43 - Augen zu und durch

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Aber der lange Tag ist noch nicht vorbei, denn kaum bin ich zu Hause, überfällt mich schon wieder Unruhe. Und dann meldet sich mein Lieblingsfeind - das Kopfkino. Irgendwo zwischen Jeongguk und Yoongi, Taehyung und Jimin piepst mein kleines 'Ich' ganz zaghaft, wann ich denn mal gedenke, mich mit ihm zu beschäftigen. Ich versuche, mich unter der Dusche zu entspannen - ratterratterratter. Ich höre meditative Musik - grübelgrübelgrübel. Ich mache das Licht aus - ganz verkehrt. Der Schlaf will nicht kommen. Ich liege hellwach im Bett und suche nach einem Ausweg.

Es ist schon eine Weile her, dass ich Zeit, Ruhe und das Bedürfnis hatte, im Tagebuch zu schreiben. Ich mache das Licht wieder an, tapse ins Wohnzimmer, schlage die Kladde auf und sage spontan: "Kein Wunder."
Das 'letzte Mal' ist Wochen her. Sie haben alle recht. Bei allen kleinen und großen Erfolgen - ich achte nicht genug auf mich selbst.
Ich koche mir eine Kanne Tee, kuschele mich in meinen Schaukelstuhl und blättere im Tagebuch.

Ein halbes Jahr meines Lebens. Auf und ab, trauernd, klagend, suchend, stolpernd die meiste Zeit. Und immer wieder mittendrin einzelne Aha-Momente, Erkenntnisse, Gespräche mit anderen, Schönes und Schmerzhaftes. Mein Leben.
Ich lese einzelne Zeilen und werde stutzig.
'Ich weiß doch selbst nicht, was ich will.'
'Keine Ahnung, was mich antreibt.'
'Was ist eigentlich meine Motivation?'
'Ach, das kann ich später noch entscheiden.'

Dazu die Kommentare der Jungs.
'Helfersyndrom'
'Weltverbesserer'

'Mutti'
'Engel'
'Naiv'
Heute von Yoongi 'Pokerface' und 'du versteckst deine Gefühle'.
Immer wieder die kleinen Zusammenbrüche. Neulich vor Berlin, dann letzte Nacht. Immer wieder die Zweifel, die Ohnmachtsgefühle, die Eile, das Hamsterrad.

Namjoon vermutet ja, dass es noch eine alte Wunde, einen Verlust, eine Angst oder so etwas in mir gibt, an das sich meine Seele nicht rantraut. Das sich aber sowohl im Zaudern als auch in der Eile, im schlechten Gewissen genau so wie im Aktivismus bemerkbar zu machen versucht.
Wie hatte er es formuliert? "Nelli, hast du irgendwann früher mal etwas sehr Wertvolles verloren? Oder - trotz relativem Luxusleben - etwas sehr vermisst und doch nie bekommen?"

Aber was könnte das sein? Ich habe doch mein Leben lang Liebe, Geduld, Unterstützung und all das im Überfluss bekommen. Onkel Harry hat immer alles für mich getan. Ich habe ihn in seinen letzten Jahren vernachlässigt und im Stich gelassen. So ein Verlust kann schon eine ganze Menge schlechtes Gewissen und Aktivismus hervorrufen. Aber ich sehe darin keine plausible Begründung für Pokerface oder sowas.

Ich schließe die Augen. Sie brennen vor Müdigkeit. Ich versuche, mich auf mein Inneres in Kopf und Bauch zu konzentrieren. Es dauert eine Weile, bis ich mehr als nur Schmerz wahrnehmen kann. Und da ist es wieder: das Bild von gestern. Das Kind Nelli im Sandkasten, das etwas in ein tiefes Loch legt und alles wieder zubuddelt.
Diesmal versuche ich nicht, dem Bild so schnell wie möglich zu entkommen. Ich kann immer noch nicht erkennen, was ich da vergrabe. Aber in mir steigen Gefühle von Entschlossenheit und Mut auf.

