63 - Advent in Berlin

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Wir haben beschlossen, uns keinen Wecker zu stellen. Unser Zeitgefühl ist sowieso total über den Haufen, und in einer Woche gehts schon wieder retour. Nur der Termin beim Anwalt am Montag Mittag, da sollten wir pünktlich sein.

Wir wachen ziemlich früh von alleine auf. Es ist noch dunkel draußen, aber der Schnee im großen Innenhof reflektiert das Mondlicht und verzaubert diese kleine Welt. Es sieht sehr romantisch aus. In Decken gekuschelt, mit Kaffeetassen in der Hand sitzen wir im dunklen Wintergarten und warten auf den Tag.
"So, meine Liebe. Dann erzähl mir doch mal, wie typische deutsche Weihnachten funktionieren."
Ich muss lächeln.
Diese Frage ist so typisch!

"Weihnachten ist ganz viel. Das ist das christliche Fest der Freude über die Geburt des Erlösers. Es ist ein familiär geprägtes Fest, ein bisschen so wie bei uns Chuseok. Es ist inzwischen sehr kommerzialisiert, weil viele Menschen keinen Bezug mehr haben zur religiösen Bedeutung. Der Advent vorher ist ursprünglich eine Zeit der inneren Vorbereitung darauf, aber das weiß nahezu niemand mehr. Die vielen Bräuche und Symbole rund um die Geschichte haben sich aber gehalten. Lichter, Sterne und Kerzen. Adventskranz und -Kalender. Engel, Krippen, Tannengrün, Kekse backen, Lieder singen, Weihnachtsschmuck aus Stroh, Kugeln, Aufregung und Geheimniskrämerei. Und in fast jeder Stadt gibt es einen Weihnachtsmarkt."

"Ich bin gespannt, ob es da so aussieht wie bei unseren Märkten."
"Hm. Wir können ja versuchen rauszufinden, wo hier ein Weihnachtsmarkt ist."
Nur eine Viertelstunde später stellen wir fest: im Großraum Berlin gibt es zwanzig große Märkte und in dreiundzwanzig Stadtteilen jeweils mehrere lokale Veranstaltungen. Und da ist von Kunst bis Kitsch und von Mittelalter bis englisch, japanisch oder einfach Lichterspektakel alles dabei. Allein hier in Charlottenburg gibt es fünf Märkte.

"Das schaffen wir aber nicht alles in einer Woche!"
"Naja - ich vermute, dass ein kommerzialisierter Markt uns völlig ausreicht. Bei den kleinen, traditionellen oder themenbezogenen Märkten gibt es wahrscheinlich viel mehr zu entdecken."
"Na, dann los!"
"Ganz ruhig, Brauner. Diese Märkte öffnen in der Regel nicht vor 14.00 Uhr ihre Stände. Wir haben alle Zeit der Welt, hier anzukommen, die Wohnung zu erobern und durch diesen Stadtteil zu bummeln."

Draußen bricht die Morgendämmerung herein, drinnen machen wir es uns gemütlich. Wir frühstücken mit Adventskranz, So-Ra streift durch die Wohnung und findet Dinge, an die sie sich erinnern kann.
"Ach, kuck! Die ganzen Fotos auf dem Kaminsims. Er hat sie wirklich in Ehren gehalten. ... Es ist mir völlig schleierhaft, wie du vermuten kannst, dein Onkel hätte an dir nur seine Pflicht erfüllt."
Ich gehe nicht auf den letzten Satz ein.
"Im März haben mich diese Familienfotos fast umgebracht. Ich weiß nicht, WIE lange ich kein Foto von meinen Eltern mehr in der Hand hatte. Inzwischen kann ich das gut aushalten. Deshalb hab ich sie stehen lassen."
"Das Graduationfoto von uns. Den Tag werde ich nie vergessen! Da sind wir das letzte Mal auf die Garage vom Hausmeister geklettert. Erinnerst du dich?"
Abrupt drehe ich mich um, als wäre ich ferngesteuert.
"Nur ungern."

