42 - Die zweite Hälfte der Wahrheit

Màu nền
Font chữ
Font size
Chiều cao dòng

Mit einer liebevollen Umarmung schickt So-Ra mich in den Feierabend. Als erstes fahre ich nach Hause, wo ein verschlafener Namjoon auf dem Weg ins Bad an mir vorbeistolpert. Ich ziehe mir was Bequemeres an und greife mir ein paar Klappboxen für Yoongis Umzug. Namjoon ist nach der Dusche erheblich wacher, schnappt sich seine Jacke und folgt mir zum Aufzug. Als er seine Hände in die Taschen steckt, sieht er zunächst irritiert aus und fördert dann den Schlüsselsalat nebst Zettel zu Tage. Ein sehr breites und sehr glückliches Grinsen zieht über sein Gesicht.
"Danke, Nelli. Dein Vertrauen macht mich richtig glücklich."
"Das soll so sein. Ich finde, wir sind über das Stadium mit Hintertür und Nachbarin hinaus."

Je näher wir dem Bukhansan und der Villa kommen, desto unruhiger werde ich.
Was und wen werden wir vorfinden? Ist Jeongguk überhaupt zur Arbeit gegangen? Hat Taehyung nochmal Kontakt mit Jimin oder wenigstens mit Herrn Kang gehabt?

Hoseok und Tae sind auf der Baustelle, Guk ist noch im Betrieb und Jin sitzt in der Septembersonne zum Gemüseschnibbeln. Dabei erzählt er uns, wie der große Knall für ihn war.
"Ich zittere immer noch ein bisschen, wenn ich an gestern Nachmittag denke. Die Wogen sind scheinbar erstmal geglättet, aber natürlich brodelt es noch unter der Oberfläche. Tae hält sich dicht an Hobi, aber es geht ihm scheiße, weil er Jimin wirklich mag. Cheongguk verhält sich wie eine Mischung aus einem Küken, das aus dem Nest geschubst wurde, und einem mit Adrenalin voll gepumpten, illegalen Boxkampfchampion. Sprich: er ist eine tickende Zeitbombe ohne Zeitplan."

Jin seufzt.
"Entsprechend nervös bin ich. Ich hätte gerne dringend Abstand zu Gukkie aus reinem Selbsterhaltungstrieb. Und ich wüsste gerne, wer denn nun wann und warum was gemacht, gesagt oder gelassen hat. Denn kapiert hab ich schlichtweg gar nichts."
"Danke für die Zusammenfassung, Jin. So etwa habe ich mir das gedacht. Pass auf. Wir wissen ja jetzt, dass Yoongi einen festen Wohnsitz hat. Also werden wir seinen gesamten, hier befindlichen Besitz einpacken und in die Werkstatt stellen, bevor Guk nach Hause kommt. Holen kann Yoongi sich das jederzeit. Er sollte und will hier erstmal nicht auftauchen. Viel mehr habe ich noch nicht aus Yoongi rausbekommen, ich hoffe, dass er mir heute mehr erzählt."

Nach und nach trudeln alle von der Arbeit zu Hause ein. Ich will zwar nicht zum Essen bleiben, aber Joonie und ich wollen die Stimmung in der Gruppe erleben. Und die ist ziemlich genau so, wie Jin es beschrieben hat. Guk ist sauer auf Yoongi, Tae ist sauer auf Guk, Jin hat Angst und Hobi möchte am liebsten alle schütteln, um die grauen Zellen neu zu sortieren.
Leider geht Taehyung bei meiner Nachfrage sofort an die Decke, weil Jimin seitdem jeden auch noch so leisen Annäherungsversuch abgeblockt hat. 

Ich schnappe mir Jeongguk und bitte ihn, mir von gestern zu erzählen. Erst kuckt er wütend, dann steht er auf und geht wortlos raus. Da ich keine Ahnung habe, was er mir damit sagen will, bitte ich die anderen, Yoongis Sachen zu packen, und gehe einfach hinterher. Ich sehe ihn grade noch hinter der Werkstatt verschwinden. Kurz darauf höre ich, wie er mit der Axt auf Holz eindrischt.
Beim letzten Mal war Yoongi dabei und hat auf ihn aufgepasst. Und genau das hat er jetzt verloren. Wie wird es wohl diesmal sein?