Das Bild scheint ein Schlüssel zu sein. Ich sollte dem nachgehen. Aber ich will das nicht allein machen. Wer weiß, was ich da finden, was das in mir auslösen wird ...
Die nun einkehrende Ruhe verblüfft mich. Mein Kopf kommt zur Ruhe auf eine erleichterte, entspannte Weise, wie ich sie schon lange nicht mehr hatte. Ich will jetzt gar nicht wissen, warum.
Es fühlt sich richtig an, demnächst den alten Sandkasten umzugraben, und das scheint 'mir innendrin' völlig zu reichen.
Ich trinke meinen Tee aus, klappe das Notizbuch zu und gehe ins Bett. Ich schaue nicht auf den Wecker, ich ziehe in Gedanken kein Fazit - ich schlafe einfach sofort ein.

........................

Wieder ist meine Nacht empfindlich gekürzt. Mein Wecker macht Flugübungen, meine Augen wollen sich nicht öffnen, meine Beine wollen nicht aus dem Bett. Aber das Pflichtbewusstsein behält grade noch die Oberhand. Seufzend stehe ich auf. Es hilft nichts - es ist mein Brotjob, den ich auch nicht so schnell gedenke aufzugeben. Also muss ich ran. Jetzt!
So-Ra schüttelt nur den Kopf bei meinem Anblick, zieht mein Telefon zu sich rüber und nimmt meine Anrufe entgegen, damit ich möglichst ungestört arbeiten kann. Ich schalte auf Tunnelblick, blende alles andere aus und kämpfe mich durch den Tag. Zum Glück werde ich um 14.00 Uhr erlöst.

Am Freitag arbeiten So-Ra und ich beide kurz. Mit einem Seufzer der Erleichterung räume ich meinen Schreibtisch auf, und wir brechen gemeinsam auf. Im Fahrstuhl nach unten lehne ich mich müde an die Wand.
Öfter mal hinfühlen könnte helfen ...
Gesagt, getan.
Richtig! Ich sollte einfach mal wieder mit So-Ra Zeit verbringen.
"Schnucki, hast du Zeit, dass wir uns in ein Cafe setzen und plaudern?"

So-Ra lächelt.
"Hei, du lernst dazu. An der Frage ist so ziemlich alles richtig, was du in der letzten Zeit falsch gemacht hast. Sitzen, plaudern, Kaffee, Zeit - coole Kombi! Gehen wir ins Han River Cafe?"
"Han River Cafe!"
Wir wenden uns zur U-Bahn und steigen in eine völlig andere Linie als sonst. Mitten rein ins Herz der Stadt. Kurz darauf sitzen wir unter einem großen Sonnenschirm am Han in unserem Lieblingscafe, mit zwei sehr großen Tassen Milchkaffee vor uns.

Meine Besti muss gar nicht bohren. Ich rede sofort los. Vom großen Knall zwischen Jeongguk und Yoongi hatte ich natürlich erzählt, von der zermürbenden Funkstille zwischen Taehyung und Jimin auch, aber danach nichts mehr. Also berichte ich von Mittwoch Nacht, von den Gesprächen mit Guk und Yoongi, soweit ich das verantworten kann, von letzter Nacht und sehr ausführlich von dem Bild im Sandkasten.

So-Ra hört aufmerksam zu. Bis auf Jimin kennt sie ja alle Beteiligten. Zu meiner Verblüffung fängt sie jedoch als erstes an zu lächeln.
"Was bin ich froh, dass wir alle Namjoon eine Chance gegeben haben. Er tut dir so gut! Ich freue mich riesig darüber. Übrigens: ich fühle mich auch nicht mehr zurückgesetzt."
Große Erleichterung macht sich in mir breit, und auch ich fange an zu lächeln.
"Danke, du Herz! Das ist das Geschenk des Tages und nimmt mir eine große Last von der Seele."

