64 - das Tagebuch

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So-Ra geht sehr offen mit mir und meinen Flashbacks um. Sie eiert nicht drumrum oder wartet ab. Sie packt wie gewohnt den Stier bei den Hörnern und geht drauflos. Und so wird die Nacht trotz Unterbrechungen erträglich. Als wir viel zu früh endgültig wach werden, macht sie leise Musik an und nimmt mich in die Arme.
"So, Schatzi. Jetzt kuscheln wir noch eine Weile wie verliebte Teenies. Wenn dir Gedanken kommen, sprich sie aus, niemand treibt uns."
Kuscheln wie verliebte Teenies. Stimmt, das haben wir zu Schulzeiten ganz oft gemacht - Jungs durchgeratscht und gekuschelt, Idols angehimmelt und gekuschelt, Vokabeln geübt und gekuschelt, vor Prüfungen auf dem Schulflur gehockt und gekuschelt.
Ich muss kichern.
"Uns war sooo egal, was irgendjemand gedacht oder gesagt hat. Wir hatten uns. Wir waren niemals allein."

"Ganz genau, Sweetie. Jedesmal, wenn ich ach sooo unsterblich und natürlich unerwidert verliebt war, hast du mich getröstet, wenn ich zum Rasenmähen verdonnert wurde, hast du mir geholfen, wenn ich mir die Vokabeln nicht merken konnte, hast du mit mir geübt, wenn ich zum Zahnarzt musste, hast du Händchen gehalten."
"Schätzchen - wann habe ich dir das letzte Mal gesagt, dass du fröhlich, motivierend, anpackend, ehrlich, freigeistig, 100% loyal und überhaupt die wundervollste Frau und Freundin in meinem Leben bist?"

Plötzlich liegt So-Ra ganz still. Ich höre nur ihren Atem und spüre ihre Nähe. Ich überlege, was jetzt in ihrem Kopf vorgeht. Ich muss sehr gut die Ohren spitzen, um schließlich ihre geflüsterte Antwort zu verstehen.
"Schon ganz oft. Aber es ist jedesmal so schön wie beim ersten Mal."
Wieder herrscht Stille.
Was hat sie grade gesagt? Ähm. Cringe ...
Ich drehe mich langsam um. In dem Moment, wo wir uns ins Gesicht sehen können, brechen wir in schallendes Gelächter aus. Und dann sagen wir gleichzeitig: "Sei froh, dass Namjoon das nicht gehört hat. Sonst hättest du jetzt ein Problem."

Entspannt und eingealbert stehen wir eine halbe Stunde später auf und beginnen den Tag. So-Ra wundert sich, dass ich am Adventskranz wieder nur zwei Kerzen anmache. Also erkläre ich ihr das Prinzip. Das Frühstück dauert lange, wir suchen uns einen Weg zum nächsten Supermarkt, um den Kühlschrank aufzufüllen. Netterweise gibt es auf dem Weg dorthin eine Drogerie, in der wir sofort ein paar Bilder von meinem Handy ausdrucken können. Also basteln wir an Onkel Harrys Schreibtisch das kleine Album zusammen, zupfen die kleinen Geschenke zurecht und besuchen Frau Blumenthal. Sie freut sich sehr darüber.

Und dann ist es auf einmal Zeit, zur Anwaltskanzlei aufzubrechen. Mir flattern so die Knie und Hände, dass ich kaum das Taxi rufen kann. So-Ra drückt mich auf einen Stuhl, tippt die Nummer ein, die ich ihr zeige, und hält mir das Handy hin, damit ich wirklich nur selbst reden muss. Dann packt sie vorsorglich Taschentücher ein, schließt hinter mir die Wohnungstür ab, lotst mich geduldig die Treppe runter und schiebt mich schließlich auf die Rückbank des Taxis. Die Adresse bekomme ich grade noch so aus dem Kopf zusammen.
Während wir durch den Berliner Montag Morgen Verkehr gefahren werden, versuche ich, meine Atmung unter Kontrolle zu behalten.
Warum versetzt mich dieses unbekannte 'etwas' eigentlich so sehr in helle Panik? Die Flashbacks, Gespräche und Erkenntnisse der letzten Tage sind doch eigentlich nicht mehr zu toppen. Ich bin nicht allein, der Anwalt hat seine Instruktionen, ich bin alt genug, um Stop zu sagen. Ich verstehe mich selbst überhaupt nicht. ... Hm. Vielleicht macht mich genau das so nervös ...