Sofort verlasse ich den Raum.
Wie euphorisch ich war, als ich am nächsten Morgen beim Frühstück verkündet habe, wie ich mir die nächsten Jahre meines Lebens vorstelle. Wie sehr habe ich mich selbst belogen! Um aus der Komfortzone zu kommen und sich selbst zu reflektieren, braucht es schon etwas mehr als eine Reise nach Amerika und ein Mathe-Studium. Ich bin ausgezogen, habe studiert - und alles blieb genau so wie vorher.
Heute weiß ich: Ich konnte gar nicht an mich selbst rankommen, weil ich schon als Kind alles in mir getötet hatte, was mich zu der gemacht hatte, die ich damals war. Heute bin? Keine Ahnung! Der versteckte Schmerz in mir, die unbewussten Schuldgefühle haben nachhaltig die Entwicklung meines Wesens beeinflusst. Und ich werde niemals erfahren, wer ich heute wäre, wäre nach dem Unfall ... irgendwas anders gelaufen.

"Nelli? Alles in Ordnung?"
Die Tränen schießen mir aus den Augen.
"Nelli, wo läufst du hin?"
Ich taumele über den Flur, nur weg, stoße gegen einen Türrahmen und rutsche an der Wand runter. Ich schließe erschöpft die Augen.
"Nelli, bitte rede mit mir. Was hat dich grade so getriggert?"
So-Ra hockt sich neben mich und nimmt mich sehr fest in die Arme.
"Ach, Süße. Hilf mir, dass ich dir helfen kann."
Sie soll weiter reden! Ich will jetzt nicht switchen.
Mein Körper fühlt sich taub an.
Bloß nicht!
Ich zwinge mich zu reden, meine Stimme ist leise und kratzig.
"Bitte! Weiter reden. Brauche ... deine Stimme gegen ..."
"... gegen den Zeitsprung. Natürlich. So lange du willst. Mach die Augen auf und sieh mich an. Nelli!"

Mühsam zwinge ich mich, die Augen zu öffnen.
"Schau mich an. Du atmest falsch. Atme mit mir. Nelli? Atmen."
Es dauert eine Weile, bis ich mich aufs Aus- und Einatmen konzentrieren kann. Nach und nach verschwindet das taube Gefühl aus meinem Körper, mein deutlich fühlbarer Puls normalisiert sich, ich spüre den Boden unter mir und die Wand hinter mir.
"So, meine Liebe, aufauf. Keine Widerrede, du musst in die Gänge kommen. Wo kannst du dich jetzt wohl und sicher fühlen?"
"Zu Hause. Auf meinem Balkon."
"Den haben wir hier nicht. Wo in Berlin gibt es einen Wohlfühlort für dich? Zeig ihn mir. Jetzt!"

Ich will auf meinen Balkon! Hoch oben, wo mich keiner sieht. Weit weg von allem.
"Hoch. ... Der ... Baum."
"Ist es weit bis dahin? Lass uns zu dem Baum gehen."
Keine Ahnung, ob ich es bis dahin schaffe, aber ich muss es versuchen.
Mit Hilfe meiner tapferen Freundin stehe ich zittrig auf und wende mich zur Garderobe. Wir packen uns so warm ein, wie es unser kleines Gepäck möglich macht.

"Wenn wir auf einen Baum klettern ... Lass uns Kissen und Decken mitnehmen."
So-Ra kramt im Garderobenschrank, bis sie zwei große Einkaufstaschen gefunden hat und die im Wohnzimmer mit allem möglichen füllt. Ich lehne an der Wohnungstür, schon vom Aufstehen völlig erschöpft. Wir hängen uns die großen, aber ganz leichten Taschen um und gehen runter auf die Straße. Für mich fühlt es sich so mühsam an wie der Abstieg von einem Achttausender.

