72 - Schritte wagen

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Anwalt, Gärtnerei, Friedhof. Leichter gesagt als getan. Heute ist Freitag, wir sind also seit sechs Tagen hier, nein, sieben. Und ich habe mal wieder die Zeit genutzt, innerlich wahre Marathonläufe zu absolvieren. Am Anfang hatte ich einen Haufen Flashbacks und ein Gebirge von Angst. Dann hat mich die Bildermappe überrascht und berührt. Seitdem haben wir in loser Folge Vergangenheit bewältigt, Berlin unsicher gemacht, wunderbare Bilder bestaunt und tiefe Einblicke in Harrys Seele bekommen. Und in meine auch.

Jetzt sind die Flashbacks weg, der Sturm ist abgezogen, ich fühle mich beweglicher und freier. Ich traue mich wieder, Entscheidungen zu fällen, bisher Undenkbares zu denken, Schritte vorwärts zu wagen - und dabei auszuhalten, dass es keine Garantie für ein Happy End gibt.

Was will ich dann also mit dem Anwalt besprechen? Eigentlich keine Ahnung. Aber er war ein langjähriger Freund von Harry. Er war glaube ich am Montag sehr erschrocken und verunsichert, dass ich einfach umgekippt bin, obwohl So-Ra damit so gelassen umgegangen ist - ich sollte ihn teilhaben lassen.

Während So-Ra für sich notiert, was sie heute noch als Mitbringsel kaufen möchte, rufe ich meinen Berliner Anwalt an. Er ist grade in einem Klientengespräch, ruft mich aber eine halbe Stunde später zurück. Wir plaudern ein bisschen, ich erzähle ihm, was ich in der Bildermappe alles für mich entdecken konnte, und frage ihn schließlich, welche Friedhofsgärtnerei beauftragt worden ist. Erst jetzt kapiere ich, dass in der großen Fläche der eingefassten Grabstelle nicht nur Harry liegt sondern unten drunter auch seine Eltern, meine Großeltern. Bei der Beerdigung im März war der Originalgrabstein ja vorübergehend beiseite gestellt worden, deshalb hatte ich das nicht gesehen und also nicht verstanden. Ein Familiengrab also.

Der Anwalt informiert mich dann auch, welche Firma schon seit Jahrzehnten mit der Grabpflege beauftragt ist. In meinem nächsten Telefonat kläre ich also alle Fragen rund um das Grab und verabrede mich mit dem Gärtner.

Wir packen uns ganz warm ein, spazieren Händchen haltend und relativ still durch Charlottenburg und betreten schließlich den Friedhof Luise II durch den Haupteingang, wo die Möglichkeit besteht, die genaue Lage der einzelnen Gräber zu erfahren. Das müssen wir heute aber gar nicht tun, denn ein Mitarbeiter der Gärtnerei erwartet uns und führt uns zum Familiengrab.

Ganz ruhig stehe ich da und lasse die winterlich mit Schnee bedeckte Grabstelle auf mich wirken. Große alte Laubbäume beschatten den Ort im Sommer. Jetzt lassen die kahlen Äste die trübe Sonne auf den stillen Ort scheinen. Das Grab ist noch ungeschmückt, keine Vasen, Sträuße, Kränze, Lichter unterbrechen das kalte Weiß. Drei Namen stehen auf dem rohen, rötlich melierten Stein. Drei Namen, drei Leben, von denen zwei abrupt an einem Baum endeten und eines in geistiger Dämmerung verwehte.

Die Stille und Leere scheinen zu warten. Zu warten darauf, dass der Frühling kommt - im Land, in der Bepflanzung, in der Belebung durch Persönliches, in meinem Herzen.

Ich warte auch auf den Frühling. Es sind so viele Türen aufgegangen in mir, Türen zur Vergangenheit, Türen zu Harry, Türen zu wahrhaftigen Zielen und Träumen, Türen zu mir. Nach dem anfänglichen Schock vor neun Monaten ist so viel aufgebrochen, durchlitten, gereift und geheilt. So viel Klarheit, Wissen, Fühlen, Menschen, Orte und Entscheidungen sind geliebte Teile meines Lebens geworden.