Ich spähe um die Ecke und bin verblüfft. Guk hat schon wieder aufgehört zu hacken. Er steht da mit hängenden Schultern und tränenüberströmtem Gesicht und starrt auf den Klotz, auf dem Yoongi damals gesessen hat. Tiefe Traurigkeit und auch Bitterkeit tropfen aus seinen Worten.
"Ich habe ihm geglaubt. Alles. Ich habe ihm vertraut. Bedingungslos. Er hat mich gerettet, er hat mich gehalten, er war meine Sonne im Finstern!
...
Aber das war nur eine Attrappe. Für mich. Warum auch immer. Er ist jemand völlig anderes, den ich überhaupt nicht kenne. Er hat ein anderes Leben - mit Job, Auto, Wohnung, Dusche, Freunden, Gehalt, Rente, wasweißich. Wahrscheinlich stimmt sogar der Mops, und er hat sich an dem Tag einfach nur verplappert, weil er noch nicht ganz wach war.
...
Ich stehe da mit leeren Händen. Ja, ich habe eine Ausbildung, die mir Spaß macht. Und ich habe meinen Bruder wieder. Und ich muss keine Angst mehr vor der Gang haben. Aber ich habe ein Vorbild verloren. Einen echten Freund. Oder so."

Langsam gehe ich auf ihn zu.
"Das tut sehr, sehr weh. Wir sind alle verwirrt und verletzt. Aber dich trifft es am härtesten, weil er sich immer so toll um dich gekümmert hat."
Kurz richtet er seine Augen auf mich, und sein Gesicht wird ein bisschen weicher.
"Ich bin so froh, dass du zu uns gekommen bist. Dass du so viel für mich getan hast. ... Ich glaub ..., wenn ihr nicht eingegriffen hättet, hätte ich ihn totgeschlagen."
"Hast du zum Glück aber nicht. ... Erzähl mir, was passiert ist. Was du gesehen hast."

Seufzend lässt er sich ins Gras plumpsen und rauft sich die Haare. Ich hocke mich einfach dazu und warte ab.
"Ich war echt müde gestern. Erst fünf Stunden Berufsschule, dann noch vier Stunden im Betrieb. Ich hab in dem Bus gehockt und schlicht an gar nichts gedacht. Sendepause. Bis der Bus bei diesem Institut angehalten hat. Genau in dem Moment, als die Türen aufgingen und Leute ausgestiegen sind, hab ich ihn laut lachen hören.
Ich hab diese vier Anzugtypen angestarrt wie das Kaninchen im Mond. Erst hab ich Yoongi gar nicht erkannt. Er stand da, schnieke, locker, fröhlich. Der Bus ist dann weiter gefahren, während die da noch standen. Ich wusste überhaupt nicht, was ich denken sollte.
Kapiert hab ich erst, als ich nach Hause kam - und Yoongi in seinem Zimmer verschwinden sah. Er war also vor mir angekommen. Er war umgezogen. Er war auf unordentlich umgestylt. Er hatte ein anderes Gepäckstück. Er war schneller als ich! Ohne Auto kann man nur mit diesem Bus hierher auf den Berg kommen. Also musste daran was faul sein."

"Kann es sein, dass du ... bitte versteh mich nicht falsch. Ich glaube dir! Könnte es sein, dass du dich geirrt hast?"
"Never! Wie gesagt - ich hab zuerst das Lachen erkannt. Und seine Stimme. Und seine Hände. Die waren ja nur ein paar Meter von mir entfernt.
... Aber weißt du, was mich am allermeisten aufgestachelt hat?"
"Na?"
"Ich hab ihn aus seinem Zimmer geholt. Er hat sich nicht gewehrt. Ich hab ihm gesagt, dass und wo ich ihn gesehen habe. Er hat mir nicht widersprochen. Ich habe seinen Rucksack ausgeschüttet auf der Suche nach Beweisen und dabei sein Handy zertreten. Er hat nicht mit der Wimper gezuckt! Wie kann man so kalt und abgebrüht sein?!? Ich fühle mich so unglaublich verarscht und verraten!"
"Ich weiß. Und verstoßen von dem, der dein Halt war."