Dann wird So-Ra wieder ernst.
"Also hast du im Moment neben der großen Baustelle noch zwei weitere - Jeongguk und Yoongi versöhnen und Jimin wieder auftauen. Puh! Keine Ahnung, was schwerer ist."
"Ganz ehrlich? Bei Guk und Yoongi sehe ich größere Chancen. Bei Jimin hilft jetzt nur noch viel mehr Geduld von Taehyung, und das braucht Zeit. Sollte Herr Kang bald einen Käufer für den Schrottplatz finden, sehe ich so richtig schwarz. Denn dann wird Jimin in seiner Not irgendwo in diesem Moloch Seoul abtauchen, wo wir ihn garantiert nicht mehr finden werden. Und der nächste Winter kommt bestimmt. ... Allein bei dem Gedanken dreht sich mir der Magen um."

So-Ra stutzt - und zetert los wie ein Rohrspatz.
"Äh ... au Mann, das darf doch wohl nicht wahr sein! Ist das Hexerei oder machst du Gehirnwäsche? Du berichtest mir von einer bahnbrechenden Erkenntnis über dich selbst und vom einem spannenden Traum - und trotzdem reden wir wieder nur über die Jungs.
Also. Zurückmarschmarsch! Was willst du versuchen, um nicht immer wieder in die Selbstignorierungsfalle zu tappen? Was könnte dir helfen, das Loch in deinem Innern zu identifizieren und mit neuem, lebensfrohem Inhalt zu füllen?"

Sehr aufmerksam lausche ich meinen laut ausgesprochenen Plänen.
"Ich will - zusammen mit dir und Namjoon - den Sandkasten umgraben, bis ich gefunden habe, was ich vielleicht tatsächlich mal da reingeworfen habe. Denn ich glaube, dass dieser Traum in Wahrheit eine sehr gründlich und erfolgreich verdrängte Erinnerung ist. Ich weiß ja sogar, was ich anhatte an dem Tag!"
Eine Art Gewissheit macht sich in mir breit beim Aussprechen. Die eintretende innere Ruhe scheint die Antwort meiner Seele zu sein:'Hast du's endlich gerafft? Dann mach!'
Ja, das fühlt sich richtig an. Namjoon UND So-Ra sollen dabei sein. Der eine, in dessen Gegenwart ich das Bild gesehen habe, und die andere, die meine einzige lebende Brücke zu meiner Vergangenheit ist.

"Ich weiß nur noch nicht, wie schnell ich das anpacken will. Wenn! ich dort etwas finde, das weitere unterdrückte Erinnerungen auslöst, könnte mich das ganz schön von den Beinen sägen. Vielleicht sollte ich mir dafür demnächst ein bisschen Urlaub nehmen."
So-Ras Augen sind immer größer geworden.
"Du meinst ... du hast wirklich etwas verbuddelt? Als Kind? Und das vollständig vergessen? Was hattest du denn an an dem Tag?"
"Es war Sommer, und ich hatte das Kleid von der Einschulung an."
"Das Grüne, das Hobi wiedergefunden hat?"
"Genau das. Das muss also im Sommer direkt nach der Einschulung oder im Sommer drauf gewesen sein. Ich glaube, im zweiten Jahr danach hat mir das Kleid dann doch nicht mehr gepasst."

Meine Sandkastenfreundin verstummt, kratzt sich am Kopf und denkt angestrengt nach. Ich muss eine Weile warten, bis wieder etwas von ihr kommt.
"Tut mir leid, Schätzchen. Irgendwas klingelt da in meinem Unterbewusstsein, aber ich kann es nicht greifen. Da war was in der Zeit. Aber was? Trotzdem glaube ich, dass wir auf der richtigen Fährte sind. Nimm dir Urlaub, dann machen wir das."
"Hm. Ich hab ein bisschen Angst davor. Und - ja, das kleine Helferlein ruft schon wieder! - die Situation in der Pförtnerei ist grade so, dass ich dafür gerne stabil wäre, um helfen zu können. Ich ahne aber, dass die Buddelei mich erstmal destabilisieren wird."
"Du bist unverbesserlich! Aber schieb es nicht zu lange raus. Dein Zeitfenster ist jetzt.
Komm, lass uns zusammen auf den Berg fahren, ich möchte mir selbst ein Bild machen. Ich fahr auch, dann kannst du derweil weiter grübeln, ohne dass wir im Graben landen."