"Du? Hilf mir doch mal bitte sortieren. Faktencheck. Was kann da jetzt passieren? Ich habe selbst ausdrücklich gefragt, ob es noch etwas gibt. Ich habe selbst entschieden, hierherzukommen. Wovor fürchte ich mich so?"
"Gerne. Dein siebenjähriges Ich hat alle Erinnerungen tief in dir vergraben, um dich zu schützen. Dein dreiunddreißigjähriges Ich ist konfrontiert und herausgefordert worden, hat als Reaktion diese Erinnerungen wieder freigegeben und ist noch dabei. Das alles ist unerwartet, verwirrend und kräftezehrend. Aber: bisher sind die einzigen, beängstigenden Erkenntnisse aus dir selbst heraus gekommen. Weder aus den Briefen und Unterlagen noch von meinen Eltern oder irgendwelchen anderen beteiligten Personen war je irgendein Vorwurf zu hören. Die Ängste, Zweifel, Vorwürfe und quälenden Fragen kommen einzig aus dir selbst heraus. Und deshalb sehe ich auch heute keine Gefahr für dich."

Es rattert in meinem Kopf.
Hat sie recht? Ist einzig der Gefühlsbrei in meinem Kopf das Problem? Muss ich jetzt vor allem mich selbst verstehen lernen und ... freilassen? Ist das das richtige Wort? Au Mann, ist das mühsam!
"Du meinst also, dass es vor allem darauf ankommt, was ich aus all dem Neuen mache? Wie ich das interpretiere und in Relation zu mir setze?"
"Es sieht für mich so aus, ja."
Ich horche in mich hinein.
Was regt sich da grade? Das klingt fast wie ein Deja vu. Aber was? Ist es das 'mich selbst freilassen'? An dem Punkt war ich schon öfter. Und was habe ich da dann draus gemacht?

Das Taxi hält vor einem modernen Bürokomplex. Ich bezahle den Fahrer und steige aus. Erstaunlich. Mein Schritt ist fester, meine Atmung freier, mein Kopf klarer. Ich bin ehrlich erleichtert. Ohne diese alles beherrschende Angst gehe ich auf das Gebäude zu, lasse uns vom Pförtner oben ankündigen und steige mit So-Ra in den Fahrstuhl. Meine Besti sieht mich neugierig an.
"Was habe ich eben gesagt, dass du auf einmal so viel stabiler wirkst? Verrätst du es mir?"
"Ganz ehrlich? Ich kann das selbst noch nicht greifen. Ich staune auch. Aber ich wehre mich nicht gegen den Effekt. Ich empfinde grade tatsächlich etwas mehr Ruhe gegenüber dem, was da jetzt auf mich zukommt."
"Das klingt doch sehr gut. Hoffentlich bleibt das gleich so."
"Ich ... es ... Vielleicht beruhigt mich die Tatsache, dass ich alles selbst in der Hand habe? Dass ich gar nicht ausgeliefert bin? Ich hab keine Ahnung warum, aber ich habe grade das Gefühl, als ob eine schwere Decke von mir genommen wird."