Frische Luft und ein leichter Wind begrüßen uns. Ich atme tief durch. Das weckt meine Lebensgeister. Ich führe So-Ra auf dem nun schon vertrauten Weg zum Schloss Charlottenburg. Meine Besti ist ganz beeindruckt von all den geschmückten Läden und Fenstern. Sie zeigt auf alles Ungewohnte, das sie entdeckt, und fragt mir Löcher in den Bauch. Um alles beantworten zu können, muss ich mich konzentrieren. Das vertreibt die Schrecken. So-Ras Freude steckt mich allmählich an.
Mal sehen, was sie zu dem riesigen Schloss sagt.
Wie bei Namjoon nähern wir uns dem Schloss so, dass es plötzlich in ganzer Pracht und Länge vor uns liegt. Dazu kommen heute noch der Schnee, der jetzt noch stille Weihnachtsmarkt und die zahllosen Lichter in den Bäumen, an den Hütten und der imposanten Fassade.

"Was ist DAS denn? Wow!"
Ich muss kichern und spüre echte Erleichterung, dass das wieder geht.
"Diese bescheidene Hütte ..."
"... bescheiden. Hütte ... Da passt doch halb Berlin rein!"
"... ist die Sommerresidenz einer Fürstin. Mit ihrem Hofstaat natürlich."
"Einer. Fürstin. Och, wenns weiter nichts ist. Dagegen ist deine Villa ja nur eine popelige Hundehütte."
"Aber meine Hundehütte."
Wir lachen und steuern dann über die Straße auf den Weihnachtsmarkt zu. Noch sind die Hütten geschlossen, die Musik vom Band ist stumm. Ich orientiere mich zwischen den Buden, wo es hier langgeht zum Park und zu 'meinem' Baum.

Schnell weiß ich wieder, wo ich bin, und lenke unsere Schritte auf dem kürzesten Weg um das Schloss herum. Wir erhaschen sogar ein paar Sonnenstrahlen, während wir durch die verschneite Parklandschaft schlendern. An der einen Seite wird der Park von der Spree gesäumt. Ein Teil des Wassers ist irgendwann mal so umgeleitet worden, dass ein großer Teich mit drei Inseln entstanden ist.
"Schau mal da schräg über den See. Der Baum hat grade keine Blätter, aber er sieht auch so riesig aus."
Auf verschlungenen Wegen schlendern wir um das stille Wasser und über eine Brücke auf die mittlere Insel. Dort stehen wir schließlich vor meinem "Versteck". Ohne das Laub kann man den breiten, bequemen Ast natürlich sehen. Aber das hält uns nicht davon ab, raufzuklettern und es uns mit Kissen und Decken ein bisschen gemütlich zu machen.

Intuitiv halten wir beide den Mund und lauschen. Über uns zetert eine Amsel, die wir wohl gestört haben. In einem Gebüsch in der Nähe zwitschern Vögel. Unter uns paddeln verschiedene Enten mit ganz leisem Gluckern durchs Uferschilf. Ein paar Schwäne stolzieren über die erste Insel uns gegenüber. Unter uns hören wir ab und zu Schritte im Kies, das Klirren einer Hundeleine, ein Kommando für einen Hund. Aber keiner schaut zu uns rauf. Wir sind hier weithin sichtbar und trotzdem ganz ungestört.

"Nelli?"
"Hm?"
Keine Ahnung, wo ich grade in Gedanken war - ziemlich weit weg.
"Du wirkst auf mich jetzt wieder stabil und wach. Magst du mir erzählen, was vorhin los war?"
"Hm. ... Die ... Garage. Unser Gespräch damals. Was ich aus meinem Leben machen will. Ich empfinde es heute als sehr beschämend, dass ich damals geglaubt habe, eine Reise und irgendein Studium wären die Antwort. Ich habe mich selbst und Onkel Harry belogen. Ich habe nie wirklich ernsthaft nach mir, nach meinem Wesen, meinen Talenten, Zielen gesucht. Ich habe mich einfach an dich dran gehängt und mich immer weiter treiben lassen. Ich habe also genau das getan, was mein Onkel in seiner Weisheit verhindern wollte."

