62 - Über den Wolken

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Die große Flughafenhalle verschwimmt vor meinen Augen. Ich habe Angst. Mit aller Macht klammere ich mich an den Gedanken, dass So-Ra bei mir ist.
Sie ist hier. Bei mir. In meiner Gegenwart. Ich bin nicht allein. Sie wird mich beschützen. Sie passt auf mich auf. Sie fliegt mit mir nach Berlin. Ich bin nicht allein. Sie ist da und beschützt mich. Im Hier und Jetzt. Meine beste Freundin passt auf mich a...
So-Ra nimmt mich lange in die Arme.
"Mama hat mir verraten, dass dir das gut getan hat. Ich habe extra geübt."
Sie summt wieder. Das Wiegenlied. Dankbar genieße ich ihre liebevolle Zuwendung. Allmählich kann ich zulassen, dass der sanfte Klang mich beruhigt.

"So, Süße. Du bestimmst, wie es jetzt weitergeht. Der Flieger geht in zweieinhalb Stunden. Wir sollten also in einer halben Stunde spätestens einchecken. Gepäckabgabe ist ja nicht nötig. Hast du eine Idee oder Wünsche, wie wir die Zeit verbringen? Du entscheidest auch, ob, wann und wo wir über diese mistige Angst reden. Was brauchst du jetzt?"
"Danke. Genau dich brauche ich jetzt. Ich ... hm ... ich glaube, ich möchte sofort einchecken, dann ist das erledigt. Dann können wir ein bisschen shoppen und bummeln. So komme ich auf andere Gedanken, und die Zeit vergeht. Wasser sollten wir uns besorgen."

"Okay, dann los. Auch wenn ich keine Ahnung habe, was du in diesen schicken Shops kaufen willst."
Wir arbeiten uns durch die Massen, checken ein, lassen die Kontrollen über uns ergehen, packen unseren Pröttel wieder zusammen und schlendern durch den Luxustempel.
"Irre, was die Leute bereit sind auszugeben, wenn sie sich langweilen. Kann es sein, dass man gar nicht wegen der Sicherheitsmaßnahmen und des Gepäcks so früh einchecken muss sondern, damit man hier drinnen auf dem Weg zum Flieger aus lauter Verzweiflung mit einer lässigen Handbewegung drei volle Monatsgehälter raushaut? Echt unglaublich, diese Preise. Schau mal da, diese Schuhe. Die Farben beißen sich, meine Knöchel brechen allein beim Anschauen, so kleine Füße haben nur Kinder - aber da stehen 1.000,- $ auf dem Preisschild. Mit Schuhen für 10,-$ komm ich im Zweifelsfalle gesünder ans Ziel."

So-Ra grinst von einem Ohr bis zum anderen.
"Suchst du eigentlich was bestimmtes? Sag mir nicht, du willst Knochenbrecherschlappen von Gucci erstehen."
"Ich suche eigentlich nur nach einer Kleinigkeit."
"Geht das ein klitzekleines Bisschen präziser, Schatzi?"
Lachend erzähle ich ihr von meiner Berliner Wohnungshüterin Frau Blumenthal.
"Und der möchte ich eine typisch koreanische, aber nützliche Kleinigkeit als Dankeschön besorgen."
"Super - jetzt weiß ich mehr. Wie alt ist die, was arbeitet sie, welche Hobbys hat sie, was trinkt sie gerne, was isst sie gerne, wie kleidet sie sich, trägt sie Schmuck, benutzt sie ein Parfum, hat sie ein Haustier, lebt sie all..."
"Du Nuss! Das ist eine Rentnerin, die nebenan wohnt und sich kümmert. Sie ist altersgerecht schlicht gekleidet. Mehr weiß ich nicht."