Wir werden oben in der Kanzlei freundlich in Empfang genommen und zum Büro meines Anwalts geleitet. Der Mann erhebt sich sofort, kommt uns entgegen, bietet uns Sitzplätze und einen Kaffee an. Aus Rücksicht auf So-Ra reden wir heute koreanisch.
Wie gut, dass in dieser Kanzlei alle mehrsprachig sind!
Onkel Harrys A ... mein Anwalt mustert mich auf merksam, während er Smalltalk macht. Dann sieht er etwas entspannter aus und eröffnet das Gespräch.
"Frau Cho, ich bin sehr froh, dass Sie sich entschlossen haben, noch einmal herzukommen. Sie erfüllen Harry damit seinen letzten bewussten Wunsch. Er hat sich immer gesorgt, was passieren würde, wenn eines Tages ihre Erinnerungen zurückkehren sollten, wenn er schon nicht mehr da ist. Darf ..."

Ich hake ein.
"Sie scheinen meinem Onkel näher gestanden zu haben, als ich bisher vermutet habe. Warum waren Sie dann nicht bei der Beerdigung?"
"Weil ich das Bedürfnis hatte, diese beiden Dinge auseinander zu halten. Ja, ich war ein enger Freund Ihres Onkels. Ich wusste, warum er so schnell nach Ihrem Highschool-Abschluss nach Deutschland zurückgekehrt ist, ich weiß, warum er Sie nicht über seine Demenz informiert und es mir sogar verboten hat. Und ich weiß um all seine Schuld- und Versagensängste, seine nie endende Sehnsucht nach seiner verlorenen Schwester und seine Sorgen um Sie und Ihre empfindlich verletzte Seele. Wenn ... ich das so sagen darf."
Das alles macht mich erstmal sprachlos. Ich habe Mühe zu atmen. Und an So-Ras Befreiungsversuch bemerke ich am Rande, dass ich ihr grade fast die Hand zerquetsche.
"Ich ... das ... eins nach dem anderen. Das überfordert mich schon wieder. ... Er hat mit Ihnen über all das geredet?"

Meine empfindlich verletzte Seele. Onkel Harry hat versucht, mich zu schützen. Das hat er in all seiner Liebe immer getan. Aber wovor? Doch hoffentlich nicht vor sich!?! ... Vor meiner Vergangenheit, meinem Schicksal, vor einer Wiederholung des Verlustes? Vor ... mir selbst? Ich raffe gar nichts.
Ich zwinge mich, wieder dem Anwalt zuzuhören.
"Wir sind schon zusammen zur Schule gegangen, waren an der selben Uni, waren immer in engem Kontakt. Der frühe Tod Ihrer Großeltern war der Grund, warum Ihre Mutter zu ihm nach Korea ging."
Er lächelt weich.
"Und Ihr Vater war der Grund, warum sie blieb."
Nun lächele ich auch.
"Ich weiß, dass Onkel Harry einige Jahre älter als meine Mutter war. Ich denke, ... Oh. Oje, der Ärmste!"
Es rattert in meinem Kopf.
Wenn meine Großeltern gemeinsam gestorben sind, dann ... oh nein! Er hat sich doppelt verantwortlich gefühlt!

"Über meine Großeltern hat er nie gesprochen. Ich kannte nur meine koreanischen Verwandten. Heißt das ..."
Es will mir kaum über die Lippen.
"Heißt das, dass auch meine Großeltern ... verunglückt sind?"
"Leider ja. Er hat sich für seine Schwester verantwortlich gefühlt. Ihr Tod war für ihn eine grausame Wiederholung. Darum auch sein verdrehtes Schuldgefühl. Er hat immer wieder gesagt:'Ich sollte doch auf sie aufpassen.' Stattdessen hat er wieder eine verlassene Tochter geerbt. Und er ist über sich hinausgewachsen, um Sie gut und sicher auf Ihre eigene Lebensbahn zu setzen. ...
Frau Cho? Sind Sie ... Möchten Sie einen Moment ..."

..................