So-Ra sieht irritiert aus.
"Süße, du warst siebzehn. Ja, ich auch, und ich wusste genau, was ich wollte. Aber viele andere nicht. Du hast schon immer dein eigenes Tempo gehabt. Du hast ja nicht nichts entschieden. Du hast damals auf dieser Garage beschlossen, dir Zeit zu lassen. Und du hast einen sinnvollen Schritt gewählt, die nähere Zukunft zu gestalten."
"Ja. Irgendwie. Oder so. Aber ... Warum dauert bei mir immer alles so scheiß lange? Kann ich nicht mal etwas gleich kapieren?"

"Oje. Hör gleich wieder auf damit. Immer, alles und nie ist Blödsinn. Ich finde dein persönliches Timing gar nicht sooo schlecht. Bei den Jungs in der Villa hast du die einzige Chance ergriffen und sofort eine Entscheidung gefällt. Bei Namjoon hast du deinem Bauch gehorcht und dich sofort drauf eingelassen. Und beides war so richtig und gut. Als es darum ging, Vertrauen aufzubauen, hattest du dann alle Zeit der Welt und unendlich viel Geduld. Inzwischen haben sich alle außer Jimin dir anvertraut. Es hat sich also ausgezahlt. Du brauchst nicht irgendein optimales Timing. Du brauchst mehr Selbstvertrauen in dein Timing."

Sie hat ja recht. Oder so. Wenn ich danach nur nicht Onkel Harry so vernachlässigt hätte!
"Nelli? Ich sehe es dir auf die Stirn geschrieben. Wegen irgendwas hast du schon wieder ein schlechtes Gewissen."
"Hm. Das Übliche. ... Ich frage mich, was ich damals hätte anders machen können. Ich wusste doch all das nicht, was ich jetzt weiß. Ich hatte keine Ahnung, wer oder was in mir schlummert. Wie soll man daraus einen erfüllenden Beruf machen?"
"Gut, dass du dir selbst die Antwort gibst. Du warst so gründlich abgeschnitten von deiner Kindheit, deinen Schuldgefühlen und deinem Wesen tief drinnen - da konntest du noch keine Erkenntnisse haben und Entscheidungen fällen, wie du es heute kannst. Die Zeit, die Erbschaft, das Leben selbst hat dich auf den Weg zu dir selbst geführt. Du bist doch jetzt unterwegs. Du füllst dein Leben mit etwas Großartigem. Du beschenkst die Menschen um dich herum mit deiner kompromisslosen Wertschätzung, deiner engelsgleichen Geduld, deiner Kreativität, deiner Fähigkeit, außerhalb der Norm zu denken und mit so viel mehr. Wen interessiert, was du vor 15 Jahren gedacht, gefühlt oder geplant hast. Heute hast du es verstanden und machst so viel daraus."

Ich seufze einmal tief. Meine Stimme ist ganz leise und zaghaft.
"Ich würde viel darum geben, wenn all das Furchtbare nicht geschehen wäre. Ich wüsste so gerne, wer ich dann heute wäre."
"Du wärst jedenfalls nicht die tolle, großzügige, herzensgute und humorvolle Nelli, die wir alle so lieben. Du wärst irgendjemand. Und nicht du selbst. Süße, du kannst die Zeit nicht zurückdrehen und eine andere werden. Die Grübelei darüber ist pure Zeitverschwendung. Du kannst dich mit der anfreunden, die du heute bist."
Mich mit der anfreunden, die ich heute bin. Kämpfe ich so sehr gegen mich selbst? Es ist schon jetzt viel zu viel zum Sortieren, und morgen setzt das Leben bei dem Anwalt mit was auch immer gleich noch eins drauf. Keine Ahnung, wer ich DANACH dann bin.

