61 - Ein guter Tag

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Am Freitag kommt endlich Bewegung in meine nahe Zukunft. Namjoon holt mich nach dem Frühstück ab und spaziert gerne nochmal mit mir ums Eck. Wieder stehe ich ohne Schmerz vor dem Zaun und lasse meinen Blick über die Fassade meines Geburtshauses wandern.
"Weißt du denn noch, wo dein Zimmer war?"
"Nö. Und ganz ehrlich - der Gedanke, dass ich hier bei meinen Eltern mein Leben begonnen habe, fühlt sich warm an. Aber bis gestern wusste ich ja nicht mal was von der Existenz dieses Hauses. Ich verbinde keinerlei eigene Erinnerung damit. Ich bin gar nicht auf die Idee gekommen, danach zu fragen."
"Das klingt nach 'Blick nach vorn'. Dann lass uns fahren. Und ich habe ja auch einiges von gestern Abend zu berichten."

Schweigend laufen wir zum Auto. Aber plötzlich bleibt Joon noch einmal stehen und lächelt mich an.
"Es ist so schön zu spüren, wie gut es dir heute geht. Du hattest gestern einen gemütlichen Tag in vertrauter Umgebung, hast ein paar Fragen gestellt und Antworten bekommen, hast ein Stück Vergangenheit in Frieden ziehen lassen. Es freut mich, dass auch Stücke zum Puzzle kommen, die nicht mit Schmerz verbunden sind. Das tut dir so gut!"
Strahlend und dankbar greife ich nach seiner Hand für die letzten Meter. Galant hält er mir die Beifahrertür auf und fährt mich dann sicher zurück auf den Berg.

"Nelli, ich würde heute gerne alles, was meinen Job betrifft, in neue Büro umziehen. Dann haben die Jungs mehr Platz, und ich kann besser mit unseren beiden Damen zusammenarbeiten. Die Telefoniererei von Gebäude zu Gebäude in den letzten Tagen hat uns ziemlich aufgehalten."
"Gute Idee. Dann können wir auch das ganze Werbematerial ins Archiv schaffen. Keine Ahnung, warum das im Pförtnerhaus gelandet ist."
"Wir? Wenn du dich fit fühlst, gerne!"
"Bitte, ja. Ich bin viel müde und definitiv nicht stabil. Aber ich mag nicht in Watte gepackt werden. Die Rumsitzerei macht mich wahnsinnig. Und du kannst mich ja bremsen."
"Worauf du dich verlassen kannst. Aber ich arbeite gerne mit dir Hand in Hand."

"Also los!"
"Breeeeems."
"Jetzt schon?"
"Lass uns heute mal üben, die Mitte zwischen schlapp in der Ecke hängen und wie ungescheit lospowern suchen, okay?"
Wenn Joon mich so bittend ansieht, bin ich machtlos. Seine Sorge um mich ist nicht nur berechtigt sondern auch ein großes, warmes Geschenk an mich.
"Okay."

"Joonie?"
"Hm?"
"Ich liebe dich."
Namjoon macht kurz vor unserer Einfahrt zum Park eine Vollbremsung und fährt rechts ran. Sein Gesicht sieht aus wie Ostern und Weihnachten auf einen Tag.
"Und ICH dich erst!"
Mein spontanes Lachen geht in einem ausgiebigen Kuss unter. Ich schwebe im siebten Himmel.

Den Vormittag über widmen wir uns der besonderen Aufgabe. Die Geräte und ersten Akten, die spezifisch Namjoons Arbeitsbereich betreffen, bauen wir in der Pförtnerei ab, verpacken alles sorgfältig und tragen es gemeinsam rüber zur Villa.

Ich hatte lange hin und her überlegt, mich immer wieder in die Räume im zweiten Stock gesetzt, mit mir gerungen. Ich konnte mich einfach nicht entscheiden, welchen Zweck mein ehemaliges Jugendzimmer bekommen sollte. Letzten Endes hat Namjoon gemeinsam mit den beiden Mitarbeiterinnen anhand eines Grundrisses entschieden, wie die Räume oben am sinnvollsten eingeteilt werden könnten. Im Endeffekt wurde aus meinem Zimmer das Gästezimmer mit einem kleinen, davon abgetrennten eigenen Bad. So werde ich selbst den Raum sicher kaum betreten. Und wenn, dann sind jetzt die Proportionen so anders, dass es mich nicht immer wieder sofort an früher erinnern wird.