Wir bezahlen und nehmen gemeinsam die U-Bahn zu ihr nach Hause, steigen in ihr Auto und machen uns auf den Weg. Eigentlich hatte ich nach der Arbeit wieder Yoongi besuchen wollen, aber so nutze ich die Fahrzeit, um mit ihm zu telefonieren. Er wirkt sehr viel wacher und stabiler, wird wohl bald entlassen und will sich am Sonntag bei mir oder Hoseok melden, um zu organisieren, wann und wie er seine Sachen abholen und zu seiner Wohnung bringen kann. Ihm tut zwar immer noch alles weh, aber das ist nichts im Vergleich zu seinem seelischen Schmerz. Als ich danach frage, bleibt er jedoch ziemlich bedeckt und beendet bald das Gespräch.
Ich werde es schon noch erfahren. Seine Adresse habe ich ja, damit kann ich mich weiter um ihn kümmern.

In der Pförtnerei erwartet uns bedrückte Stimmung. Jeongguk und Taehyung halten wohl sowas wie Waffenstillstand, Hoseok konzentriert sich darauf, sein Leben auf den Kopf zu stellen, und Jin kompensiert seine Unruhe und Angst, indem er den Kochlöffel schwingt.

Namjoon begrüßt mich und So-Ra, ist aber sehr ernst dabei.
"Taehyung war heute nach der Arbeit am Supermarkt in der Hoffnung, Jimin zu treffen. Der ist aber nicht aufgetaucht. Also ist er den üblichen Radweg zur Gärtnerei gelaufen und hat die Auskunft bekommen, dass Jimin pünktlich nach Hause aufgebrochen ist. Und die einzige Möglichkeit, ungesehen am Supermarkt vorbeizukommen ..."
"... ist das Ghetto. Scheiße. ... Ich wollte ihm noch etwas Zeit geben und erstmal Herrn Kang kontaktieren, aber darauf können wir jetzt nicht mehr warten. Jimin rutscht immer tiefer in die Falle aus Bedrohung und Angst."

Ich greife zum Handy und rufe den Schrottplatzbetreiber an. Der geht auch sofort dran, bestätigt mir allerdings, was ich befürchtet habe. Jimin ist schon lange fällig. Aber noch nicht am Schrottplatz eingetroffen.
"Welches Auto nehmen wir? Wieder den Kleinbus, falls wir sein Fahrrad mit retten müssen?"
Taehyung hat wohl mitgehört, denn bei meiner Frage fährt er sofort mit einem Schrei vom Stuhl hoch und stürzt zur Tür. Jin stellt den Herd aus und bindet sich die Schürze ab, auch Hoseok überlegt nur kurz und lässt dann seine Googlesuche Googlesuche sein. Nur Jeongguk wird hier die Stellung halten.

Am Parkplatz verblüfft Namjoon mich.
"Nelli, So-Ra? Könntet ihr bitte mit dem Auto auf dem üblichen Weg fahren, die Augen offen halten und euch dann von oben dem Ghetto nähern? Also: Abstand halten?"
"Warum?"
"Aus tausend Gründen. Ich will euch nicht in Gefahr bringen. Einer reicht. Wir sind beweglicher, wenn wir mit zwei Fahrzeugen unterwegs sind. So-Ras Auto sollte nicht auf deren Radar auftauchen. Sollte Jimin es durchschaffen, wird er vielleicht verfolgt und hat dann euch als Sicherheit. Oder er ist anders an Tae vorbeigekommen, als wir glauben, und ihr könnt uns Entwarnung geben."

So-Ra hat sich den ganzen Wirbel ruhig mit angeschaut. Aber jetzt mischt sie sich doch ein.
"Und warum rufen wir nicht einfach die Polizei?"
Namjoon war schon halb drin im Bus. Er dreht sich noch mal um.
"Weil die keinen Bock auf Bandenkriminalität hat und im schlimmsten Fall sogar per Bestechung auf der falschen Seite steht, und DIE Konsequenzen möchtest du nicht erleben. Außerdem, weil Jimin und Taehyung Angst vor der Polizei haben. Also los!"
Nach ihm springt Hoseok ins Auto. Während er die Tür zuschlägt, höre ich noch, wie der Tänzer sagt:"Die Nummernschilder sind abgehängt."
Dann gibt Namjoon Gas.