Sein plötzlicher Aufschrei geht mir durch und durch.
"WARUM???"
"Ich kann nur vermuten. Und damit nichts entschuldigen! Es ist nur ein Erklärungsversuch."
"Mach!"
"Ich habe ihn ins Krankenhaus gebracht. Als die Ärzte mit ihm fertig waren, habe ich noch ganz lange bei ihm gesessen. Ihn beobachtet. Ihm wenigstens ein bisschen was entlocken können. Er hatte - sicherlich immer noch - große Schmerzen und wirkte wie vernichtet."

"Ach ja? Wo hab ich denn am besten getroffen?"
"Überall? Du hast ihm die linke Schulter ausgekugelt, seine Nase ist zum Glück nicht gebrochen. Aber er hat eine schwere Gehirnerschütterung, und sein Körper ist übersät mit Blutergüssen. Du hast ganze Arbeit geleistet."
"Soll ich ihn jetzt auch noch bedauern, oder was!?!"
"Und am besten waren deine Treffer an der Seele."
"Hmpf."

"Ich sage dir nur, was ich gesehen und gehört habe. Ich denke, dass er sich nicht gewehrt oder widersprochen hat, weil du recht hattest. Zumindest damit: ja, das war Yoongi. Ja, er hat ein Doppelleben geführt. Ja, er hat monatelang unser Vertrauen missbraucht.
Ich weiß darüber hinaus nur eins: er hat sich geschämt bis zum Abwinken, er hat sich in irgendeiner Zwickmühle befunden, er hat nichts davon gerne getan sondern ein ziemlich schlechtes Gewissen mit sich rumgeschleppt. Und er hat gesagt:'ich habe meine Seele verkauft.' Ich hoffe, dass er mir das nachher erklärt. Jedenfalls war er nur noch ein zerstörtes, bedrängtes, verzweifeltes Bündel aus Scham und Schuld. Und zwar nicht wegen deiner Schläge.
Was auch immer er vor diesem Institut gemacht hat - er hat gute Miene zu irgendeinem bösen Spiel gemacht und war bestimmt nicht glücklich darüber."

"Mach nur weiter so. Dann hab ich gleich noch Mitleid!"
Ich höre ganz genau hin.
Ist das Hass, Verwirrung, Wut oder Verletztsein?
Ich kann seinen Tonfall leider nicht deuten.
"Jeongguk?"
"Hm?"
"Irgendwas ist noch. Du bist noch nicht fertig damit, dich auszukotzen."
"Hm."

Mit einem Mal läuft er rot an und verbirgt sein Gesicht hinter den Händen.
"Ich bin offiziell ein Idiot!"
"Manchmal?"
Ich ziehe seine Hände von seinem Gesicht und lächele ihn an.
"Warum heute?"
"Ich ... hab mich mit einem anderen Azubi gestritten, weil ... egal. Er kriegt nichts auf die Kette, er kifft und er klaut. Die Chefs sind da dran, aber noch hat er nichts gerafft. In der Stimmung, die ich heute mitgebracht habe, hat dann eine umgekippte Coladose gereicht."