Ich glaube tatsächlich, ich kann das alles lieben und annehmen als Teil von mir, als Motor für mich, als Vorwärtskommen zu mir und in meinem Leben. Danke so sehr, Harry, dass du mit all deiner Weisheit und Ratlosigkeit, deinem Sorgen, deinem Mut, deiner Klarheit und deiner Liebe immer Teil meines Lebens warst.

Was auch immer ich noch entdecken werde in deinem Bilderbuch, in deinen Gedanken und Gefühlen - ich will nicht mehr davor zurückschrecken, mich ablenken, dem Unangenehmen ausweichen sondern all das als Teil meines Lebens begreifen. Ich will eine symbolische Verbindung schaffen zwischen eurem Grab hier und dem von Mama und Papa in Seoul. Ich will beide Gräber zu Orten der Besonnenheit und des Zusammenhaltes machen, an denen ich mich gerne aufhalte, an euch denke und Kraft tanke.

Ich habe etwas Mühe, mich wieder auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren. Ich spreche kurz eine erste, schlichte Bepflanzung ab, damit der Gärtner zurück an seine Arbeit gehen kann. Dann nehme ich So-Ra in die Arme und bleibe ganz lange mir ihr so stehen. Wieder versinke ich in Gedanken.

Neun Monate. Und was ein Irrsinn in all der Zeit. Wenn ich überlege, wie es mir vor ein paar Wochen ging, inmitten der ganzen beängstigenden Flashbacks. Ich habe ja keine Garantie, dass die durch Gegenstände oder Worte nicht doch immer mal wiederkommen. Aber ... hm ... ich fühle mich dem jetzt mehr gewachsen. Es ist nicht mehr eine Bedrohung von irgendwo sondern Teil von mir. Ich lege ein Puzzle aus hell und dunkel, Angst, Schuld und Glück. Ich bin gespannt auf das Bild. Und ich bin bei all dem niemals allein.

Dankbar drücke ich So-Ra in meinen Armen, und sie erwidert den freundschaftlichen Halt. Wir sehen uns an.
Sie ist ein solcher ganz besonderer Schatz!
"Alles in Ordnung, Nelli? Du weinst UND strahlst UND entspannst dich konstant, seit einer halben Stunde."
"Ich ... bin glücklich. Mit diesen Monaten trotz all der Schrecken. Mit dem Erreichten. Mit den vielen neuen treuen Menschen, den Jungs, Namjoon. Und mit dir, die du immer, immer da warst."
Meine Freundin legt die einzelne Rose auf den Schnee, die wir mitgebracht haben, nimmt meine Hand und wendet sich zum Gehen.

Ich folge ihr einfach und nehme ihre leisen, sanften Worte in mich auf.
"Ich bin sicher, Harry sieht uns grade zu und strömt über vor Glück, dass seine guten Gedanken für dich nun Wirklichkeit werden können. Du bist so viel stärker, als du weißt. Du hast es geschafft."
Ich flüstere zurück.
"Ich ahne es allmählich. Und das fühlt sich gut und richtig an."

Immer noch Hand in Hand verlassen wir den verschneiten stillen Ort und wenden uns wieder der Gegenwart zu. Auf dem Weg nach Hause überlegen wir, was wir noch im Kühlschrank haben, und mit was davon sich noch zwei oder drei Mahlzeiten zaubern lassen. In einem Supermarkt füllen wir mit Bedacht die Lücken. Und So-Ra schlägt zu. Sie befördert eine lange Liste aus ihrer Jackentasche, was sie alles für sich und andere mitnehmen will. Ich lache mich schlapp.
"Wie soll das denn alles in dein Handgepäck passen? Du hast doch'n Vogel!"
"Pfff. Das wird in unsere Taschen schon reinpassen."
"Unsere? Vergiss es!"

Ich habe natürlich auch eine Liste im Kopf, wenn auch die wesentlich kürzer ist als ihre. Ich sehe schon unsere Handtaschen platzen und die Reisetaschen aus den Sicherheitsfächern quellen. Also bremse ich energisch und sorge dafür, dass nicht immer gleich drei Packungen Zimtsterne, Marzipankartoffeln und Co. im Einkaufswagen landen.