Uns bleibt nichts anderes übrig, als So-Ras Auto so gut wie möglich leer zu räumen und unseren Teil der Mission zu starten. Zügig lotse ich sie in das Viertel hinter der elenden Baustelle und auf dem sicheren Weg den Berg hoch. Mit Hilfe meines Handys versuche ich abzuschätzen, was 'von oben nähern, aber Abstand halten' bedeuten könnte. Wir positionieren uns an einer größeren Straße etwa hundert Meter oberhalb vom Ortsende, steigen aus und schauen den Berg runter ins langgezogene Tal zu den abgewrackten Wohntürmen.
Mit dem Handy legen wir eine Standleitung zu Hoseok, geben unsere Position durch und sind dann ganz still, damit wir mitkriegen, wie Namjoon die anderen vorbereitet.

"So. Danke, dass ihr alle mitgekommen seid. Erstens: da die Typen zumindest Jin noch nie gesehen haben, bitte ich dich, dich auf den Boden zu setzen. Zweitens: das hier ist kein Spiel mehr und auch keine Szene 8, take 17 am Set eines Hollywood-Blockbusters. Ich kann euch deshalb nur um äußerste Vorsicht, tiefenentspannte Gelassenheit und dichten Zusammenhalt bitten. Drittens: die schweren Jungs sind uns in jeder Hinsicht überlegen. Sie haben mehr Ortskenntnis, mehr Muskeln, mehr Waffen, mehr Erfahrung und null moralische Bremsen. Ziel ist es also, Jimin zu finden, falls er hier ist, ihn hier rauszubringen, falls wir an ihn rankommen - oder an ihren Fersen zu kleben, falls sie mit Jimin irgendwas Unschönes vorhaben. Ich hoffe einfach, dass unsere Ängste sich nicht bestätigen, denn das würde ihn noch mehr verstören."

Ich höre durchs Telefon den Blinker klackern.
"Hobi, du bist Schnittstelle zu den Mädels und meine Augen, Tae, du konzentrierst dich bitte voll auf Jimin und eurer beider Sicherheit, Jin, du tauchst erst auf, wenn ich es dir sage, und tust dann ganz genau, was ich dir sage. Also am besten gar nichts. Noch Fragen?"

Leise greife ich nach So-Ras Hand und halte sie ganz fest, während wir beide mit je einem Ohr am Handy kleben. Plötzlich spricht Namjoon mich direkt an.
"So. Wir fahren jetzt rein ins Ghetto. Nelli, was ich dich schon immer mal fragen wollte ... glaubst du an Gott im christlichen Sinne?"
"Äh ... Naja ... Warum?"
"Wer auch immer hat uns ab jetzt auf dem Radar. Du könntest beten, dass wir alle hier heile rauskommen."
Ich schlage die Hand vor den Mund, damit ich nicht ganz klischeehaft aufschreie.
"M.Mach ich!"

Keine Ahnung, Gott, ob du mich überhaupt kennst - angeblich ja. Ich weiß wohl, dass es höchst unelegant ist, gleich beim ersten Gebet seit vielen Jahren mit einer Bitte anzukommen. Aber ... klingt das blöd! Aber könntest du jetzt bitte ganz, ganz doll auf die fünf, äh ... sechs Jungs aufpassen, damit ihnen nichts passiert? Wir wollen ja gar nichts von der Bande, nur, dass alle heile nach Hause kommen. Geht das? Danke! ... Amen.