Hastig flitze ich die breite Treppe runter und in die Küche, in der wir wie meistens zusammen frühstücken. Onkel Harry ist schon da, der Tisch ist gedeckt. Heute müssen wir uns beide ein bisschen beeilen. Trotzdem beginnt Harry ein Gespräch.
"Na, wie geht es dir am ersten Tag deines letzten Jahres an der Highschool? Aufgeregt? Oder fühlt sich das an wie immer?"
Ich lächele gequält und antworte zwischen zwei Bissen seiner herrlichen, selbstgebackenen Brötchen.
"Sagen wir mal ... es fühlt sich genau so bescheuert an wie jeder erste Schultag nach irgendwelchen Ferien. Trotzdem ist mir klar, dass von diesem Schuljahr viel abhängt. Ich bin nur einfach noch nicht richtig wach."

Onkel Harry lacht mich aus.
"Hast du heute Abend ein bisschen Zeit für deinen alten Onkel?"
Stürmisch falle ich ihm um den Hals.
"Du bist nicht 'alt', du bist genau richtig. Und du bist der wundervollste Mensch, den ich kenne."
Ich gebe ihm einen Schmatzer auf die Wange, schnappe mir meinen Ranzen und renne los zum Bus.

Der Tag fliegt an mir vorüber. Neue Räume, neue Kurse, neue Lehrer, neue Bücher, neue Stundenpläne, neue Themen - ich schreibe das alles automatisch mit und vergesse es sofort wieder. Ich denke vielmehr darüber nach, wie es weiter gehen soll - danach. Überall ist es DAS Gesprächsthema heute.
So-Ra weiß schon lange, was sie will. Einige andere auch. Sie haben ihre Kurse so gewählt, dass es zum Berufswunsch passt. Ich dagegen habe keinen Berufswunsch. Keinen Schimmer, was ich mit meinem Leben anfangen soll. Also habe ich einfach die Fächer gewählt, in denen ich wirklich gut bin. Das gibt einen besseren Schnitt im Abschluss.

Ich atme auf, als dieser erste Schultag endlich vorbei ist, gehe mit So-Ra noch ein Eis essen und trolle mich dann nach Hause. Während ich im Bus sitze, kommt eine Nachricht von Onkel Harry.
"Mach dich schick, wir gehen heute aus."
Jetzt bin ich neugierig! Ich erledige schnell meine Hausaufgaben und versuche dann, mich für ein Outfit zu entscheiden. Duschen, Haare waschen, stylen - Onkel Harry kann kommen. Ich fühle mich kribbelig, leicht und zufrieden mit meinem Leben.

Es hupt draußen. Wie der Blitz sause ich die Treppen runter. In der Eingangshalle bremse ich ab und mutiere zur jungen Dame. Onkel Harry kommt mir am Portal entgegen, geleitet mich zum Auto, hält mir die Tür auf - das macht er schon seit einigen Jahren so. Anfangs war es ein Spiel, aber er wollte wohl, dass es sich für mich selbstverständlich anfühlt, wie eine Dame behandelt zu werden. Er schmeichelt mir, macht mir Komplimente, hält mir die Tür zu dem französischen Restaurant auf, wo wir diskret zu einem Tisch für zwei geleitet werden.

Zwischen Suppe und Vorspeise rückt er dann mit der Sprache raus, und ich weiß sofort, dass das der Grund für diesen ganzen Aufwand ist.
"Darf ich dir eine neugierige Frage stellen?"
Ich nicke.
"Du hast jetzt noch knapp ein Jahr Zeit, bis du eine erste Entscheidung über einen beruflichen Werdegang fällen musst. Die muss ja nicht endgültig sein. Deine Mama zum Beispiel hat auch erst im zweiten Anlauf das gefunden, was sie wirklich erfüllt hat. Hast du schon eine Idee, in welche Richtung es gehen könnte?"