"Nimm zu Hause ein paar Celophantütchen und packe kleine gemischte Päckchen. Je ein kleiner Strohstern dran - das reicht. Sonst wird nur alles zerquetscht im Gepäck."
"Lass doch die blöden Backmischungen. Für Brot und Kuchen probieren wir einfach selbst Rezepte aus."
"Du willst doch nicht ernsthaft ..."
Und so geht es munter weiter, bis ich sie erfolgreich aus dem Laden manövriert habe.

Zu Hause verschwindet meine Besti noch einmal in der Küche und zaubert aus Gemüse und ein paar Resten der letzten Tage ein kleines warmes Buffet für uns, während ich zufrieden seufzend aufs Sofa sinke und mit Namjoon telefoniere. Wobei - ein bisschen angespannt bin ich jetzt doch, denn ich muss ja unter Umständen noch etwas Wichtiges graderücken.
Aber ich werde schon wieder beschenkt. Ich hätte mir keine Gedanken machen müssen ...

"Hallo, Liebes! Wie war dein Tag bisher?"
"Küsschen, Joonie. Gut. Mir geht es jeden Tag besser. Ich entdecke immer mehr, aber es wirft mich nichts mehr aus der Bahn. Ich kann das gar nicht an EINEM Ereignis oder Moment oder Bild festmachen. Es ist einfach so."
"Du klingst auch viel besser. Als ich euch vor einer Woche am Flughafen zurückgelassen habe, hätte ich am liebsten mitgeheult. Aber Berlin war mal wieder die richtige Wahl. Zumal du auf diese Weise nicht unmittelbar die Turbulenzen abbekommen hast."

"Wie siehts denn aus an der Front?"
"Es wird weniger, weil die meisten unserer Partner ganz fest bleiben und klar machen, dass solches Engagement Teil ihrer gesellschaftlichen Verantwortung ist, der sie auch mit mir gerecht werden wollen. Das tut gut. Gedanken mache ich mir nur, ob dich vielleicht nächste Woche eine zweite Welle treffen könnte nach dem Motto 'sie bringt ihre persönlichen Schützlinge in Sicherheit, das ist Geklüngel, Korruption, und, und, und.' Aber im Wesentlichen nutzen die vielen freien Organisationen und kleinen Initiativen ihre Chance, schließen sich dem Netzwerk an und machen dadurch unsere Anliegen und Ziele sichtbar."
Ich weiß grade nicht, ob ich mich jetzt fürchten oder freuen soll.
"Das klingt gut."

"Genauso hilfreich ist, dass weitere namhafte Sponsoren offen eingestiegen sind. Und ein paar Celebrities haben größere Einmalspenden angekündigt, sobald unsere Konten eröffnet sind. Um unseren Grundstock zu sichern. Tue Gutes und rede darüber. Es funktioniert doch immer wieder. Und es entschärft die fiesen Nadelstiche."

"Ich freue mich so auf dich, Joonie. Du fehlst mir."
"Du fehlst mir auch. Aber das wichtigste war jetzt, dass du deine Seele und dein Leben wieder ordnest und Sicherheit zurückgewinnst."
Ganz kurz entsteht eine komische Stille. Ich gebe mir grade einen Ruck, das heikle Thema anzuschneiden, da spricht Namjoon schon weiter.
"Du hast mich gestern so glücklich gemacht. Aber je länger ich darüber nachgedacht habe, desto weniger weiß ich, was wir eigentlich wirklich gesagt haben. Wir haben so locker flockig geredet. Wenn ... es für dich okay ist, würde ich unser gestriges Gespräch gerne noch mal aufrollen."