"Was ist passiert? Du hast doch nicht ..."
"Nein, zum Glück nicht. Ich habe all meine Kraft zusammen genommen, um nicht auf IHN loszugehen. Aber ich habe stattdessen das Mofa kurz und klein geschlagen."
Unsicher schielt er zu mir rüber.
"Was erwartest du jetzt von mir? Den Kopf abreißen werde ich dir nicht. Irgendwo musste der Frust ja hin."
"Danke, dass du mich verstehst. Es war ein Schlachtfeld in der Werkstatt. Die anderen haben sich alle in Sicherheit gebracht, und ich habe eine Runde getobt. Auch die Chefs haben mich machen lassen. Danach musste ich alles wieder einsammeln, jede Schraube, die durch die Gegend geflogen war. Das Werkzeug. Alles. Anschließend durfte ich erzählen und mich ausheulen, während die anderen weiter gearbeitet haben. Das ... tat gut. Die wissen, wie sie uns packen können. Ich habe jetzt die Aufgabe, das Mofa nochmal zu reparieren, obwohl es so schwer ist, diese alten Ersatzteile zu kriegen. Aber es war keine Rede davon, dass ich rausfliege. Der Chef hat nur gesagt:'Genau dafür sind wir da. Du schaffst das!' ... Hat mich echt beeindruckt."

"Jeongguk?"
"Ja?"
"Darf ich dir spiegeln, wie ich dich heute erlebe?"
"Hnnn ... ja?"
Du traust mir nicht. Aber du wirst dich wundern.
"Im Mai warst du ein Bündel aus Angst und Wut und hattest dich null unter Kontrolle. Inzwischen hast du so viel gelernt, bist so viel freier und reifer geworden, dass du Streitkultur entwickelt hast, dich und dein Handeln viel besser regulieren und reflektieren kannst. Du bist kein panischer Einzelkämpfer mehr sondern ein ausgesprochener Teamplayer. Ein angenehmer Gesellschafter. Denk an Minnie. Das war so gut! Du kannst unglaublich stolz auf dich sein, denn das war kein leichter Weg. Du bist gestern extrem getriggert worden. Aber du gehst jetzt anders damit um."

Mit großen Augen sieht er mich an. Er klingt, als könne er mir das nicht glauben.
"Echt? Danke!"
"Gerne! Du bist zu recht stinksauer und tief verletzt und verunsichert wegen Yoongi. Aber gleichzeitig bist du jetzt in der Lage, nicht gleich auch das Vertrauen in mich oder deine Chefs mit über Bord zu werfen. Du lernst, zu trennen zwischen 'der eine' und 'die anderen'."
Sein glückliches Strahlen berührt mich zutiefst. Ich weiß ja noch nicht, was bei Yoongi wirklich dahinter steckt. Aber so ganz gebe ich die Hoffnung für Yoongi und Guk noch nicht auf.

"Und jetzt sollte ich zu Yoongi fahren und ihm zuhören. Er wird vermutlich schon auf mich warten. Derweil habe ich eine Aufgabe für dich. Sprich mit Taehyung. Entschuldige dich bei ihm. Hör ihm zu - und versuche am Wochenende irgendwie, Jimin zu beruhigen, dich zu entschuldigen. Vielleicht kannst du beim Bus was mithelfen."
Verlegen kratzt Guk sich am Kopf.
"Das ärgert mich tierisch. Auf Yoongi sauer sein und meine Wut an ihm auslassen ... war schon grenzwertig. Auch wenn das nicht heißt, dass ich ihm verzeihe!!!"
Nö, mein Lieber. Das wird bestimmt noch eine Weile dauern. Trotzdem hältst du dich sehr viel gefasster, als ich es für möglich gehalten habe. 
"Aber Jimin konnte nun überhaupt nichts dafür. Das Timing war richtig beschissen. ... Tae macht sich echt Sorgen um Jimin. Ich geh mal mit ihm reden."

Nach einem schnellen Blick auf die Uhr lasse ich mich von Guk hochziehen aus dem Gras, gehe mit ihm rein, verabschiede mich von Namjoon und breche auf zum Krankenhaus. Yoongis Sachen stehen ordentlich gepackt in der Garage, so dass ich gleich mit ihm besprechen kann, was wir damit machen.
Als ich das Krankenzimmer betrete, schrumpft Yoongi bei meinem Anblick auf Hobbitgröße zusammen. Ich sehe auf einen Blick, dass es ihm hundeelend geht. Also schnappe ich mir wieder den Stuhl, setze mich an seine gesunde Seite und warte ab. Es dauert eine ganze Weile - da spüre ich, wie seine Hand nach meiner tastet. Ich halte ihm die Hand hin, und er klammert sich praktisch daran. Ich weiß noch gar nichts - nur, dass er auf seine Weise genauso in seelischer Not ist wie Jeongguk. Dieser Anblick ist kaum zu ertragen.