Schlagartig fühlt sich mein Magen so zu an, als würde nicht mal die Vorspeise mehr reinpassen.
"Ich ... weiß es nicht, Onkel Harry. Ich ... weiß überhaupt noch nichts, wenn ich ehrlich bin."
Onkel Harry rudert sofort zurück. Ich muss ziemlich entsetzt aussehen.
"Dann lassen wir das für heute. Wir wollen den Abend doch genießen."
Er spricht das Thema tatsächlich nicht mehr an. Aber ich muss mich trotzdem richtig zusammenreißen, um mir nichts anmerken zu lassen.
Zu Hause gehe ich schnell ins Bett, damit ich morgen überhaupt rechtzeitig wach werde. Aber kaum ist das Licht aus, rollen meine Tränen ins Kopfkissen. Warum erschreckt mich diese Frage so sehr? Wovor habe ich Angst? Was macht mir wirklich Spaß? Oder weckt meinen Ehrgeiz? Keine Ahnung ... Dunkelheit überschwemmt mich ohne jede Vorwarnung, als würde ich in einem schwarzen Meer versinken.

Ein schmaler Lichtstreifen fällt durch meine sich leise öffnende Zimmertür. Ich halte die Luft an und kneife die Augen zu. Aber Onkel Harry ist nicht dumm. Einen Augenblick später sitzt er neben mir und hält mich in den Armen.
"Versuch jetzt mal für einen Moment, nicht tapfer zu sein, Cornelia. Ich habe nicht kommen sehen, wie sehr dich diese Frage erschreckt. Dann hätte ich unseren schönen Abend nicht damit belastet. Erzähl mir einfach, was dir durch den Kopf geht."
Ich schluchze.
"Das ist ja das Problem. Alle wissen schon, was sie machen wollen. Nur ich ... bin eine hohle Nuss, kann alles nur irgendwie, bin einfach nur ein netter, aber gedankenloser Mensch und habe keine Ahnung, wo ich hin will."
"Alle? Nur?"
"Ja!"

"Das glaube ich nicht. Also - dass alle deine Mitschüler schon einen klaren Berufswunsch haben. Und ich bestehe darauf, dass 'nett sein' nichts mit 'nur' zu tun hat. Ein desinteressierter, liebloser, egoistischer, hinterhältiger Mensch ist in jedem Beruf ein unangenehmer Kollege oder Vorgesetzer. Ein netter, empathischer, zuverlässiger, hilfsbereiter, kreativer, warmherziger Mensch dagegen ist der Wunschtraum aller Kollegen und Angestellten. Und das alles bist du.
Versteh mich nicht falsch. Freundlich zu sein ist kein Beruf, aber es ist eines der wichtigsten Persönlichkeitsmerkmale, die ein Mensch ins Erwachsenenleben mitbringen kann, um mit aufrechter Haltung und Selbstachtung das Leben zu bestehen.
Ich wollte dich vorhin nicht unter Druck setzen. Aber ich habe wohl einen wunden Punkt getroffen, oder?"

Schneller fließen meine Tränen. Ich fühle mich so ...
"Ich fühle mich doof dabei. So ... unvollständig. So gedankenlos. Ich habe keine Ahnung, wie ich herausfinden soll, was ich eigentlich machen will. Als ob ... ich vor einer verschlossenen Tür in mir drin stehe. Dahinter ist alles, was es über mich zu verstehen und zu wissen gibt. Aber ICH weiß es eben nicht. Ich ... habe das Gefühl, dass mir ein Schlüssel zu mir selbst fehlt. Wer bin ich? Was macht mich aus? Was ... Ach, Mann. Keine Ahnung!"

"Schhhhhhh, mein Mädchen. Alles wird gut. Entschuldige bitte, dass ich dich so aus der Bahn geworfen habe. Vielleicht tröstet dich das ein bisschen: ich bin der festen Überzeugung, dass du den richtigen Weg für dich finden wirst, der deine Persönlichkeit voll zur Entfaltung bringen wird. Nur nicht mehr heute. Schick die Sorgen fort. Ja?"

Das sagt sich so leicht ... Aber dennoch fühle ich mich jetzt nicht mehr allein. Harry wird immer für mich da sein, wird mich beruhigen und umsorgen und mit Zuversicht erfüllen. Das tut so gut! Leise summt er das Schlaflied, das ich als Kind so geliebt habe. Endlich kann ich einschlafen.

................