Mir fällt ein riesiger Stein vom Herzen.
"Ich liebe dich! Ich habe hinterher auch eine ganze Weile gerätselt, was wir da jetzt eigentlich ausgesprochen haben. Also. Ich ..."
"Es war ein bisschen flapsig und zweideutig, zumal ich dir ja meine Worte in den Mund gelegt habe, und umgekehrt."
"Ja, genau. ... Ich hatte dich gebeten, die Häuser in Jinyoung Village zu reservieren. Meine Hintergedanken waren dabei: ich bin jetzt bereit, mich zu bewegen, meinen Balkon loszulassen. Und ich möchte unsere Beziehung entstressen, indem wir zusammenziehen und noch mehr Alltag miteinander teilen, statt an drei Stellen in der Stadt ein paar Unterhosen und Socken zu deponieren. Mehr wollte ich mit der Aktion gar nicht sagen."

"Puh, da bin ich froh. Denn hinterher ist mir bewusst geworden, dass das auch falsch hätte rüberkommen können. So, als ... als ob ... ich für dich einen Heiratsantrag an mich ausgesprochen hätte. Ich würde aber gerne erst mit dir und der Stiftung und meiner Bewährungszeit und all dem in ruhigeres Fahrwasser kommen und mein Leben normalisieren, bevor ... Wir sollten uns Zeit lassen."
Schlagartig verstummt Namjoon.
"Danke, Schatz. Dann sind wir uns vollkommen einig. Du bist mir zu wichtig, als dass ich unsere Beziehung mit ein paar Wortdrehern aufs Spiel setzen möchte."

Spürbare Erleichterung macht sich breit hier und da. Wir hatten beide das Bedürfnis, keinerlei Fragezeichen zwischen uns stehen zu lassen. Und wir haben beide sofort die Gelegenheit gesucht, alles zu klären.

"Was gibts? ... Entschuldige einen Moment. ... Ja, alles klar."
Ich höre eine Tür klappern im Hintergrund, Gemurmel.
"Entschuldige bitte. Yoongi ist nach Hause gekommen. Er will uns was kochen.
Wo war ich? Genau. Du bist stärker geworden in dieser Woche. Klarer, ehrlicher. Hoffentlich kannst du das alles hier in deinen Alltag rüberretten."
"Ich glaube schon. Jedenfalls das Wesentliche. Und ich bin nicht allein. Ich habe ganz viele wunderbare Menschen um mich herum."

"Ach übrigens. Ich konnte heute die Reservierung schriftlich festklopfen. Der Makler ist sehr sympathisch. Wir haben, weil die Häuschen ein so seltenes geschlossenes Ensemble darstellen, ein paar Denkmalschutzauflagen. Aber die betreffen vor allem die Fassaden. Innendrin dürfen wir nahezu machen, was wir wollen. Zwei der Häuser sind auch schon miteinander verbunden." 

Wir plaudern noch eine Weile, bis Yoongi und So-Ra uns beide zum Essen rufen. Wir verabschieden uns bis morgen.

Ich stelle immer wieder fest, wie gut So-Ra in jeder Lebenslage improvisieren kann. Das Sammelsurium aus dem Kühlschrank ist zu einem wunderbar leckeren Mittagessen geworden. Wir beschließen, dass wir erst einigermaßen packen und gründlich aufräumen, dann nochmal auf den Weihnachtsmarkt am Schloss gehen werden. Anschließend wollen wir uns noch ein oder zwei Bilder aus Harrys Mappe ansehen. Zum Abschluss werden wir essen gehen und dann gleich ins Bett - für den Zeitrhythmus.

Fürs Aufräumen und Packen sammeln wir all unsere in der ganzen Wohnung verstreuten Habseligkeiten zusammen bei unseren Reisetaschen. So kann meine Besti auch gleich sehen, dass sie sich auf dem Markt seeeehr zurückhalten muss, weil da eigentlich gar nichts mehr reinpassen wird. Mein Limit ist mit dem zusammengelegten Krippenhäuschen ziemlich ausgeschöpft, aber ich habe auch gar nicht das Bedürfnis, unbedingt die geballte deutsche Weihnachtstradition um die halbe Welt schleppen zu müssen. Das Wichtigste und Kostbarste in meinem Gepäck ist sowieso die Bildermappe von Harry.