"Ich fühle mich wie ein Haufen Puzzlestücke, die nicht zueinander passen. Mir fehlen noch so viele Teile, damit ich ... oh. ... Ich ... kann es sein, dass ich jetzt diese Flashbacks habe, damit ich das Puzzle vervollständigen und zu EINER zusammenwachsen kann?"
So-Ra lächelt.
"Der Gedanke ist schön. Der Weg dahin ist anstrengend und beängstigend. Aber die Idee, dass deine Seele damit frei gibt, was sie damals abgeschnitten hat, damit du wieder ein heiles Ganzes werden kannst - die gefällt mir."
Hat So-Ra recht? Ist das der Grund für all das, was da grade über mich hereinbricht? Dass die Erbschaft, die Villa, die Jungs, die Stiftung den Bodensatz meiner Seele aufgewühlt haben und deswegen jetzt alles ans Licht kommt?
"Keine Ahnung. Aber es ist zumindest ein Ansatz."
"Na, du klingst ja begeistert."

Mein Magen knurrt.
"Entschuldige. Ich bin müde und hungrig und ... ich bin vorsichtig geworden, was neue Erkenntnisse angeht. Ist es in Ordnung, wenn ich mich später freue?"
"Spinner! Komm, lass uns irgendwo was essen gehen, damit du hier nicht entkräftet vom Baum fällst."
Wir krabbeln also vom Baum, packen Decken und Kissen wieder ein und machen uns auf den Heimweg. Zwischen den Buden des Weihnachtsmarktes stehen jetzt mehrere Autos, Händler legen Waren nach, verschwinden wieder. Die ersten Fressbuden heizen schon ein, damit sie später dem Ansturm gewachsen sind.

Auf dem Heimweg kommen wir an einem indischen Restaurant vorbei und entscheiden spontan, dass wir das mal ausprobieren wollen. Wir schieben die großen Taschen unter den Tisch und stöbern uns durch die umfangreiche Speisenkarte. Im Grunde ist es aber Kühlschrankroulett. Wir bestellen einfach drauflos und probieren uns durch. Während wir aufs Essen warten, wärmen wir unsere Hände an der Heizung. Die Aromen in der warmen Luft dieses gemütlichen Restaurants sind die reinste Reizüberflutung. Mein Magen knurrt schon wieder. Kurz darauf werden mehrere Schalen und Schüsseln zwischen uns gestellt. Wir zögern nicht. Es sieht einfach zu köstlich aus. Und es schmeckt himmlisch.

Irgendwann halten wir uns nur noch satt und zufrieden die Bäuche. Trägheit macht sich breit, denn für unsere Körper ist es ja nun bereits Abend. In die Stille hinein brummt mein Handy. Es ist Namjoon.

"Hallo, meine Liebe! Seid Ihr gut angekommen? Ich denke ganz viel an Dich!"
"Ja, Schatz! Auf dem Flug hat alles geklappt. Wir waren vorhin im Park auf meinem Baum, eingemummelt in Decken. Im Moment sitzen wir satt und faul beim Inder. Und nachher gehen wir auf den Weihnachtsmarkt am Schloss."
"Ist der Markt genau so lang wie das Schloss? Dann habt Ihr Euch aber was vorgenommen!"
"Neee. Der Markt ist auf dem Platz vor dem großen Eingangsportal. Ist aber auch schon ziemlich groß."
"Na, dann viel Spaß! Wir denken morgen alle an Dich und wünschen Dir nur schöne Überraschungen. Ich liebe Dich!"
"Gute Nacht, Joonie"
"Gute Nacht, mein Herz!"