Ich höre eine besorgte, männliche Stimme, die mir nur entfernt vertraut vorkommt.
"Soll ich nicht doch einen Arzt rufen? Das dauert jetzt schon eine ganze Weile."
"Nicht nötig. Machen Sie sich keine Sorgen. Schauen Sie, sie kommt wieder zu sich."
Mit einem Seufzer der Erleichterung öffne ich die Augen. So-Ras Stimme hilft mir dabei. Ich liege, mit dem Kopf auf ihrem Schoß, auf einem Sofa. Allmählich weicht die alte Erinnerung zurück, und ich kann mich im Jetzt orientieren.
Mal wieder ein Zeitsprung.
"Hallo, Nelli. Wieder wach? Diesmal hast du dir echt Zeit gelassen. Μagst du erstmal was trinken oder deinen Kreislauf ankurbeln? Ich bin neugierig, was du diesmal erlebt hast."
"Trinken, Kreislauf, erzählen. Oder so. Du ... du wirkst gar nicht so beunruhigt wie sonst."

Ich greife nach dem Glas Wasser, das mir der Anwalt reicht, und trinke es sofort leer. Dann richte ich mich vorsichtig auf.
"Das liegt daran, dass du zum ersten Mal sehr ruhig und fast entspannt gewesen bist. Zumindest die meiste Zeit - und dann auch wieder ganz am Schluss."
"Hm. Ich erzähle gleich."

Bald darauf sitzen wir wieder an dem großen Schreibtisch, und ich erzähle von meiner Rückblende. Mein Anwalt fragt genauer nach, was es damit auf sich hat, und was ich dabei schon alles erlebt habe. Dann zieht er eine große, graue Ledermappe aus einer Schublade und blättert einen Moment lang konzentriert darin. Er sucht ein bestimmtes Blatt heraus und legt es in der Mappe zu oberst.
"Ich möchte Ihnen zeigen, was Ihr Onkel an diesem Abend empfunden hat."
Er legt die geschlossene Mappe vor mir auf den Tisch. Mir bleibt fast das Herz stehen. Ich bringe keinen Laut über die Lippen und kann auch nicht danach greifen. Das Ding ist mir unheimlich.

"Bitte lassen Sie sich Zeit und sehen Sie das auf keinen Fall alles auf einmal durch. Als Jugendlicher hat Ihr Onkel viel und auf beachtlichem Niveau gemalt und gezeichnet. In der Nacht, in der Ihre Eltern verunglückt sind, hat er aus lauter Verzweiflung angefangen, eine Art Tagebuch zu malen und dazu zu schreiben. So fiel es ihm leichter, sich auszudrücken. Ziemlich bald hat er gezeichnet, wo er ging und stand. Darum ist in dieser Mappe eine Loseblattsammlung. Er hat die Blätter auf der Rückseite mit Daten versehen, damit er die Bilder und Ereignisse später zuordnen kann."

Staunend nehme ich das wertvolle Stück in die Hand und fahre mit den Fingern über das alte Leder.
In dieser Mappe befindet sich die Seele meines Onkels seit dem Unfall. Seine Gefühle in Wort und Bild. Er hat gemalt! Wusste ich das? Habe ich das mitbekommen? Ich glaube schon. An dieses Tagebuch erinnere ich mich aber nicht.
"Darf ich das durchsehen?"
"Besser erstmal nicht. Gleich die erste Seite ist heftig. Ich zeige Ihnen lieber die, die ich grade ausgesucht habe."
Behutsam, damit nichts verrutschen kann, öffnet er den Deckel und schiebt mir das Tagebuch hin. Ich sehe ein Aquarell von einem festlich gedeckten Tisch.
"Das gibts nicht! Genau so hat der Tisch in meiner Erinnerung eben ausgesehen. Onkel Harry war ein großartiger Künstler!"