Ein letztes Mal bummeln wir zum Schloss. Es dämmert, überall gehen Laternen und Lichterketten an, es schneit wieder, aber nur ein bisschen. Es herrscht perfekte Weihnachtsmarktstimmung. Wir bummeln diesmal mit einem Glühwein in der Hand durch die Reihen. Damit lernt So-Ra noch eine typische Tradition kennen - und sie hat die Hände voll. So hält sich ihr Kaufrausch in Grenzen. Ich erlaube ihr nur noch, Glühweingewürz und ein paar typische Keksausstecher zu kaufen.

Ich hingegen habe jetzt eine Woche lang leise Ausschau gehalten nach einem kleinen Mitbringsel für die Jungs. Ich werde aber nichts übers Knie brechen. Wer weiß, ob mir gleich noch was ins Auge springt.
Nacheinander kommen wir vorbei an Gewürzen, Honig, handgestrickten Socken, Nikolauskostümen, Krippenfiguren und jede Menge Fress- und Saufbuden. Eine Minieisenbahn voller Minikinder schnauft durch einen künstlichen Miniwald, mehr oder weniger kitschiges Kinderspielzeug löst Schmuck und Seidenmalerei ab. Das Angebot ist bunt. Dazwischen bimmeln 'Jingle Bells' und 'Ihr Kinderlein kommet', es duftet nach Zimt, gebrannten Mandeln und frischen, noch heißen Berlinern.

Ganz hinten, gleich neben dem Tor zum Park, steht ein Glasbläser. Und beim Anblick seiner zauberhaften Kunstwerke überschlagen sich sofort die Gedanken in meinem Kopf. 
Sterne - das ist es! Der Weihnachtsstern. In meinem Leben war nichts als diffuser Nebel, im Leben der Jungs war es zappenduster, die Leben tausender bedürftiger Menschen in Seoul sind kalt und einsam. Wir alle brauchen mehr Licht in unserem Leben! Ich werde alles mit Sternen dekorieren. Die Wege im Park, die Pförtnerei, die Villa, die Gründungsversammlung, die Gala.

Überhaupt - wir müssen dringend diese beiden Veranstaltungen planen. Die Gründung an Heilig Abend kann Jin schaffen. Die Gala ist eine Nummer zu groß für ihn. Wir müssen planen, wer von uns wann und wo mit wem feiert. Wer von den Jungs bei welchen Vorbereitungen mit anpacken kann. Naja, ich werde am Montag sehen, wie weit die Vorbereitungen gediehen sind.

Mein Blick fällt wieder auf die Glassterne.
Es wäre zu schön, wenn ich bei beiden Veranstaltungen jedem Gast einen solchen blauen oder weißen Stern schenken könnte. Aber wie soll ich jetzt hopplahopp hunderte von diesen gläsernen Teilen nach Seoul bekommen? Das wiegt ja auch so viel. Hm. Da muss ich mir noch was einfallen lassen. 
Aber die bunten, die nehme ich auf jeden Fall mit für die Jungs! Und noch ein paar mehr, denn dieses Jahr war voll mit lieben alten und neuen Menschen, denen ich danke sagen möchte.
Gesagt - getan. Ich suche mir zwanzig kleinere Spiralensterne aus und lasse sie mir verpacken.

Schließlich sind unsere Glühweintassen leer. Wir geben sie zurück und machen uns auf den Heimweg.
"Erst was essen oder erst Bilder kucken?"
"Berechtigte Frage. Viel gibt der Kühlschrank nicht mehr her, oder?"
"Nope. Ich hab vorhin ziemlich tabula rasa gemacht."
"Dann wäre ich dafür, dass wir jetzt erst eine Kleinigkeit essen gehen und dann zu Hause packen und stöbern."
"Gute Idee. Andersrum müssten wir sonst nochmal wieder rausgehen."
Ein netter kleiner Italiener ist schnell gefunden, und wir probieren uns einfach durch seine umfangreiche Auswahl an Antipasti. 