So-Ra dreht theatralisch ihre Augen zur grell beleuchteten Decke der Shopping Mall.
"Ich breche in Begeisterung aus."
Ich lasse meine beste Freundin weiter rumspekulieren und vertiefe mich in das Schaufenster eines Reisebüros. Auf großflächigen Plakaten scheint überall auf der Welt vor leuchtend blauem Himmel die stets strahlende Sonne. In Reisebüros gibt es sogar in der Savanne und im Regenwald nur knatscheblauen Himmel über saftigem Grün.
Wieso gibt es denn hier ein Reisebüro? Wer hier rumläuft, hat sich doch schon für einen Urlaub entschieden.

Dann macht es auf einmal Klick.
"Lass uns nach einer Buchhandlung oder noch besser Papeterie suchen."
Ich steuere einen großen Lageplan mit Shop-Finder an, während So-Ra - verblüfft von dem plötzlichen Kurswechsel - hinter mir her stolpert. Eine Papeterie ist schnell entdeckt. Auf dem Weg dahin erkläre ich ihr, was ich vorhabe.
"Ich hatte ihr im Frühjahr nach der Beerdigung ein paar alte Bilder von der Villa gezeigt. Ich habe jetzt tausende von Aufnahmen aus den letzten Monaten auf dem Handy. Ich könnte ihr ein kleines Album von Seoul, der Villa, den Jungs und dem Park zusammenstellen. Und wenn ich Glück habe, gibt es handgebundene Bücher aus selbst geschöpftem Papier."

Geduldig klemmt sich meine Besti an meine Hacken und lässt mich einfach machen. Ein paar Besuche an der Infotafel später habe ich alles beisammen.
"Lass uns zu unserem Gate gehen."
"Wie du meinst, Schnucki."
Ich ergattere einen der wenigen winzigen Tische im Wartebereich, breite meine Beute aus und freue mich.
Hm. Da sind überall Duty Free-Siegel drauf, damit man das nicht vorher schon aufmacht. Ach, an denen komme ich schon irgendwie vorbei.
Nach und nach finde ich bei all den Kleinigkeiten den Hintereingang der Verpackung.
Als erstes kommt die kleine Tüte Joongjak-Tee in die traditionelle Teetasse. Ein paar Mochis landen in der Ramenschale, die zur Tasse passt. Stäbchen habe ich weggelassen, das kann sie bestimmt sowieso nicht. Also friemele ich die Verpackungsfolie an beides wieder dran.

Begeistert drehe ich das kleine Album aus handgeschöpftem Papier mit traditioneller Bindung in meinen Händen. Es ist mit zartgrünem Seidenstoff bezogen. Dazu habe ich ein paar Postkarten gefunden. Eine Satellitenaufnahme zeigt das ganze Ausmaß der Megacity Seoul. Da markiere ich den Platz der Villa am Rand des Bukhansan Nationalparks. Die zweite Karte zeigt das eindrucksvolle Panorama des Berges. Und auf der dritten Karte hat man den Blick vom Berg runter auf die Stadt. Dazu werde ich irgendwo in Berlin ein paar Fotos von meinem Handy abziehen lassen. Vorsichtig wickele ich das Buch mit den Karten in das handgeschöpfte, ebenfalls zartgrüne Geschenkpapier. 

"Allmählich habe ich den Verdacht, dass du eigentlich hättest Künstlerin werden sollen, meine Liebe. Aber zumindest Lebenskünstlerin bist du. Du solltest sehen, wie entspannt und glücklich du jetzt aussiehst, weil du vollkommen darin aufgegangen bist, diese 'Kleinigkeit' zusammenzutragen."
So-Ra lächelt mich an, und ich stelle verblüfft fest, dass sie recht hat.
Ja, mir geht es wieder gut. Das Tun mit den Händen hat mich beruhigt.
"Dann lass uns mal alles einpacken. Grade war der erste Aufruf zum Boarding."

Sorgfältig verstauen wir die Kleinigkeiten in unserem Gepäck, holen unsere Papiere heraus, schultern unsere Handtaschen und reihen uns in der Schlange ein. Das Boarding geht zügig voran, so dass wir uns bald in unsere Sitze fallen lassen können. Wir richten uns ein für einen durch die Zeitverschiebung in die Länge gezogenen Tag. Wenn wir abends in Berlin sein werden, wird es in Seoul schon mitten in der Nacht sein.