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Der Abend hatte so schön angefangen. Aber meine Frage nach einem Berufswunsch hat Cornelia sofort aus der Bahn geworfen. Dabei wollte ich das Thema gar nicht so hoch hängen. Ich hatte mir dieses Gespräch leichter vorgestellt. Im Bett hat sie dann - wie ich befürchtet habe - geweint. Also bin ich nochmal zu ihr gegangen, um ihr zuzuhören. 

Ich habe offensichtlich zu lange nicht genau hingeschaut. Sie wirkte wirklich erschüttert.
"Ich habe keinen Zugang zu mir selbst. Ich kenne mich gar nicht."
Dabei wirkte Cornelia auf mich ausgeglichen, stabil und fröhlich. Selbst die Pubertät war bei ihr nicht so aufwühlend wie dieser Abend.

Ich muss unbedingt mal wieder in Ruhe mit Woo Rae-Jin reden. In solchen Momenten merke ich immer sehr deutlich, dass ich ein Mann bin, dass ich fünfzehn Jahre älter als du, liebe Jutta, bin. Und dass ich keinen Schimmer habe, was in so einem Mädchenkopf vor sich geht.

Cornelia sprach vorhin von einer verschlossenen Tür und einem verlorenen Schlüssel. Vielleicht hat sie im Laufe der Jahre ganz viel von damals vergessen und spürt nur noch, dass da Gefühle waren? Oder hat das alles sie damals so sehr belastet, dass sie den Schmerz verdrängt hat? Es fühlt sich schrecklich an für mich, dass sie das Gefühl hat, einen wesentlichen Teil von sich selbst nicht zu kennen. Hoffentlich kann ich sie irgendwie aus der Reserve locken und auf ihre eigene Spur setzen.

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Erst nach einer Weile traue ich mich, die Worte zu lesen, die unter dem Bild stehen. Warme Fürsorge spricht aus den Zeilen. Er hat sorgfältig versucht herauszufinden, was mein Problem war und wie er mir weiterhelfen könnte. Ich denke noch einmal an den Moment vorm Einschlafen und fühle mich geborgen.

"Und aus solchen Seiten besteht die ganze Mappe?"
"Ganz genau. Hier ist ein Inhaltsverzeichnis."
Der Mann zieht ein einzelnes, eng mit einer Tabelle beschriebenes Blatt unter dem Bilderstapel hervor.
"Er hat aufgelistet, zu welchen Ereignissen und Gedanken er gemalt hat - mit Datum. Das wird Ihnen bei der Zuordnung helfen. Sie können in die Liste schauen und dann anhand der Daten auf den Rückseiten den richtigen Eintrag finden, ohne, dass Sie jedes Mal alle Bilder ansehen müssen."

Langsam klappe ich die kostbare Mappe zu.
"Das werde ich so machen. Ich glaube, dass er wollte, dass ich mich erst erinnere und dann nachlese. Richtig? Ich will gut darauf aufpassen."
So-Ra schaut mir aufmerksam ins Gesicht.
"Ich glaube, für heute hast du genug gesehen. Gibt es noch etwas, worauf wir achten sollten?"
Fagend blickt sie den Anwalt an.
"Ich denke, dass Sie das gemeinsam jetzt händeln können. Bitte scheuen Sie sich nicht, mir Ihre Fragen zu stellen. Wir können uns gerne noch einmal treffen, so lange Sie hier sind."

Wie einen wertvollen Schatz presse ich die gut verpackte Mappe an mich, während wir mit dem Fahrstuhl nach unten fahren und in das bestellte Taxi steigen. Ich nehme nichts wahr von der Stadt, die an den Fenstern vorbeifliegt. Mein ganzes Herz ist bei Onkel Harry. Und bei seinen Bildern, obwohl ich sie noch gar nicht gesehen habe.
"Du siehst glücklich aus, Schnucki. Das freut mich. Hoffentlich kannst du dich bald von den unsinnigen Schuldgefühlen verabschieden und genießen, dass du längst den Schlüssel gefunden und die Tür in dir drin geöffnet hast. Du bist ein ganz besonderer Mensch, und dein Onkel hat das gewusst."

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20.5.2023    -    26.3.2024

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