Der große Raum über Onkel Harrys Schlafzimmer eignet sich am besten für größere Besprechungsrunden und hat darum auch eine Teeküche bekommen.
Ein kleiner Raum wird ein Büro für mich, damit ich zu Hause besser trennen kann zwischen privat und Job und Ehrenamt.
Die beiden ehemaligen Gästezimmer sind jetzt die zwei neuen Büros. Das Größere steht den beiden Damen zur Verfügung, das etwas Kleinere ist ab heute Namjoons berufliche Heimat. Alle Räume hier oben haben viel Licht und herrliche Blicke auf die Stadt oder direkt hinein in die Baumkronen des Parks.

Bevor wir das Büro betreten, schmettere ich todernst und furchtbar schief einen Tusch und öffne mit einer schwungvollen Bewegung die Tür.
"Herzlich willkommen an Ihrer neuen Wirkungsstätte, Herr Kim. Auf gute Zusammenarbeit in beiderseitigem Vertrauen zum Wohle der benachteiligten Menschen in Seoul."
Namjoon lacht mich aus, stellt seine Kiste mit Computerkram auf den Schreibtisch und nimmt mich fest in die Arme.
"Danke! Danke für die guten Wünsche ... und tausendmal Dank, dass du mich nie aufgegeben hast und so hartnäckig geblieben bist. Inzwischen habe ich tatsächlich diese Aufgabe für mich angenommen und freue mich richtig darauf. Auch solche Situationen wie am Dienstag oder gestern fallen mir jetzt nicht mehr so schwer. Ich bin angekommen."

Gemeinsam laufen wir noch zweimal zwischen den Gebäuden hin und her, bringen alles mit dem Fahrstuhl in den zweiten Stock und bauen als erstes den Computer wieder auf. Die Einrichtung des Raumes ist schlicht, aber elegant und passt nicht nur gut zum Haus sondern auch zu Namjoon. Er wird sich hier sicher wohlfühlen und Großartiges leisten.
"Sag mal, war ..."
"Mal."
"Örks."
In Ermangelung einer geeigneteren "Waffe" werfe ich ihm eine Packung Taschentücher an den Kopf, die er jedoch geschickt abfängt und in einer Schreibtischschublade verschwinden lässt. Ich kann kaum weiter sprechen beim Anblick seines breiten Grinsens.
Grübchenalarm!

"War dein Bruder gestern Abend eigentlich auch dabei, oder hat sein Chef schon abgewunken?"
"Sein Chef hat wegen der Kosten das Interesse verloren, aber Yeonny war trotzdem da und will dranbleiben. Zu recht, denn es entstand gestern Abend die Idee, dass ja nicht notwendigerweise ein ganzer Betrieb auf das Konzept ausgerichtet werden muss. Wenn - sagen wir mal - vier Betriebe jeweils ein oder zwei Lehrlinge mit Sonderbedarf annehmen, dann könnten sie von einem gemeinsamen Sozialpädagogen betreut werden. Vier Tage in der Woche für jeweils einen der Betriebe, der fünfte Tag ist für Büroarbeiten, das Netzwerk und hoffentlich seltene "Feuerwehr"einsätze in einer der Firmen. So verringern sich die Kosten für die einzelnen Arbeitgeber, aber das Netzwerk bekommt eine breitere Flächenwirkung in der Stadt und einen größeren Bekanntheitsgrad."
"Das klingt ja super. So reduziert sich auch für alle das Risiko, und die Hemmschwelle zum Mitmachen wird gesenkt."
"Genau. Und damit wird er jetzt seinem Chef nochmal auf die Pelle rücken."

Sehr plötzlich ändert sich die Stimmung im Raum. Namjoon steht vom Schreibtisch auf und schaut stumm in den Park. Ich stelle mich neben ihn, beobachte sein Gesicht, lege meinen Arm um seine Schultern.
"Ich bin unglaublich glücklich für dich, dass du durch Yeon-Jun wieder Kontakt zu einem wohlgesonnenen Menschen in deiner Familie hast."
Er atmet tief durch.
"Sowas von. Ich ... hatte die Hoffnung, dass ich jemals wieder einen halbwegs normalen, wenigstens respektvollen Umgang mit meiner Familie haben könnte, eigentlich schon aufgegeben. Was Yeon-Jun mir mit seiner bloßen Anwesenheit schenkt, ist unbezahlbar. ... Ich fühle mich jetzt schon mehr gesehen und geachtet um meiner selbst willen als während meiner gesamten Kindheit."