"Nelli, ... du ... hast gesagt, dass ich irgendwo falsch abgebogen bin. Du ahnst nicht, wie treffend dieses Bild ist. ... Ich möchte mich nicht aus der Gefahrenzone quatschen. Aber ich möchte endlich, endlich darüber reden können. Ist ... das in Ordnung für dich?"
Yoongi schaut mich nicht an. Seine Hand zittert vor Anspannung. Ich dagegen bin erleichtert, dass ich nicht bohren muss. Es wird für uns beide schwer genug.
"Sehr sogar. Wir sind hier alleine, ich habe Zeit, und ich kann euch allen besser helfen, wenn ich möglichst viel weiß."
"Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll."
Ich flüstere nur.
"Am schlimmsten Punkt der ganzen Geschichte."

Yoongi zuckt zusammen. Er weiß genau, was ich meine. Und dass ich mir schon eine ganze Menge selbst richtig zusammengereimt habe. Er beißt die Zähne fest aufeinander. Ich versuche, ganz entspannt zu sitzen und ihm möglichst sanft weiter zu helfen.
"Es ist der Moment, in dem deine Welt endgültig in Scherben gesprungen ist, weil du deinen Bruder nicht ha..."
Rückartig hebt er seine Hand zu einer abwehrenden Geste. Ich verstumme. Er hat das gleiche Recht wie alle anderen, sein eigenes Tempo zu bestimmen. Ich warte einfach ab.

"Meine Eltern haben mich nicht rausgeschmissen. Wir haben gemeinsam getrauert und mehr oder weniger tapfer nach vorne geschaut. Ich selbst wollte aber da raus ... wollte nicht mehr jeden Tag an seiner Tür vorbeigehen müssen, seine Lieblingstasse stehen sehen, über seine Socken auf dem Flur stolpern, die wochenlang keiner weggeräumt hat, weil uns allen die Kraft dazu gefehlt hat. Es war so zermürbend, die Anrufe entgegenzunehmen, die Kondolenzpost in Listen abzuhaken. Meine Eltern haben sich ein stützendes Korsett gebaut. Ich ... bin völlig auseinandergefallen."
Ich habe Mühe, ruhig auf meinem Stuhl sitzen zu bleiben und gleichmäßig weiter zu atmen. Yoongi strahlt einen Schmerz aus, der sogar mir den Magen zusammenkrampft.

"Ich wollte eigentlich Theaterwissenschaften studieren. Filme drehen. Die Welt aufrütteln. Jetzt hatte ich meine gerüttelte Welt. Ich wusste monatelang nicht, was ich überhaupt noch machen könnte. ... Ich hatte ja nicht mal Freunde."

"Was du dann gemacht hast - war das eine seelenlose Notlösung, oder ... hast du wieder Boden unter den Füßen bekommen?"
Yoongi schaut mich an, runzelt die Stirn, lächelt leicht.
"Ich verstehe nicht, warum du mich nicht verachtest. Aber ich bin sehr, sehr dankbar dafür. ... Keine Ahnung, warum. Aber von dir würde mich das ganz besonders treffen. ... Du bist so einfühlsam, als wäre ich das Opfer. Und nicht der Täter."
"Uuuuuund ganz schnell wieder aufhören. Bis zu diesem Punkt deiner Geschichte BIST du Opfer. Und ob die zweite Hälfte wirklich als 'Tat' zu bezeichnen ist, werden wir sehen."
Yoongi schüttelt den Kopf. Aber er wirkt doch erleichtert.