Der Start verläuft ereignislos. Der Blick aufs graue Meer ist abrupt beendet, als wir durch die dichte Wolkendecke stoßen. Hier oben ist dafür strahlender Sonnenschein.
"Und was machen wir jetzt, Schnucki?"
"Hm. Gedanken sortieren. Was du vorhin beobachtet hast, hatte ich am Sonntag nämlich schon mal. Und Namjoon hat hinterher auch fast wörtlich dasselbe gesagt wie du eben. Heißt das vielleicht, dass ich mir ein kreatives, möglichst transportables Hobby zulegen sollte, damit ich immer und überall was in den Händen habe, was mich beruhigt? Aber was? Mir fällt nichts ein."

So-Ra grinst.
"Kannst du dich erinnern, dass wir in der Grundschule Handarbeitsunterricht hatten?"
"Owei - du meinst das organisierte Zeittotschlagen beim Knüpfen von Norigaeknoten zur Verzierung von Hanboks? Verschone mich!"
Wir müssen beide lachen, denn wir haben es aus tiefstem Herzen gehasst damals. Unsere Knoten waren krumm und schief und sind definitiv nie an irgendeinem Hanbok gelandet.

In loser Folge reden, essen und schlafen wir durch den Tag. Wir haben viel Platz, können uns auch mal die Beine vertreten und langweilen uns um die Wette. Den bevorstehenden Besuch in der Anwaltskanzlei berühren wir dabei nicht. Als es in Seoul Abend ist, schreibe ich ein bisschen mit Namjoon hin und her. So-Ra gibt irgendwann ihren inneren Widerstand auf und schaut sich einen Film an. 

Die tief verschneiten Alpen von oben sehen beeindruckend aus. Von Frankfurt sehen wir allerdings nicht viel, denn hier schneit es. Zunächst müssen wir uns in eine riesige Warteschleife am Himmel einreihen. Wegen des schlechten Wetters machen sie deutlich größere Pausen zwischen den Starts und Landungen. Wahrscheinlich wird sogar der ein oder andere Flug gestrichen.
Nach einer Ehrenrunde dürfen wir dann aber landen. Ich habe schon weniger rutschige Landebahnen gesehen, aber wir kommen heile runter. Der Pilot scheint ein sehr erfahrener Mann zu sein, und auf diesem riesigen Rollfeld ist wirklich genug Platz für eine kleine Schlitterpartie, denn einige Maschinen bleiben vielleicht sowieso am Boden. Nach einer guten Stunde arbeiten wir uns noch einmal durch das Schneetreiben in die Lüfte für das letzte Stück nach Berlin.

In Seoul ist es jetzt schon nach Mitternacht. Also klappe ich die Augen zu und schlafe vor.

................

Wir sitzen zusammen in Schulbussen. Ich bin auf einmal wieder so ungefähr neun Jahre alt, und So-Ra neben mir auch. Glaub ich. Wir machen heute einen Ausflug zur Lotte World, der ganze Jahrgang von der Grundschule, alle zusammen. Bei jeder Klasse sind eine Lehrerin und zwei Eltern dabei, damit wir uns auch mal aufteilen können. Wir freuen uns riesig darauf. Manche waren noch nie dort, und die anderen schnattern durcheinander, um zu erzählen, was es da alles zu sehen gibt. Es ist furchtbar laut im Bus. Am liebsten würde ich mir die ganze Zeit die Ohren zuhalten.

Ich finde so toll, dass die meisten Sachen in riesigen Hallen untergebracht sind. Dann ist nämlich das Wetter egal. So wie heute. Es ist eisekalt, UND es regnet. So richtiges Bäh-Wetter.
Die Lehrer haben sich vorher abgesprochen, welche Klasse in welcher Halle anfängt, damit wir nicht alle auf einem Haufen knubbeln. Unsere Gruppe fängt mit der Bootsfahrt in der Burg an. Ich bin ganz aufgeregt und hänge an So-Ras Hand, damit wir uns nicht verlieren und auf jeden Fall zusammen sitzen.