Als nächstes machen wir uns daran, die unerwartet vielen bereits angesammelten Akten, Verträge und Pläne in einen Schrank mit dem Thema "Gründung" zu sortieren. 
"Und wie lief es mit dem Bänker?"
"Tja. ... Das war hart. Er wollte Bedingungen stellen. Er hat Jeongguks Chefs sogar damit gedroht, dass die Bank ihrem Betrieb alle Konten, Kredite und Beteiligungen kündigt. Also musste ich in die Offensive gehen. Mein Vorteil war tatsächlich, dass ich ihn und seine wunden Punkte kenne und genau wusste, wie ich ihn zu nehmen habe. So konnte ich ihm durch die Blume vermitteln, dass genau seine speziellen Befürchtungen in Bezug auf meine Person kein Thema sein werden, weil die Struktur der Stiftung darauf ausgerichtet ist, sehr ehrlich und transparent zu arbeiten. Außerdem ist die Stiftung dann nur Förderer der Projekte, sozusagen Katalysator. Die Bank hat ja eigentlich mit uns sonst gar nichts zu tun, mit mir also noch weniger."
"Auwei. Ein harter Brocken."
"Das kannst du laut sagen. Er hat dann noch ein bisschen Schadensbegrenzung und Imagepflege betrieben, um das Gesicht zu wahren. Aber zumindest für den Laden ist die Kuh vom Eis. Die interessierten Firmen wollen allerdings daraufhin lieber mit ihren Stammbanken zusammenarbeiten, falls sie sich auf das Projekt einlassen."

Wieder mustere ich ihn kritisch, merke aber, dass er sich jetzt entspannt. Er wendet sich mir zu, und seine Stimme klingt leicht.
"Ich bin so froh, dass ich von Anfang an allen Gesprächspartnern gegenüber mit offenen Karten gespielt habe. Viele im Raum wussten um meine Vergangenheit, haben bereits gute neue Erfahrungen mit mir gemacht und sich darum nicht gegen mich ausspielen lassen. Mehrere haben ihm sein cholerisches Gepampe zurück in den Rachen gestopft und um mehr Sachlichkeit und Zielorientierung gebeten. Sie haben sich ganz auf die Möglichkeiten und Fakten konzentriert. Das hat mir sehr den Rücken gestärkt."

Wir greifen uns die Kartons mit all dem unterschiedlichen Werbematerial und wandern nach nebenan zu den Damen, die uns fröhlich begrüßen. Sie kämpfen sich grade ins Computersystem und freuen sich über die Ablenkung. Gemeinsam sichten und sortieren wir alles durch. Jeweils nur ein paar Exemplare verschwinden bei Namjoon in einer Schublade, damit er alles griffbereit hat. Jeweils eine größere Menge legen wir für die repräsentativen Aufsteller am Portal beiseite, dazu Nachschub für die Damen in ihrem Schrank. Und den größten Schwung fahren wir mit dem Aufzug in den Keller, wo das Material seinen Platz im Archiv bekommt.

Nachdenklich schaue ich für einen Moment die Tür zum Heizungskeller an.
"Nelli? Wo bist du grade in Gedanken?"
Ich seufze. Und spüre ganz bewusst, wie sauber die Luft hier unten nun riecht.
"Siehst du die Markierung da an der Wand?"
"Ja?"
"So hoch stand der ganze Keller unter Wasser. Es war dunkel, schimmlig, kalt. Und mittendrin schwamm Jin auf einer total vergammelten Matratze rum und hatte sich aufgegeben."
"Ach, du ... Kaum zu glauben! Wenn man Jin heute sieht ... Irgendwie ist es schade, dass ich erst im Sommer dazugekommen bin. Den Anfang hab ich so leider verpasst."