"Ich konnte den Kleinen nicht wieder lebendig wünschen. Aber ich wollte wenigstens verhindern, dass noch ganz viele in diese Falle tappen. Also habe ich Soziologie, Pädagogik und Psychologie studiert. Gleichzeitig. In Regelstudienzeit. Ich hatte keine Zeit zu verlieren. Ich bin bewusst in ein heruntergekommenes Zimmer in einem der Ghettos gezogen und habe praktisch täglich angewendet, was ich studiert habe.
Als ich fertig war, stellte sich natürlich die Frage, wie es weiter geht. Ich habe in kleinen Projekten mitgearbeitet, Praktika gemacht. Und bin schließlich darauf gestoßen, dass dieses Institut Sozialpädagogen sucht, um eine Studie mit obdachlosen Jugendlichen durchzuführen."
Yoongi unterdrückt seine Tränen. Ich kann hören, wie schwer es ihm fällt, weiter zu reden.
"Ich dachte, das sei der Jackpot für mein Ziel. Stattdessen habe ich mein Ziel verraten in dem Moment, wo ich den Vertrag unterschrieben habe."
"Mach mal Pause und atme durch."
Er kneift nur kurz die Augen zu, drückt die Tränen weg und quält sich sofort weiter.

"Meine Aufgaben waren, mir ein paar einzelne Kids zu suchen oder eine kleine Gruppe aufzubauen, die ich als 'Mitbetroffener' begleiten sollte. Ich sollte dabei heimlich als Soziologe analysieren, welche Faktoren sie in diese Situation getrieben haben, als Psychologe ausprobieren, was eine echte Hilfe zurück ins bürgerliche Leben wäre, und als Pädagoge den Wiedereingliederungsprozess begleiten. Ich sollte versuchen, möglichst gut abgrenzbare Bedingungen herzustellen, damit die Ergebnisse aussagekräftig sind."
"Wer ist der Auftraggeber dieser Studie?"
"Keine Ahnung. Bis heute nicht. Mir wurde gesagt, dass die Stadt Seoul etwas gegen Bandenkriminalität und gegen das Abrutschen von Kindern tun und dabei an den Schulen ansetzen will. Präventivarbeit da, wo sie noch alle auftauchen. Das fand ich schlüssig und plausibel."

Wut mischt sich in seinen Tonfall.
"Ich war ... bin ... die eierlegende Wollmilchsau für die. Die drei Studiengänge. Ich hab die Villa gefunden. Dann Jeongguk. Die ideale Gruppe mit idealen Rahmenbedingungen. Außer mir gibt es 24 weitere Leute im Stadtgebiet, die so arbeiten wie ich. Die Forschungsarbeit hat bald so richtig Fahrt aufgenommen ..."
Ich ahne was.
"Und Peng! - aus heiterem Himmel kam ich dazu und habe deinen perfekten Versuchsaufbau umgeschmissen. "
Mir wird schwindelig.
Daher der unterdrückte Ärger gleich am ersten Tag. Daher das fundierte Fachwissen bei Namjoons Aufnahme. Daher die Bremsversuche und die stetig wachsende Unzufriedenheit. ... Oh! Und darum ist er nicht mit zu Jeongguks Werkstatt gekommen!

"Lass mich raten. Gukkis Werkstatt war eines der Projekte, in denen du mal hospitiert hast. Richtig?"
Erstaunt sieht er mich an.
"Genau. Die kennen mich. Aber - so früh hast du schon Lunte gerochen?"
"Noch viel früher. Gleich am allerersten Tag, dem Sonntag, mit der Pizza - da haben mir alle einen Vogel gezeigt, dass ich euch nicht rausschmeiße, haben mir nicht getraut. Du dagegen wusstest genau, was passieren würde, hast richtig eingeschätzt, dass ich das durchziehen würde - und warst verärgert, weil ich damit deine 'idealen Versuchsbedingungen' zerstört habe. Dieser kurze Ärger in deinem Gesicht, der war so unlogisch, dass ich das nicht vergessen habe."