Wir haben riesig viel Spaß - auch wenn mir manchmal ein bisschen schlecht wird. Immer, wenn wir irgendwo in der Warteschlange stehen, essen wir von unseren mitgebrachten Süßigkeiten. Dann kommt die nächste Raufundrunter-Tour. Ich glaube, das mag mein Bauch nicht so. Es kribbelt wie wild. Trotzdem machen wir überall mit.

Der Tag geht viel zu schnell rum. Erst auf dem Rückweg im Bus merke ich, wie müde ich bin. Also sitze ich still auf meinem Platz und schaue aus dem großen Busfenster. Es fängt schon an, dunkel zu werden. Aber es regnet nicht mehr - jetzt schneit es, und die dicken Flocken tanzen in den Scheinwerferlichtern der Autos. Das sieht schön aus.

Irgendwann fährt der Bus plötzlich viel langsamer. Mehrere Handys klingeln. Die Lehrerin geht rum und kontrolliert bei uns allen, ob wir richtig angeschnallt sind. Sie ist ganz still dabei und sieht irgendwie ... erschrocken aus? Aber ich bin zu müde, um drüber nachzudenken.
Wir kommen an einer Stelle vorbei, wo ganz viele Polizei und Feuerwehr und so rumstehen. Sogar ein Kran ist da. Leute laufen rum. Mehr kann ich im Vorbeifahren nicht erkennen, weil es jetzt auch schon ganz dunkel ist. Ich freue mich auf zu Hause und auf Onkel Harry und auf mein warmes Bett.

Bei der Schule ist ein großer Parkplatz, wo viele, viele Eltern auf uns warten. Ich ziehe meine Jacke wieder an und verabschiede mich schon mal von So-Ra. Ich bin noch nicht ganz raus aus dem Bus, da steht plötzlich Onkel Harry vor mir, nimmt mich schnell und feste in die Arme und sagt immer wieder: "Gott sei Dank!" Ich verstehe aber nicht warum. Ich freu mich ja auch, aber so?

Auf der Heimfahrt sind wir beide ganz still. Irgendwie fühlt sich das so komisch an. Ich sag lieber nichts dazu, mein Mund ist nämlich auch müde.
Zu Hause nimmt Onkel Harry mir den Mantel ab und hängt ihn in die Garderobe. Er kocht, ich decke den Tisch, wir essen. Die ganze Zeit ist diese komische Stimmung. Es fühlt sich an, als ob in mir drin ein grauer Klumpen Kleister wächst und wächst und immer dicker und pappiger wird. Es drückt überall. Ich kann auch gar nicht viel essen, weil daneben kein Platz mehr ist im Bauch.

Morgen ist Samstag. Deshalb nimmt sich Onkel Harry heute Abend ganz viel Zeit zum Kuscheln und Erzählen. Irgendwann fallen mir vor Müdigkeit fast die Augen zu, und ich krieche freiwillig in mein Bett.
Da fängt Onkel Harry plötzlich an zu weinen und hält mich ganz, ganz fest. Vor Schreck weine ich mit, auch wenn ich gar nicht weiß warum. Hab ich was falsch gemacht? Hab ich ihn irgendwie geärgert? Ich kann es nicht rausfinden. Es dauert gaaanz lange, bis wir aufhören zu weinen.

"Ach, Nelli, ich bin sooo froh, dass du gesund und munter bei mir bist. Noch einmal hätte ich das nicht ertragen."
Ich verstehe gar nichts mehr.
"Was denn? Weinst du wegen mir?"
Onkel Harry schüttelt den Kopf.
"Oh nein, Liebling. Du hast nichts falsch gemacht. Ich bin nur so erleichtert und so glücklich, dass dir nichts passiert ist."
"Aber was soll mir denn passieren?"