Zu Hause machen wir es uns ein letztes Mal vorm flackernden Kamin gemütlich. So-Ra hält die Mappe in den Händen und schaut mich erwartungsvoll an.
"Ich glaube, ich möchte heute Abend einfach ein paar Lücken füllen. Weglassen möchte ich beide Unfälle und mein Verbuddeln vom Auto. Aber da ist doch wahrscheinlich noch viel mehr."
Meine Besti klappt die Mappe auf, kontrolliert kurz die Reihenfolge der Bilder und blättert dann langsam von vorne nach hinten.

"Aaalso - es fängt an mit dem Unfall, den lassen wir weg. Dazu ein Bild, auf dem Harry dich tröstet. Die Malübungen kennen wir. Die Beerdigung noch nicht. Der Unfall deiner Großeltern hat auch noch Zeit.
Deine Umzugsbilder kennen wir. Dann ziemlich chaotische Sachen, die lassen wir auch weg. Der Umzug von uns zur Villa. Ankucken?"
Ich nicke. Sie zieht ein Blatt aus dem Stapel und legt es umgedreht daneben.

"Hier kommen die ganzen Kleinkindbilder. Oh, hier sind noch zwei solche Seiten - die lege ich mal raus."
Zügig arbeitet So-Ra sich durch die Bilder und Texte.
"Keine Ahnung, warum, aber der Umschlag zu Oh-Ryu muss warten. Die Einschulung?"
Fragend sieht So-Ra mich an.
"Gerne."
"Das wieder nicht - das auch nicht. Das Busunglück."
"Das will ich sehen, denn diese Erinnerung ist ja schon vorgekommen."
"Okay."
Wieder wandert eine Seite aus der Mappe.

"Ich glaube, es reicht. Für mehr haben wir weder die Kraft noch die Zeit."
Energisch klappt sie die Mappe zu. Ich muss lächeln.
Wie gut sie mich kennt. Wie aufmerksam sie mich in diesen Tagen begleitet hat! Vier Seiten überwiegend Positives sind echt genug für eine "Session", die schweren Sachen sind noch nicht dran. Schon erlebte Flashbacks sind wichtig, dass ich bei allem voraussichtlich stabil bleibe, auch. Und es zwingt mich ja keiner, die tatsächlich jetzt alle anzusehen.
Wie gut, mit all dem nicht alleine zu sein.
Ich wünsche jedem Menschen auf der Welt seine ganz eigene So-Ra. ... Und seinen oder ihren eigenen Namjoon.
Ich glaube, ich werde grade ein bisschen rot ...

So-Ra schaut mir ins Gesicht. Ich hoffe einfach, dass das flackernde Licht von Kamin meine spontane Regung versteckt. Sie geht jedenfalls nicht darauf ein.
"Welches zuerst?"
"Die ... Ne, das Busunglück. Sonst nehm ich das mit in den Schlaf."
Neugierig nehme ich das Blatt mit einem quadratischen Bild entgegen.

Im ersten Moment erkenne ich gar nichts. Dann schwarze Irgendwasse vor weißem Hintergrund. Und schließlich wird mir klar, dass da dieser Reisebus auf dem Dach im Schnee liegt und sehr viele Menschen drumrum wuseln. Und liegen?
Ich schüttele mich.
"Gruselig! Ich bin froh, dass das kein Foto ist und ich so nicht alles erkennen kann. Die armen Kinder. Und die armen Eltern! Was den Busfahrer wohl getrieben hat, so unvorsichtig zu fahren?"

"Ich erinnere mich nicht. Das kann alles gewesen sein. Ein Kind musste schnell nach Hause. Ein Lehrer hatte einen Anschlusstermin. Der Fahrer hatte sich die Wartezeit und Kälte mit ein paar Bierchen vertrieben. Falls er selbst das überlebt hat, wird er jedenfalls seines Lebens nicht mehr froh."

Ruckartig klappe ich das Bild auf der Seite nach hinten, damit ich es nicht mehr ansehen muss.
Will ich diesen Eintrag jetzt lesen? Muss wohl, sonst macht sich meine Phantasie selbständig. Dann wirds bestimmt nicht leichter.
Zögernd beginne ich, Onkel Harrys Worte zu lesen.

Liebe Jutta! Was für ein grauenvoller Tag!