So-Ra grinst mich über den abgegessenen Tisch hinweg an.
"Lass mich raten. So verträumt, wie du grade dein Handy angehimmelt hast, war das Namjoon."
"Exakt. Er geht jetzt ins Bett. ... Und mein Biorhythmus würde sich gerne dazulegen. Wir sollten die Decken nach Hause bringen und dann den Weihnachtsmarkt stürmen, bevor uns hier gleich die Köpfe in die Schüsseln kippen vor lauter Müdigkeit."
G

esagt, getan. Wir bezahlen, befreien uns in der Wohnung von unserem Gepäck und ziehen los, als es draußen dämmrig wird.

Wir sind ja vorhin hier schon mittendurch gelaufen, als noch alles still und leer war. Aber So-Ra bekommt auch diesmal vor lauter Staunen den Mund kaum zu. Es sieht zu lustig aus, wie sie sich wie ein Brummkreisel um sich selbst dreht, um alles auf einmal zu erfassen. Auch für mich ist das ja der erste Winter in Berlin. Aber mit den Bildern und Erzählungen von früher fällt es mir erheblich leichter, das alles normal zu finden. Jedes Mal, wenn ich hier bin, spüre ich eine Verbundenheit mit dieser Stadt. Ich kann das weder benennen noch beschreiben. Ich fühle mich weder menschlich noch kulturell fremd hier. Berlin, Deutschland fühlt sich an wie ein Teil von mir.

Das Gesamtpaket aus Licht und Farben, Holzhütten und Weihnachtsliedern, den Gerüchen nach Zimt und Glühwein und Kälte und guter Stimmung überfordert So-Ra offenbar völlig.
"Uff! Lass uns an den Rand gehen und das erstmal verdauen!"
Ich lotse sie aus dem Gewühl. Der Lärm wird allmählich leiser hinter uns, bis wir die Hütten zwar noch sehen aber den Lärm kaum noch hören können.
"Seit wann bist du so schnell umzupusten, Besti?"
"Keine Ahnung. Mir wars vielleicht auch einfach zu voll. Ich kann da jetzt auch wieder hin, denn ich mag schon sehen, was es da so alles gibt. Aber langsamer."
"Hey - langsam ist mein Job!"

Wir schlendern zurück, und ich erzähle meiner Freundin dabei alles, was ich über Weihnachtskrippen und sonstiges traditionelles Kunsthandwerk weiß. Plötzlich habe ich eine Idee und strebe auf einen Stand zu, der einiges Zubehör für solche Krippen anbietet.
"Hoseok hat im Keller der Villa die Krippenfiguren gerettet, die bei Harry und meiner Mutter unterm Baum standen, als die noch Kinder waren. Vielleicht finde ich hier etwas Zubehör, damit ich die Figuren zu Hause schön aufstellen kann."

Wir stöbern in der Auslage. Eine Dame vom Stand erklärt mir, dass die Tradition schon sehr alt ist und vor allem aus den Ländern in den Alpen stammt. Entsprechend ärmlich, dörflich und bäuerlich wirken die kleinen Szenerien. Ich versuche, mich zu erinnern, welche Größe meine alten Figuren haben. Dann fällt mir auf, dass ich so einen großen Gegenstand wie ein Krippenhäuschen gar nicht ordentlich transportieren kann. Die Dame überlegt.
"Warten Sie, vielleicht geht das. Sie zieht einen flachen Karton unter dem Tisch hervor und öffnet ihn.

"Schaun Sie mal. Dieses Haus ist noch nicht montiert. Da ist die Bodenplatte, hier die Wände, das Dach. Das sind Steckverbindungen, die Sie zusätzlich leimen können. Und so bekommen Sie das leichter in Ihr Gepäck."
Ich zögere nicht lange, wähle dazu noch ein paar Zäune und einen kleinen Ziehbrunnen und lasse mir alles gut verpacken. So-Ra legt mit einem Augenzwinkern einen winzigen Besen, einen Holzhackklotz und eine batteriebetriebene Stalllaterne dazu. So spontan die Idee war, so glücklich bin ich mit diesen Schätzen.