Wir steigen wieder in den Aufzug nach oben.
"Darf ich ehrlich sein?"
Namjoon nickt.
"Du immer, Liebes. Bitte!"
"Du hast nicht wirklich was verpasst. Ihr seid heute auf dem Weg, vollkommen andere Menschen zu werden. Die Menschen, die ich hier vorgefunden habe, waren keine Gruppe. Das war - trotz Yoongis geheimer Mission - nur ein fragiler Haufen verletzter Männer, die nebeneinander her gelebt haben. Du wärst nicht hier, wenn die anderen bis dahin nicht schon so viel dazu gelernt hätten. Was du dann Ende Juli kennen gelernt hast, war das Ergebnis monatelanger harter Arbeit. Sonst wärst du sofort achtkantig rausgeflogen. Dann lieber spät als gar nicht. Du bist sehr wichtig und bereichernd für die Gemeinschaft."

Ich kann nicht gut einschätzen, ob sein Tonfall mehr Frustration über die Wahrheit oder mehr Freude über die Wertschätzung beinhaltet.
"Nicht unwahrscheinlich, dass ich am Anfang ein erheblicher Störfaktor und noch anstrengender gewesen wäre. Ich habe nur das Gefühl, dass mir etwas fehlt, weil ich Jin, Jeongguk, Hoseok und Taehyung nicht vor ihrem jeweiligen Aufbruch kennen gelernt habe. ... Aber dafür gehöre ich jetzt ganz dazu."

Spontan drücke ich den Fahrstuhlknopf fürs Erdgeschoss. Namjoon sieht mich fragend an. Als Antwort gähne ich herzhaft.
"Ich merke grade, dass ich richtig müde und geschafft bin von diesem Vormittag. Ich glaube, ich sollte ein bisschen schlafen."
"Dann warte kurz, ich hole deine Jacke runter."
Er schiebt mich mit einem Zwinkern aus dem Fahrstuhl und fährt ganz nach oben. Kurz darauf ist er wieder da, packt mich fürsorglich warm ein und begleitet mich zur Pförtnerei. Bis Jin mit Kochen fertig ist, bringen wir hier das Büro wieder in einen benutzbaren Zustand. Wir essen gemütlich zu dritt, weil heute tatsächlich alle anderen auf Achse sind. Während ich dann einen ausgiebigen Mittagsschlaf halte, geht Namjoon wieder an die Arbeit.

Den Nachmittag widme ich meinem Tagebuch. Schon seit Montag versuche ich, die über mich hereinstürzenden Erinnerungen und Erkenntnisse zu Papier zu bringen. Es fällt mir mal mehr, mal weniger schwer, manche Sachen wollen kaum aufs Papier, und das ein oder andere habe ich schon wieder fast verdrängt. Genau darum ist es wichtig, dass ich das alles sofort festhalte.
Nie wieder schweigen. Nie wieder verdrängen! 
Natürlich laufen mir dabei zum Teil ganz heftig die Tränen, oder ich muss eine Pause einlegen. Aber nach kurzer Zeit zieht es mich immer wieder zurück zu Stift und Papier.

Gegen Abend dann ruft So-Ra mich an. Die Woche muss für sie echt heftig gewesen sein, denn sie klingt unglaublich müde und ausgelaugt.
"Oje, du Ärmste. Warum machst du diesen Marathon eigentlich, wenn Cheffe dich sowieso nicht weglässt?"
"Weil er mich jetzt doch weglässt. Er hat eben seine Freitagsrunde gedreht, ist bei meinem Anblick richtig zusammengezuckt und hat sich dann zeigen lassen, wie weit ich in dieser Woche gekommen bin. Dein Schreibtisch ist blank, Schnucki."

So-Ra lacht müde.
"Unsere Emails sind abgearbeitet, alle Kundenfragen beantwortet oder an Kollegen delegiert, alle anstehenden Vorgänge auf den Weg gebracht. Der gesamte Kaffee der Abteilung ist weggeschlabbert, meine Hosen rutschen, weil ich kaum zum Essen gekommen bin, und nach einer Schrecksekunde meinte Cheffchen nur: 'Bevor Sie auch noch vom Stuhl kippen und länger ausfallen - ab mit Ihnen. In einer Woche sind Sie bitte wieder fit und arbeitsfähig. ... Danke für Ihren Einsatz.'
Weg war er. Which means: wir zwei werden jetzt hübsch nach Berlin flattern und deinen dortigen Anwalt besuchen. Was denkst du?"
"Dass du verrückt bist, unser Chef zu heiß gebadet hat und ich sehr, sehr viel Dankbarkeit empfinde. Pass auf - wir buchen, und du bekommst dann sofort alle Daten."