Ich war grade ins Auto gestiegen, um Cornelia vom Schulausflug abzuholen, als im Radio die Nachrichten anfingen. 'Nach einem Ausflug der blablabla-Schule zur Lotte World ist auf dem Rückweg einer der drei Busse verunglückt. Der Fahrer verlor die Kontrolle, als das Fahrzeug auf Glatteis zur Seite rutschte, das Brückengeländer durchbrach und in die Tiefe stürzte.' 

Mehr hab ich nicht mitbekommen. Mein Hirn setzte aus, meine Hände klammerten sich ans Lenkrad, mein Fuß gab Gas. Der kalte Angstschweiß brach mir aus. Ein einziger Gedanke war noch möglich:'nicht nochmal!
Irgendwie bin ich heile durchgekommen, bis ich endlich wieder anfing, meine Umgebung wahrzunehmen und einigermaßen normal weiter zu fahren. Aber das Unvorstellbare, der Abgrund, die Angst, ich könnte Cornelia nun auch noch verloren haben, hatten mich fest im Griff.

Vor der Schule stand der frierende, sehr betroffene Schulleiter auf den Stufen zum Portal, während eine beinahe hysterische Elternmenge um ihn drumrum waberte. Er versuchte wohl immer wieder, etwas zu sagen, aber es war kein Wort zu verstehen bei dem Lärm. Das ging eine ganze Weile so, während ich außerhalb der Massen stand und ununterbrochen gegen Panik und alte Gefühle in mir ankämpfen musste.

Kurz darauf trafen zwei Mannschaftswagen der Polizei, ein Krankenwagen, ein Notarzt und mehrere sowas wie Seelsorger auf dem Hof ein und versuchten, die Menge zu beruhigen und zu 'sortieren'. Gerüchte waberten durch die Masse. Von vielen Toten und Verwundeten war die Rede. Ich habe die Ohren auf Durchzug gestellt.

Endlich fuhren sehr langsam zwei große Busse durch die Hofeinfahrt. Die Polizisten hatten Mühe, uns Eltern von den Bussen fernzuhalten. Sofort fingen alle an, nach ihren Kindern zu rufen. Es war ein einziges Chaos.
Ich dagegen stand wie erstarrt immer am selben Fleck und hielt die Luft an. Noch nie war ein Gebet so innig und so von Herzen ernst gemeint. Meine Brust war wie von Eisenbändern umklammert, ich bekam kaum Luft. Mein gedankliches Mantra schallte zum wolkingen Himmel:'Gott, lass sie zu mir zurückkommen.'

Als die ersten Klassenkameraden von Cornelia den einen Bus verließen, bin ich nur noch gerannt. Niemand konnte mich aufhalten. Ich kam grade an der hinteren Bustür an, als unsere Maus mir in die Arme sprang. Sie sah irritiert aus von dem wilden, lauten Durcheinander. Ich dagegen habe sie wohl halb zerquetscht vor Erleichterung. Ich kannte nur noch einen Gedanken. 'Sie lebt.'   

Es hat eine halbe Ewigkeit gedauert, bis das Chaos gelichtet war. Eltern und Kinder mussten zusammen gebracht und nach Klassen sortiert werden, damit die Listen abgehakt werden konnten. Die Angehörigen des fehlenden Busses wurden ins Schulgebäude gebracht, um sie vor der Presse zu schützen. Vergessene Jacken und Rucksäcke mussten zu ihren Besitzern zurückfinden. Zwischen all dem eine schnell zunehmende Horde von knipsenden, filmenden, Mikrofone schwenkenden Paparazzi. 

Ich war wie in Trance, als wir nach Hause kamen, Abendbrot gegessen haben, ich das Kind ins Bett gebracht habe. Ich habe wohl gespürt, wie unwohl sie sich gefühlt hat, aber ich war zu nichts anderem als Routineabläufen in der Lage. Erst, als Cornelia im Bett lag, haben wir geredet, getröstet, geweint.
Wie machtlos und klein ist doch der Mensch! Wie fruchtlos sind all unsere Pläne, wenn das Schicksal so brutal eingreift. Ich zittere noch immer innerlich. Ich hätte ihr gerne nicht so viel verraten, aber Kinder haben feine Ohren, auch für die Zwischentöne. Das Wesentliche hat sie besser erfasst, als mir lieb ist.