So-Ra findet sich allmählich rein in die Atmosphäre und das Angebot. Sie versteht, dass die Deutschen durchaus kitschig und glitzerig und überladen dekorieren können, dass die Mehrheit es aber schlicht und traditionell bevorzugt.
"Schau mal, die Sterne, die sind ja zauberhaft."
Staunend stöbert sie in mehreren Kästchen mit Sternen aus ...
"Ist das da echtes Stroh?"
Ich übersetze schnell die Frage.
"Ja, meine Dame, diese Sterne sind aus Stroh. Und daneben finden Sie einige aus Papier. Das ist alles Handarbeit."
Meine Besti kann sich erst nicht satt sehen, dann kann sie sich nicht entscheiden. Außerdem fallen ihr schlagartig ganz viele Menschen ein, für die das ein ideales Mitbringsel wäre. Jetzt hat auch sie ein Transportproblem. Aber das werden wir schon noch gelöst kriegen.

Der Rückweg dauert etwas länger, weil wir inzwischen richtig müde sind. Es fängt an zu schneien, die ganze Welt wird in glitzerndes Eis gehüllt. So-Ra schaut nach oben und erinnert sich plötzlich.
"Äh. Wie waren gestern kurz vor Berlin noch die zwei Fragen? ... Ja, genau. Hast du dich mit deinem Onkel unterhalten? Und: ist dir irgendwas besonderes aufgefallen?"
Schnell mache ich den Gedankensprung mit.
"Ja, wir haben uns richtig unterhalten. Als er mich an dem Abend ins Bett gebracht hat. Wir haben über den Busunfall geredet. Er hat geweint. Und er hat ... gesagt:'nochmal halte ich das nicht aus!' Das musste er mir dann erklären."

Ich schließe die Haustür auf, wir steigen die alten, knarzenden Treppen hoch, und So-Ra lächelt die ganze Zeit vor sich hin. Kaum sind wir in der Wohnung, und unsere Jacken hängen an der Garderobe, nimmt sie mich, immer noch lächelnd, in die Arme.
"Hast du allen Ernstes geglaubt, dass dein Onkel dich nur aus Pflichtgefühl großgezogen hat? Ich glaube dir vollkommen, dass du in deiner momentanen Verunsicherung an allem zweifelst. Das dürfte normal sein. Aber eins ist so sicher wie Weihnachten im Dezember: dein Onkel hat dich wirklich, wirklich, wirklich geliebt, von ganzem Herzen geliebt."

Ich sage gar nichts dazu. Der Kopf weiß das ja. Aber die Angst funkt immer dazwischen. Die Angst, in diesem ganz persönlichen Tagebuch könnte irgendwas stehen, was mir das Gegenteil beweist. Ein Hinweis auf meinen Anteil an der Schuld. Irgendein 'hätte, könnte, wenn doch nur ...'.
"Süße - könntest du bitte mit mir reden, statt heulend in den Wintergarten zu rennen?"
Örks. Krieg ich denn gar nicht mehr mit, was ich grade tue? So unberechenbar, wie diese Aussetzer sind - so kann ich nicht arbeiten, nicht Auto fahren, nicht mal alleine das Haus verlassen!

"Entschuldige. Ich habs mal wieder nicht mitgekriegt. Ich ... mir ist grade wieder eingefallen, was wir morgen tun werden. Ich habe große Angst vor diesem neuen Puzzlestein."
"Dann lass uns jetzt ins Bett gehen, damit du bald schläfst. Und du weißt, dass ich dich morgen und in den nächsten Tagen ganz bestimmt keinen einzigen Schritt alleine lassen werde."
Es wird eine unruhige Nacht, kombiniert mit dem Jetlag eher eine suboptimale Mischung. Aber So-Ra ist bedingungslos für mich da, wie sie es versprochen hat. Wie sie es schon immer für mich war. Mit Geduld erinnert sie mich immer wieder an alle schönen Momente der letzten Tage und schafft es, dass ich doch wieder einschlafe.

........................
13.5.2023    -    26.3.2024

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