Nach und nach trudeln alle außer Hoseok zum Abendessen ein. Yoongi verabschiedet sich anschließend mit einem freundlich-mahnenden Blick in sein Wochenende.
"Pass gut auf dich auf, ich wünsche dir das allerbeste für die Reise."
Namjoon und ich hocken uns gemütlich aufs Sofa, und ich warte ab, was er wohl für Flugverbindungen finden wird. Die Frage ist schnell geklärt. First class wäre mir ja schon lieber gewesen wegen der Privatsphäre, aber in der Business class gibt es eine Verbindung, die vier Stunden kürzer dauert. Und auch, nur einmal Umsteigen zu müssen, rangiert ganz oben auf der Wunschliste. Der Rückflug wird dagegen sehr komfortabel sein.

"Bitteschön, meine Liebe. Gleich morgen Mittag. Soll ich buchen? Du rufst So-Ra an, und dann bringe ich dich nach Hause, damit du heute noch packen kannst."
"Danke, Joonie. Du bist hier einfach der Googlemeister. So machen wir das."
Ich packe bei Namjoon meine wenigen Habseligkeiten zusammen, verabschiede mich herzlich von den verbliebenen Jungs, und los gehts.
Auf der Fahrt in die Stadt genieße ich, dass Namjoon fährt und ich mich nicht konzentrieren muss. Ich klappe lieber die Augen zu und fertige im Geiste eine Packliste an.

"Alles in Ordnung, Liebes? Du bist so still. Ist das nur Müdigkeit? Oder fürchtest du dich vor Berlin?"
Eigentlich ...
"Ich glaube, das ist mehr die Müdigkeit. Nach diesen beiden so positiven Tagen und Nächten mit ausreichend Schlaf ist die Angst jedenfalls deutlich kleiner geworden. Und eins ist klar: Zurück vor all das Schreckliche geht es nicht mehr, Stillstand macht mich schon nach drei Tagen verrückt - also ist meine Marschrichtung vorwärts durch Nebel und Sumpf. Danach winken dann hoffentlich Leichtigkeit und Sonne und Zukunft."
"Also Augen auf und durch. Das ist gut. Ich glaube fest daran, dass du das schaffst."

Ohne Joon wäre ich zu Hause wahrscheinlich einfach ins Bett gesunken und sofort eingeschlafen. Aber mein Herzallerliebster holt gleich die kleinere Reisetasche vom Schrank, schmeißt eine Waschmaschine an und lotst mich fröhlich durch die Packerei. Ich brauche ja nicht viel für eine Woche.
"Soooo. Jetzt die Papiere. Pass? Ticket ist auf dem Handy. Ah, du musst deine Wohnungshüterin informieren. Dein Tagebuch ... Was brauchst du im Flieger? Oropax. Dicke Omasocken."
Ich gebe ihm im Vorbeigehen einen provokanten Klaps auf den Po.
"Aua! Meine Dame, was erlauben Sie sich?"
"Nichts anderes als, was Männer sich seit Jahrhunderten bei den Frauen erlauben. Ach, eben ist 'ne Nachricht von So-Ra gekommen. Sie fragt, ob ich sie einsammele, sie hierher kommt oder wir beide getrennt zum Flughafen fahren."
"Ich schlage vor, dass wir sie einsammeln und ich euch beide zum Flieger bringe. Oder?"
"Gute Idee. Du brauchst das Auto ja sowieso am Berg."

Dank seiner moralischen Unterstützung kann ich schon bald ins Bett gehen.
"Äh. Sag mal - du hast die Waschmaschine angestellt. Wann willst du das eigentlich trocken kriegen?"
"Ich bin noch nicht müde. Ich warte einfach, bis ich alles in den Trockner schmeißen kann. Dann komme ich auch. Schlaf gut, Schatz!"
"Eyey, Käptn."
Sein Lächeln begleitet mich in einen schönen Traum.