Gleich werde ich wieder zu ihr gehen und über sie wachen. Schlafen kann ich heute Nacht sowieso nicht. 

Diesmal weinen wir alle beide. Auch So-Ra ist zutiefst erschüttert von dieser Not und Hilflosigkeit. Spontan schickt sie ihren Eltern eine Sprachnachricht, erklärt kurz die Mappe und dieses Bild und sagt ihnen dann unter Tränen, wie sehr sie sie liebt, wie froh sie ist, dass sie damals nicht in diesem Bus gesessen hat, dass ihren Eltern dieses Leid erspart geblieben ist.
Wir halten uns einfach aneinander fest.

Wir müssten jetzt Holz im Kamin nachlegen. Oder ins Bett gehen. Nichts davon gelingt uns.
Unvorstellbar, wie entsetzlich sich Harry gefühlt haben muss in dieser unerträglichen Ungewissheit. Und hinterher beim So-Tun-Als-Ob, damit ich nicht das ganze Ausmaß der Katastrophe begreife.

Unheimlich, wie viel Macht unsere Psyche über uns hat. Das bloße Gefühl, auf Eis zu rutschen, hat so viel ausgelöst in mir, nach so vielen Jahren. Aber je mehr von dem alten Erleben ich ausgrabe, desto freier werde ich davon. Es fühlt sich so ... ich kann besser atmen als vorher. Ich spüre viel besser als vor den Flashbacks, was ich grade fühle. Ich kann Widersprüche besser aushalten. Weil nun mal im Leben alles Mögliche nebeneinander liegt oder passiert und seine Wirkung entfaltet. Ganz egal, WIE schrecklich manche Erinnerungen waren oder noch sind. Ich kann aus allem etwas Gutes für mich gewinnen.

Allmählich werde ich innerlich wieder ruhiger.
"Lass uns mal überlegen. Alle vier Bilder schaffen wir auf keinen Fall. Wollen wir noch eins davon anschauen oder lieber gleich ins Bett gehen?"
So-Ra überlegt nicht lange.
"Lass uns noch die Kinderbilder anschauen, das ist hoffentlich harmlos."
Ohne einen weiteren Blick darauf zu werfen, schiebe ich 'das Busunglück' zurück in die Mappe.

Stattdessen greife ich nach einem anderen Blatt. Ein niedliches Bild taucht auf, auf dem ich Flöte spiele. Ich muss sofort lächeln.

"Seit ein paar Wochen hat Cornelia Flötenunterricht. Eine Starflötistin wird sie sicher nicht. Aber sie hat Freude daran, übt freiwillig und lernt wenigstens, Noten zu lesen. Eben kam sie angesaust und hat mir voller Stolz 'alle meine Entchen' vorgespielt."

Das andere Bild zeigt mich mit meinem ersten Fahrrad im Park der Villa. Ich erinnere mich sofort. Die steilen Wege vorne waren tabu. Aber hinter der Villa hatte ich tagelang geübt, die Balance zu halten. Der arme Harry musste sicherlich Runde um Runde um den Teich hinter mir herwetzen und mich halten.

"Fünf Jahre ist Cornelia jetzt alt. Und heute ist sie zum ersten Mal auf ihrem neuen Fahrrad ganz alleine und sicher gefahren. So stolz! Und mein Rücken freut sich, dass ich nicht mehr gebückt hinter ihr herrennen muss. Wenn Du das nur sehen könntest, Jutta"

Aus den Worten von Harry spricht viel Stolz. Auch viel Normalität und viel Glück. Es scheint eine gute, stabile Zeit für uns gewesen zu sein. Ich seufze zufrieden.
Schöne Erinnerungen!

"So, jetzt kann ich ins Bett gehen."
"Stimmt. Diese Bilder machen keine schlechten Träume. Dann auf. Je eher wir morgen aufstehen, desto leichter fällt es uns, wenn wir wieder in Seoul sind."

........................
8.7.2023    -    27.3.2024

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