Der Onkel überlegt. Ich weiß das, weil er dann immer durch mich durchkuckt. Das sieht lustig aus. Nur heute Abend ist es nicht lustig.
"Pass auf, ich versuche, es dir zu erklären. Als ihr heute morgen losgefahren seid, hat es doch geregnet. Heute Mittag ist es dann noch viel kälter geworden, so dass der Regen auf den Straßen gefroren ist. Aus den Regentropfen sind Schneeflocken geworden, die das Eis verdeckt haben. Eure Schulbusse sind nicht gleichzeitig zurückgefahren. Ein Bus ist früher gestartet und viel zu schnell gefahren. Und auf einer Brücke..."

Wieder drückt er mich ganz fest. Das ist richtig unheimlich.
"... wir Eltern haben nur erfahren, DASS ein Bus verunglückt ist. Nicht, welche Klassen da drin gesessen haben. Ich bin sooo froh, dass du in einem anderen Bus gesessen hast."
"Was ist denn mit den Kindern?"
"Manche ... leben nicht mehr. ... Der Bus ist auf dem Eis gerutscht und von der Brücke gestürzt."
Onkel Harry hat eine ganz wackelige Stimme, als er das sagt. Ich verstehe das nicht richtig. Aber der Kleisterknubbel in meinem Bauch - der wächst schon wieder.

"Ich hab dich so sehr lieb. Verstehst du?"
"Ich hab dich auch lieb. Du bist der beste Onkel der Welt."
"Dann schlaf jetzt, Liebling."
Onkel Harry macht das Licht aus und setzt sich in dem einzelnen Lichtstrahl von der angelehnten Zimmertür auf meine Bettkante. Er streichelt mir über den Kopf und summt mein Lieblingslied "weil ich Jesu Schäflein bin". Da fällt mir plötzlich etwas auf.

"Onkel Harry?"
"Ja? Ich dachte, du schläfst schon."
"Warum hast du vorhin gesagt 'noch einmal' ?"
Onkel Harry erschrickt und ist seltsam still. Aber dann antwortet er mir doch.
"Weißt du das nicht mehr? Deine Eltern sind auch auf Glatteis verunglückt. Seitdem bist du bei mir. Wir zwei haben es schön miteinander, und ich liebe dich wirklich sehr. Du bist der wertvollste Mensch in meinem Leben. Aber deine Mami und deinen Pappi vermisse ich. Sie fehlen mir. Uns."
"Mir auch. Auch wenn ich mich kaum noch erinnern kann."
...

"Es ist gut, dass mir heute nichts passiert ist. Ich kann dich doch nicht alleine lassen."
"Oh ja, das ist wirklich gut. Ich brauche doch meine fröhliche Nelli-Maus bei mir."

................

Nur mühsam realisiere ich meine Umwelt, die seltsamen Sitze, das laute Brummen. Eine Durchsage hat mich geweckt. Ich habe wohl geschlafen und muss mich erstmal orientieren. Ich sitze in ... einem Flugzeug. Neben mir sitzt zum Glück So-Ra. Aber es ist auffällig, wie besorgt sie mich ansieht. Mal wieder.
"Alles in Ordnung, Nelli? Du warst mal wieder ganz weit weg. Du hast nicht mal mitgekriegt, dass die Stewardess dich angeschnallt hat."
"Ich ... wir waren neun Jahre alt. Oder so. Kannst du dich an den Ausflug zur Lotte World erinnern?"
"Du meinst den, wo ein Bus mit zwei Klassen von der Autobahnbrücke gestürzt ist? Erinnere mich nicht daran!"
"Ein Bus ist was?"
"Es war Winter, es war Glatteis, und darum ist einer der Schulbusse auf einer Brücke weggerutscht und mit Karacho durchs Geländer gebrochen. Das ... haben nicht alle überlebt. Das war richtig furchtbar."