Am Samstag Morgen werde ich wach, weil Namjoon es nicht schafft, die Schranktür lautlos zu öffnen. Der verrückte Hund räumt grade die saubere Wäsche aus dem Trockner weg.
"Guten Morgen, Heinzelmännchen. Ich danke dir sehr für den umfassenden Service."
"Was auch immer ein Heinzelmännchen ist - guten Morgen, Sonnenschein. Du hast tief und fest geschlafen, einer angenehmen Reise steht also nichts im Wege. Ab ins Bad mit dir, gleich gibts Frühstück."
Mit einem Kuss schiebt er mich über den Flur und verschwindet selbst in der Küche. Als ich fertig für die Reise mitsamt Reisetasche ins Wohnzimmer komme, duftet es nach Kaffee, und auf dem Tisch steht ein umfangreiches, vielseitiges Frühstück.

"Danke, Schatz. Auch wenn ich jetzt nicht für die ganzen siebzehn Stunden auf Vorrat essen werde."
"Das nicht. Aber manches davon kannst du gut mitnehmen, falls das Flugzeugessen nicht schmeckt."
"Du denkst an alles!"
Was ein Luxus! Wer ist schon gerne krank geschrieben - und dann auch noch wegen Psycho? Aber Namjoons liebevolle Aufmerksamkeiten - die würde ich mir auch drüber raus gefallen lassen. Wobei ... Die WERDE ich mir gefallen lassen. Zu mir ist er ja immer so. Ich spüre es nur jetzt ganz besonders.

Wir reden nicht viel an diesem Morgen, wir genießen einfach die vertraute Zweisamkeit. Meine Sachen stehen gepackt bereit, alles ist organisiert. Zeitig brechen wir auf, um So-Ra einzusammeln. Dann kann ich vielleicht noch am Flughafen eine typisch koreanische Kleinigkeit als Dankeschön für meine Wohnungshüterin besorgen.
So-Ra ist mal wieder das glatte Gegenteil von mir. Kaum sitzt sie im Auto, sprudelt sie wie ein Wasserfall. Wie aufgeregt sie ist, wie neugierig auf deutsche Weihnachten, wie ...

Ich wache davon auf, dass jemand über meinen Arm streicht.
"Mann, ist die weit weg. Schläft Nelli immer so schnell ein?"
"In letzter Zeit ja. Sie hat ein Dreivierteljahr ohne Rücksicht auf sich selbst über alle Grenzen hinweggepowert. Und jetzt hat sie all den Gefühlen und Entdeckungen nichts mehr entgegenzusetzen."
Ich höre das vertraute Motorbrummen, aber wir fahren wohl ziemlich langsam. Die Sorgen in den Stimmen meiner Freunde mischen sich mit den seltsamen Bildern, die ich eben im Schlaf gesehen habe.

................

Ich habe einen Termin bei dem Berliner Anwalt, aber ich fürchte mich. Der Mann ist grantig mit mir, weil ich ... keine Ahnung, ich habs nicht verstanden. Irgendwas hab ich falsch gemacht. Plötzlich kommt Onkel Harry zur Tür rein und sieht ganz traurig aus. In dem Moment, in dem ich sein eigenes Tagebuch entgegennehme, geht es in meinen Händen wie aus dem Nichts in Flammen auf. Ich versenge mir dabei die Finger und lasse vor Schreck und Schmerz das Buch fallen. Daraufhin fängt das ganze Büro schnell Feuer um uns herum und raubt uns die Luft zum Atmen.

................

Schnell klappe ich die Augen auf, um diese Bilder loszuwerden. Ich schnappe nach Luft und huste, als hätte ich tatsächlich Rauch eingeatmet. Das erste, was ich sehe, ist der Eingang zur Abflughalle von Incheon.
Der Flug nach Berlin. Heute. Jetzt.
Keine Ahnung, warum - aber plötzlich ist der Ofen aus. Panik. Nichts geht mehr.
"Nein. Nein! Ich schaff das nicht. Bitte, bring mich wieder nach Hause! Ich kann das nicht. Das ist zu viel. Ich ..."
Das Auto bleibt vor dem Gebäude stehen. Vier Arme umfangen mich. So-Ra summt etwas.
Das ... koreanische Schlaflied?
Ich verstehe gar nichts mehr. Ich höre mein eigenes Wimmern. Es klingt wie ganz weit weg.
"Liebes, halt dich fest. Wir sind bei dir. Alles wird gut, Nelli. Halt dich an mir fest. Ich bin da."
Die ganze Zeit das sanfte Summen.

