Morgen. Er hat eine Runde getobt, seine Kleidung im Flur auf den Boden gepfeffert und ist schlafen gegangen. Die anderen Jungs haben nach der Arbeit geduscht, sich was zu essen gemacht und grillen jetzt oben auf der Veranda, damit sie Namjoon gar nicht begegnen, bis der zur Arbeit muss. Zwischendurch wollen sie alle zusammen einen Spaziergang machen, Jeongguk einfach mittendrin, damit sie sich endlich mal die Gegend ansehen können und er auf diese Weise rauskommt, ohne lange drüber nachzudenken. Also wünsche ich ihnen weiter gute Nerven, guten Appetit und verabschiede mich bis morgen.

In der Laune ist ein vernünftiges Gespräch mit unserem Bänker sowieso nicht möglich.
Ich merke, dass ich allmählich krisenmüde werde.
Es ist so viel in der Schwebe, so viel noch ungeklärt bei jedem einzelnen. Da reicht ein Aussetzer von einem der sechs - und schon ist das ganze System am Wackeln. Ich mag sie alle, ich habe Freude daran, wenn ich helfen kann. Aber das viele Pendeln zwischen Wohnung, Job und Villa geht mir allmählich echt auf den Keks. Und immer zu Hauptverkehrszeiten! Wenn ich dann Feuerwehr spielen muss wie bei Guks Panikattacke neulich, dann sind diese Entfernungen ein echtes Hindernis.

Hoffentlich schafft Jeongguk es, tatsächlich zur Bushaltestelle zu gehen. Und hoffentlich wird der Besuch vom Bruder ein durch und durch positives Erlebnis. Hoffentlich ist Namjoon morgen wieder besser drauf!

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29.1.2023    -    22.3.2024

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