Yoongi fährt das Kopfteil von seinem Bett ein bisschen höher und blickt mich grade an.
"WOW! DAS hast du gesehen? Beeindruckend. Ja, ich hatte ab da zunehmend Schwierigkeiten, reine Versuchsbedingungen aufrecht zu erhalten. Ich musste ja laufend berichten. Hab also immer mehr Druck bekommen - erst, dich rauszuekeln, dann, Jeongguk da rauszuholen. Da hab ich dann begriffen, was ich eigentlich für einen beschissenen Job habe. Die Studie ist auf drei Jahre ausgelegt, und die haben von mir verlangt, dass ich die komplett mit einem Kandidaten durchziehe - weil sonst die Gelder nicht mehr fließen."
Schnell schaut Yoongi weg. Eine Welle von Scham und Verachtung für sich selbst überrollt seinen ganzen Körper. Und bei mir fällt der Groschen.

"Arschlöcher. Das hätte bedeutet, dass du Jeongguk vorsätzlich im Elend hättest festhalten müssen. Wie pervers kann man eigentlich sein??? Und wie beschissen musst du dich ab da gefühlt haben! Wann hast du kapiert, dass du missbraucht wurdest?"
"Als die gesagt haben, dass ich den Umzug in die Pförtnerei verhindern oder zusammen mit Guk ausziehen soll. Ich hatte immer öfter Momente, in denen ich, um meinen Arbeitsauftrag zu erfüllen, Dinge tun oder sagen oder verhindern musste, die meinem Wesen und meiner Überzeugung zuwider waren. Es hat mich in Stücke gerissen, Jeongguk heimlich auszubremsen, euch alle zu belügen, sein Vertrauen so schäbig zu missbrauchen. Ich habe in dir eine Chance gesehen. Sogar für Jin! Ich hätte so gerne offen mit dir zusammengearbeitet. ... Stattdessen sollte ich dich boykottieren."

"Das konnte natürlich nicht auf ewig gut gehen. Es hat dich auch immer mehr Kraft gekostet. Ich erinnere den Moment, als die Jungs hier gemeinsam tapeziert und den Pinsel geschwungen haben, wie viel unbeschwerte gute Laune sie hatten und zum Radio mitgeträllert haben. Du standest still in der Tür und hast so ... glücklich ausgesehen. Kaum habe ich dich bemerkt und zu dir hingeschaut, hast du wieder dein Pokerface aufgesetzt und bist schnell rausgegangen. Und draußen hast du dann mit offensichtlicher Wut gegen Steine und Bäume getreten. Du wolltest dich freuen, durftest aber nicht.
Ach - genau! ... Bei der Suche nach der Lehrstelle hast du mit Absicht ganz hinten den Tab mit der Werkstatt aufgemacht - damit ich drauf komme ohne, dass du dich verraten musst. Du solltest ja eigentlich bremsen, konntest so aber heimlich-heimlich doch für Guk Gas geben."

Yoongi entfährt ein Seufzer direkt aus der Seele. Tief traurig ist seine Miene.
"Ganz genau. Ich mag Guk. Ich hab ihn fast so lieb gewonnen wie meinen kleinen Bruder. Der ist unersetzlich natürlich! ... Aber Guk soll ein Leben haben."
"Weißt du, worüber ich sehr froh bin?"
Er schaut mich nur an.
"Dass du endlich kein Pokerface mehr aufsetzen musst. Du kannst jetzt weinen und lachen und streiten und Frieden stiften und dabei dich selbst spüren."

Yoongi lächelt weich.
"Stimmt. Hat was. - Apropos Pokerface. Warum läufst du eigentlich dauernd damit rum? Ich kann nur ganz selten Gefühle bei dir entdecken, vor allem dann, wenn du grade einem von uns intensiv zuhörst. So wie bei mir jetzt. Du fühlst meine Gefühle. Aber deine eigenen zeigst du nicht. Ich krieg das echt nicht zusammen. Du gibst uns so viel Zuwendung, bist so empathisch, öffnest uns so viele Türen. Aber was du dabei fühlst - keine Ahnung. Was treibt dich an, Cho Cornelia? Weißt du selbst das überhaupt?"
Ich bin sprachlos und betroffen.
Wie sind wir DA denn jetzt hingekommen? Das ist genau mein Thema von gestern. Die Frage, an die ich nicht ran will. Der unbekannte Grund, warum ich in den letzten Monaten immer wieder zusammengeklappt bin. Was treibt mich an? Welche Motivation in mir ist so viel mächtiger als meine Selbstfürsorge? Warum zeige ich ausgerechnet in solchen Situationen keine Gefühle, wo ich ein wertvoller Spiegel sein könnte.