Von nun an passiert eine ganze Weile sozusagen nichts. Wir Mädels halten Händchen und starren die Straße runter. Namjoon kurvt die Straßen des Ghettos ab, Tae und Hobi haben ihre Augen überall und versuchen, Jimin zu entdecken. Der Motor des Busses brummt, ab und zu knackt es im Handy, Hobis Atem ist zu hören, ich schicke mehr oder weniger unsinnige Gebete zum Himmel. Eine endlose halbe Stunde lang warten wir alle auf irgendwas. Plötzlich hören wir Hobis aufgeregte Stimme.
"Da!"
Namjoon antwortet.
"Gott sei Dank!"
Ich platze fast vor Neugierde.
"Was seht ihr, Jungs?"
Hobi berichtet.

"Es sieht ziemlich seltsam, aber nicht bedrohlich aus. Wobei Jimin das sicher anders empfindet. Er radelt die Hauptstraße entlang, als wären Teufel hinter ihm her. Und um ihn drumrum fahren sechs Motorräder wie eine Eskorte. Sie behelligen ihn nicht, sie sind einfach da. Es ist übrigens nicht mehr weit bis zu euch. Jimin hat offensichtlich große Angst, sieht aber unverletzt aus, das Fahrrad ist heile. Es ist fast surreal. Wir fahren jetzt einfach mit etwas Abstand hinterher."

"Jetzt sind wir am letzten Hochhaus vorbei. Oh ... die Motorräder ändern die Formation. Sie fahren auf einmal nur noch rechts und links von Jimin. ... Und jetzt halten sie an den Straßenrändern an. ... Wir kommen auch unbehelligt durch. ... Ich denke, wir haben es geschafft."
Wir Mädels atmen tief durch.
Danke, lieber Gott!
"So-Ra, steigst du bitte ein? Dich kennt Jimin noch nicht."
Gehorsam klettert sie auf ihren Fahrersitz.
Ein paar Minuten später sehe ich einen Radfahrer, der sich die Straße hochmüht, ein Stück dahinter den Bus. Auch mir entfährt ein erleichtertes "Gott sei Dank!"

Tapfer quält sich Jimin weiter. Je näher er kommt, desto besser kann ich erkennen, dass er nicht nur panische Angst hat sondern auch körperlich völlig am Ende ist. So ist es dann auch kein Wunder, dass er wenige Meter vor mir zusammenbricht und mitsamt dem Rad umfällt.
Ich bin mir nicht sicher, ob er mich bisher überhaupt wahrgenommen hat. Darum greife ich mir eine Flasche Wasser von der Rückbank und nähere mich ihm langsam. Als ich ihn anspreche, zuckt er natürlich doch heftig zusammen und schützt seinen Kopf mit seinen Armen, aber er hat sich so verausgabt, dass er, verknäuelt mit seinem Fahrrad, einfach liegen bleibt.

"Jimin, bitte nicht erschrecken. Sie sind in Sicherheit. Ich bins, Cho Cornelia. Wir sind gekommen, weil wir befürchtet haben, dass Sie diesen Weg gewählt haben könnten. Ich habe etwas zu trinken für sie."
Ich hocke mich neben ihn und halte ihm die Flasche hin. Schnell greift er danach und trinkt sie in einem Zug leer. Dann sinkt er wieder auf den Asphalt.
Einen Moment lang ist es gespenstisch still. Er hat die Augen geschlossen, und ich befürchte schon, er könnte ohnmächtig sein. Leise lässt Namjoon den Bus ein paar Meter hinter Jimin ausrollen. Aber seine scharfen Ohren müssen es doch bemerkt haben.
"Wer kommt da???"
"Der andere Teil unserer Rettungsmannschaft, mit dem Bus, den Sie schon kennen. Wir sind sechs Leute. Warum?"

"Zu viele!"
Panik schwingt wieder in seiner Stimme mit.
"Wir machen alles, wie Sie es möchten, das wissen Sie. Ist es in Ordnung, wenn Taehyung zu uns kommt?"
Schwach nickt Jimin.
Tae ist schon ausgestiegen, und ich winke ihn nun heran.
Er nimmt meinen Platz ein, neben Jimin, während ich versuche, den jungen Mann und das Fahrrad auseinander zu sortieren. Nach ein paar Verrenkungen gelingt es uns, seine Beine zu befreien. Das Rad stelle ich an den Straßenrand. Tae fängt an, mit Jimin zu reden.