"Hm. Sowas hat Onkel Harry eben auch gesagt. Und er hat ganz viel geweint und mich dauernd in die Arme genommen."
"Onkel Ha...? Ach so. Du warst eben wieder in der Vergangenheit. Und ausgerechnet an diesem entsetzlichen Unglückstag. Was erinnerst du noch?"
"Er hat immer wieder gesagt:'nicht nochmal, ich hab dich lieb' und sowas."

In diesem Augenblick setzen wir auf der Landebahn auf. Mein Gleichgewichtssinn spielt mir wohl einen Streich, denn für ein paar Sekunden fühlt es sich an, als ob wir über eine Eisfläche rutschen. Dann greifen die Bremsen, und wir kommen bald zum Stehen.
Bei diesem unangenehmen Rutschgefühl halte ich die Luft an. Und auf einmal weiß ich, warum ich diesmal die Zeitreise gemacht habe.
"Uff. Alles klar. In Frankfurt vorhin hat es genau so geschneit wie damals. Für mich hat es sich auch kurz angefühlt, als ob das ganze Flugzeug schlittert. Und dasselbe habe ich hier eben nochmal gefühlt. Ein fieses Gefühl."

Meine Freundin sieht mich fragend an, während der Flieger über das Rollfeld zu unserem Gate rumpelt.
"Hast du dich bei dieser Zeitreise mit deinem Onkel unterhalten? Oder ist dir irgendwas aufgefallen? Mist, wir müssen raus. Merk dir meine Frage und deine Antwort."
Leichter gesagt als getan. Im ganzen Flieger bricht Hektik und Gewusel aus. Die Klappen der Oberschränke springen knackend auf, alle versuchen, in den Gängen zu stehen und ihre Sachen zusammenzusuchen. Geschnatter, "wo ist ..., ich kann nicht finden ...", wedelnde Jackenärmel, schwingende Rucksäcke, gefährlich sorglos baumelnde Regenschirme. Wir bleiben einfach sitzen und warten ab, hier ist viel zu wenig Platz und viel zu viel Durcheinander. Ich konzentriere mich lieber auf das Gespräch, damit ich nichts davon vergesse.

Wir beschließen, uns ein Taxi zu gönnen. Wir sind beide viel zu müde, um uns jetzt noch irgendwie mit Öffentlichen durchzuschlagen. Als die Wohnungstür hinter uns zugeht, atmen wir auf, und lassen alles Gepäck fallen. Auf der Kommode neben der Garderobe begrüßt uns eine Vase mit Tannenzweigen. Liebevoll sind ein paar Strohsterne daran gehängt worden. Durch die offene Tür kann ich sehen, dass auf dem Esstisch sogar ein kleiner Kranz mit vier roten Kerzen und weiteren Strohsternen steht. Es fühlt sich an wie Zuhause. Dabei bin ich erst zum dritten Mal hier. Aber meiner Nachbarin ist es offensichtlich wichtig, dass ich hier nicht nur ein paar Tage durchschleiche und dann wieder verschwinde. Sie möchte, dass ich mich wohl, willkommen und heimisch fühle.
Wie gut, dass ich diesmal an ein Mitbringsel gedacht habe!

So-Ra gähnt hingebungsvoll.
"Schatzi? Bitte nur noch Bad und Bett. Geht das?"
"Klar geht das."
Da ich mich inzwischen in der Wohnung gut orientieren kann, zeige ich meiner Freundin schnell alles Nötige. Dann schreibe ich mir die Fragen aus dem Flieger auf. Wir huschen einmal durchs Bad, ich stelle fest, dass Frau Blumenthal uns noch reichlich den Kühlschrank gefüllt hat - zu mehr bin ich auch nicht in der Lage.

Eine Viertelstunde später liegen wir beide im Bett. So-Ra fragt mich nach meinem Zeitsprung vorhin im Flieger, aber ich habe noch nicht ganz angefangen, da ist sie neben mir schon tief und fest eingeschlafen.
Ich schließe auch meine Augen. Aber mein Kopf ist plötzlich wieder ganz wach.
Es schneit. Und Onkel Harry hält mich ganz fest im Arm.

........................
6.5.2023    -    26.3.2024

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