"Nein, zur Zeit weiß ich das tatsächlich nicht, auch wenn diese Frage an mich selbst ganz obenauf liegt."
Äh - was habe ich da grade gedacht? Bekloppt! Ich kapiere, dass ... dass ich ... meine eigenen Gefühle ausklammere, unterdrücke. Und dann bedauere ich das nicht, weil ich mir damit nicht gut tue. Sondern, weil ich meine Gefühle nutzen könnte, um dem anderen noch besser helfen zu können. Ich bin ja wirklich Meisterin darin, mich selbst zu übersehen!

Ganz leise schleicht sich Yoongis Stimme in mein Gedankenknäuel.
"Nelli? Warum weinst du jetzt? War das falsch, was ich grade gesagt habe? Hab ich dir weh getan?"
Ich schüttele den Kopf und suche nach Worten.
"Nein, keine Sorge. Du hast nur ... den Nagel auf den Kopf getroffen. Ich ... hab keine Ahnung von dem da drinnen, und das macht mich ziemlich nervös."
"Dann weint wohl grade deine Seele."
Ich versuche, mich zu beruhigen, obwohl ich genau weiß, dass ich mir damit schon wieder weh tue. Aber Yoongi lässt sich nicht täuschen.
"Ich bin dir so unglaublich dankbar, dass du mich nicht aufgegeben, mich nicht verstoßen hast. Es tut sooo gut, das alles jemand zu erzählen und laut zu sortieren. Aber jetzt im Moment wünsche ich mir nichts mehr, als dass du DICH nicht aufgibst. Dass du Zugang zu deinen alten Verletzungen und heutigen Gefühlen findest und dich selbst liebevoll umarmen kannst."

Ich hebe meinen Blick und sehe zum ersten Mal bewusst den Yoongi, der er gerne sein möchte - ein freundlicher, im Stillen aufmerksamer, mitfühlender Mensch, der etwas bewegen will.
Was für eine schöne und wohltuende Entdeckung!

"Ich muss jetzt nachdenken und entscheiden, wie es für mich weitergehen kann. Was ich aus diesem erneuten furchtbaren Scherbenhaufen meines Lebens machen soll. Noch weiß ich nur, dass ich so nicht weiter machen will und werde. Ich hoffe nur, dass Jeongguk mir das alles irgendwann wird verzeihen können. Wie auch immer es werden wird - ich will lernen, damit zu leben. Der Junge ist ein paarmal zu oft tief verletzt worden. Darum habe ich gestern auch einfach still gehalten."
"Das klingt ein bisschen, als ob du jetzt allein sein möchtest."
Erst kuckt Yoongi verblüfft, dann nickt er.
"Da könntest du recht haben. Ich habe jetzt so lange mich selbst unterdrückt, dass mir selbst das gar nicht aufgefallen ist."
"Dann freue ich mich, dass du jetzt so viel entspannter und zuversichtlicher bist als vorhin, und überlasse dich deinen Plänen. Danke, dass du dich mir so geöffnet hast."
"Danke, dass du mir so aufmerksam zugehört und so freundlich reagiert hast! Meine Schuld und meine Probleme sind dadurch nicht kleiner geworden. Aber greifbarer. Da ist Licht am Ende des Tunnels."

Sehr erleichtert verlasse ich das Krankenhaus und mache mich auf den Weg nach Hause. Bleierne Müdigkeit erfasst mich, zu wenig Schlaf und zu viele Probleme sind eine ungute Kombination. Ich nehme mir vor, dass ich heute Nacht mehr Schlaf bekomme als in der letzten.

........................
6.3.2023    -    24.3.2024

Bạn đang đọc truyện trên: Truyen2U.Pro