Wir anderen halten uns zurück. Namjoon kommt in einem großen Bogen zu mir und nimmt mich sehr, sehr fest in die Arme.
"Puh. Das war riskant. Tief durchatmen, Nelli. Es ist vorbei. Ich kann dir gar nicht sagen, WIE froh ich bin, dass ich nicht bei irgendwas eingreifen musste."
Schweigend halten wir uns aneinander fest. Mein Herz klopft sehr laut. Es dauert noch eine ganze Weile, bis die Anspannung in mir nachlässt. Ich hatte mich so auf die Durchsagen am Handy und auf Jimin konzentriert, dass ich mich selbst mal wieder überhaupt nicht gespürt habe. Trotzdem denke ich sofort wieder an Jimin.
"Hoffentlich kann er unsere Hilfe noch mal annehmen. Der Schock ist ja erst zwei Tage her."

"Du Engel der Selbstlosigkeit. Kuck hin - Jimin hat sich aufgesetzt und lässt es zu, dass Tae ihn umarmt. Sie weinen miteinander. Wenn DAS nicht zu seiner Seele durchdringt, ..."
Vorsichtig schiele ich über Joonies Schulter zu den beiden Freunden am Straßenrand und freue mich wie Bolle. Taes hartnäckige, sanfte Freundlichkeit der letzten Wochen hat ihre Wirkung doch schon entfalten können.
Jetzt steht Taehyung auf und zieht auch Jimin hoch, dem noch ein bisschen die Beine schlottern.
"Dürfen wir dich nach Hause bringen, Jimin?"
"Nein!! ... Ja. Danke. Ich glaube, mit so wackeligen Knien ... wäre ich sonst morgen noch nicht dort."

Tae spricht einfach lauter weiter.
"Dann schlage ich vor, dass Hoseok wie beim letzten Mal dein Fahrrad in den Bus lädt. Wir beiden setzen uns rein, Namjoon fährt uns. Und Hoseok und Jin steigen zu den Mädels ins Auto. Dann sind wir im Bus nicht so viele."
Jimin zuckt zusammen. Offenbar hat er die Szenerie noch gar nicht ganz erfassen können.
"Namjoon? Hoseok und Jin? Mädels?"
Er zieht den Kopf ein und sieht sich zum ersten Mal richtig um. Vor allem Namjoons Größe scheint ihn zu schrecken, obwohl der ganz besonders freundlich lächelt.

Aber Tae bleibt ganz ruhig und stellt uns alle vor.
"Der Mann neben Nelli heißt Namjoon. Im Auto wartet Nellis Freundin So-Ra. Sie werden dir beide nicht zu nahe kommen. Versprochen! Und im Bus sitzen noch Hoseok und Jin. Hoseok kennst du schon vom letzten Mal. Wir haben nur Jeongguk zu Hause gelassen, damit wir dir nicht noch mehr Angst machen. Aber er hat ein riesig schlechtes Gewissen und macht sich genau so Sorgen um dich wie wir alle."
Jimin holt tief Luft und schiebt nach einem kleinen Zögern sein Rad zu Hoseok, der inzwischen hinter den Bus gelaufen ist.

Jin nutzt die Gelegenheit und steigt vorne aus. Er geht zügig zum Auto und setzt sich auf die Rückbank. Seinem Gesicht ist deutlich anzusehen, wie erleichtert auch er ist. Wahrscheinlich fragt er sich grade, welcher Teufel ihn denn da geritten hat, dass er überhaupt mitgekommen ist.
Hobi schließt die hinteren Türen vom Bus und kommt zum Auto. Namjoon gibt mir einen schnellen Kuss und wartet dann ab, bis Tae und Jimin eingestiegen sind. So setzt sich unsere kleine Karawane in Bewegung, auf den Berg, zum Schrottplatz. Von unterwegs informiere ich Herrn Kang, dass wir Jimin gefunden haben und ihn jetzt unversehrt nach Hause bringen. Jin ruft gleichzeitig Jeongguk an und gibt auch dort Entwarnung.

........................
10.3.2023 - 24.3.2024

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