"Du hast geschlafen auf der Fahrt. Wir sind jetzt am Flughafen, aber wir haben noch ganz viel Zeit. Halt dich nur fest, wir passen auf dich auf. Und wenn du ganz wach bist, erzählst du uns, was grade in dir vorgeht. Ich hab dich lieb."
Ich weiß kaum, wo oben und unten ist vor Angst, aber ich halte mich an diesen Menschen fest und an dem beruhigenden Unterton in ihren Stimmen. Ich konzentriere mich auf meine Atmung. Allmählich wird meine Sicht klar, und nach ein paar Minuten kann ich auch wieder denken.

"Entschuldigt, dass ... es ist mir total peinlich, dass ich immerzu so ein Theater ..."
"Papperlapapp, meine Liebe! Das ist ja wohl der allergrößte Blödsinn. Du bist völlig ausgelaugt von den letzten Monaten, und darum fliegen wir jetzt nach Berlin. Irgendwas hat dich eben erschreckt, aber das wird schon wieder."
So-Ras robuste Art und forsche Ansage verfehlen ihr Ziel nicht. Sie bugsiert mich in die große Eingangshalle und steuert die nächste freie Bank an. Sie nimmt mich einfach in die Arme und gibt mir Halt. Nach einer Weile kommt Namjoon mit unserem Gepäck und setzt sich dazu. Er hatte Glück und konnte einen der nahen Kurzzeitparkplätze ergattern.

So-Ra besorgt uns drei Kaffee, und dann erzähle ich mit der Tasse in der Hand von meinem Traum eben. So-Ra und Namjoon halten erschrocken die Luft an.
"Wenn ich meine Aufwachreaktion von eben richtig interpretiere, dann habe ich jetzt wohl unterbewusst Angst, dass mich der Inhalt von diesem Schriftstück-Tagebuch-wasauchimmer innerlich verbrennen und ersticken wird. ... Ich ... fürchte mich vor Berlin. Werde ich jemals wieder Ruhe haben vor den Dämonen meiner Vergangenheit?"

Meine Hände an der Kaffeetasse sind warm. Der Rest von mir ist eiskalt und friert. Ich zittere richtig, obwohl das Gebäude beheizt ist und ich eine dicke Winterjacke anhabe. Namjoon lunzt verstohlen auf seine Uhr und seufzt.
"Liebes, ich würde so gerne bei dir bleiben. Aber ich muss zum Auto, sonst wird es abgeschleppt. Die nächste Zeit wird sehr schwer - auch wenn da nichts brennen oder explodieren wird. Du weißt, dass du mich zu jeder Tages- und Nachtzeit anrufen kannst. Ich werde immer alles tun, um dir da durchzuhelfen.
Sag ganz ehrlich: ist es für dich in Ordnung, diese Reise zusammen mit So-Ra anzutreten? Schafft ihr das?"
"Ich ... Ich glaube, es wird nicht besser, wenn ich das auch wieder ewig vor mir her schiebe. Aber Angst hab ich trotzdem."

"Das verstehe ich."
Namjoon steht auf, zieht mich in seine Arme und hüllt mich ein in seine Liebe. Mit einem zarten Kuss löst er sich wieder.
"Hab keine Angst, Liebes. Onkel Harry hat dich sehr geliebt. Am Ende dieser langen, finsteren Nacht folgt der Anfang eines neuen Tages - ganz bestimmt. Wir wissen noch nichts von diesem neuen Tag. Aber wie auch immer - er wird kommen, und das Leben wird dann wieder leichter. Gib bitte nicht auf. Ich liebe dich!"

Ich spüre, wie widerwillig er mich loslässt, obwohl er versucht zu verbergen, wie große Sorgen er sich macht. Darum lächele ich ihn an, bevor er sich umdreht und aus der Halle eilt. Ich schaue ihm hinterher, bis sich die große Schiebetür hinter seinem Rücken schließt.

........................
30.4.2023    -    26.3.2024

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