71 - Türen und Fenster der Seele

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Ich träume seltsame Fetzen zusammen in dieser Nacht. Die Wechsel sind so schnell, dass ich nicht mal Gesichter erkennen kann. So glücklich dieser Moment mit Namjoon am Telefon war - so durcheinander bin ich jetzt auch.
Mitten in der Nacht weckt mit dann So-Ra. Sie knipst einfach das Licht an, setzt sich neben mir im Bett auf und starrt mich wach. Nur langsam gewöhnen sich meine Augen an die plötzliche Helligkeit, bis ich mich schließlich auch hinsetze und zurückstarre.
"Hm? Is was?"
"Jupp. Ziemlich viel sogar. Du spielst hier grade Turbine vor lauter innerer Unruhe. Und wenn ich eh nicht zum Schlafen komme, können wir auch gleich unsere Uhren wieder zurückdrehen auf Koreazeit. Was. Ist. Los?"
"Hm?"
Nicht sehr intelligent - ich weiß. Aber was will sie???

So-Ra seufzt.
"Wegen irgendwas bist du total aufgewühlt. Also erzähl mir einfach von eurem Telefonat, damit ich dir beim Sortieren helfen kann. Denn das wird es wohl sein. Oder?"
Ich atme ein paarmal tief durch, strubbele mir tüchtig den Kopf, um die Müdigkeit zu vertreiben - und versuche zu verstehen, wovon meine Besti da eigentlich redet.
Turbine, Unruhe, Telefonat, sortieren. - Hä? ... Okay, langsam. Ich habe wohl sehr unruhig geschlafen und sie damit geweckt. Aber ... Telefonat? Mit w... - aaaaah! Ich habe vorm Schlafen mit Joonie telefoniert, nachdem ich ihm ein paar Stunden vorher ... und So-Ra mir auf den Zahn gefühlt hat und ... oh.
Ich werde wahrscheinlich grade dunkelrot und frage mich, ob ich das alles vielleicht auch nur geträumt habe.
Gott, wie peinlich! Wo ist mein Mauseloch???

"Aha! I nailed it, right?"
"Vielleicht? Keine Ahnung! Gib mir einen Moment."
Wie war der genaue Wortlaut?

'Möchtest du mit mir aus diesen drei kleinen Häusern unser gemeinsames Zuhause bauen?'
'Nelli, du solltest für mich antworten.'
'Was denn?'
'Ich schlage vor, du schaust mir in mein unrasiertes, glücklich strahlendes Gesicht und sagst dann ja.'
'Ja!'
Ich hole tief Luft. Ich kann sehen, dass So-Ra gleich platzt vor Neugierde.

"Ich hatte ihm ja geschrieben, dass er die drei Häuser für uns reservieren soll. Da waren wir dran vorbeigefahren und sofort wie verzaubert gewesen, weil wir kurz vorher drüber geredet hatten - wie lange ich eigentlich noch diese Hinundherfahrerei veranstalten will. Da konnte ich mir aber noch überhaupt nicht vorstellen, meinen geliebten Balkon aufzugeben."
"Ich weiß. Und dieser Knoten hat sich ja zum Glück gestern Abend gelöst. Und dann?"
"Ich hab nie viel Platz gebraucht. Jedes dieser Häuschen allein ist groß genug, um die Wohnung zu ersetzen. Ich hab aber nicht geschrieben 'Reserviere alle, damit ich mir eins aussuchen kann.' Sondern 'Reserviere alle, damit uns niemand zuvorkommt.' Das ..."
"Das habe ich auch so verstanden. Das war ziemlich eindeutig. 1. ich bin jetzt bereit, umzuziehen und neu anzufangen. Und 2. es geht nicht um mich sondern um uns. Wie hat er denn reagiert?"
Au Mann. So-Ra! Wenn du das so knallhart aussprichst wie ... keine Ahnung ... dann ist das wirklich sehr eindeutig.

"Er hat sich wahnsinnig gefreut und dann ... selbst die Frage von mir an ihn formuliert, die er da rausgelesen hat. 'Möchtest du mit mir aus diesen drei kleinen Häusern unser gemeinsames Zuhause bauen?' Und ... Und ... ich habe ja gesagt."
Meine Beste strahlt wie ein Honigkuchenpferd.
"Und was heißt das jetzt?"
"Keine Ahnung? Ich bin zu verwirrt."
So-Ra stöhnt und dreht die Augen zur Decke. Ich protestiere.
"Heh! Das ist echt schwierig! Ich weiß jetzt nicht einmal, ob wir einfach beschlossen haben, zusammenzuziehen. Oder ob das schon ein Heiratsantrag war."
Meine Lieblingskröte bricht in schallendes Gelächter aus, direkt gefolgt von wütendem Bollern von der anderen Seite der Wand zum Nachbarhaus. Abrupt verstummt ihr Gelächter.
"Ups. Psssst! Da ist wohl jemand wach geworden."

Ich könnte schon wieder heulen vor lauter Verwirrung und Anspannung und Schlafmangel und überhaupt. So-Ra hatte schon zwei Beziehungen. Sie weiß genau, wie sich Liebe und Streit, Paarsein und Trennung anfühlen. Ich nicht! Zum Glück scheint sie das jetzt endlich auch zu kapieren.
"Komm her, Süße. Ich bin schon ein Biest. Bei so viel Interpretationsspielraum ist es kein Wunder, dass du so komisch geschlafen hast."
Sie legt sich wieder hin und zieht mich zu sich runter. Ich kuschele mich in ihre Arme und kann nach und nach die Anspannung loslassen.

Was wäre, wenn ... Wenn es nur hieße, dass wir zusammenziehen, dann ... dann wäre das gar nicht ungewöhnlich nach vier Monaten. Wir haben inzwischen so viel Zeit gemeinsam in seinem Zimmer oder in meiner Wohnung verbracht - das wäre einfach der nächste, logische Schritt - lass uns Alltag miteinander erleben, lass uns rausfinden, WIE es weitergehen könnte. Aber wenn ... uff! Wenn ich das andere Ende der Interpretationsmöglichkeiten annehme, dann ... habe ICH IHM einen Heiratsantrag gemacht. Nicht umgekehrt!
Völlig unerwartet überkommt mich hysterisches Gekicher. Ich habe Mühe, mich wieder zu sammeln und weiter zu denken.

Was wollte ich andeuten mit meiner ersten Nachricht? Dass ich endlich über meinen Schatten gesprungen bin, meinen Balkon innerlich hergeben kann - und all die Veränderungen in meinem Leben annehmen will. Dass ich vorwärts denken und gehen will. 
So-Ra und ich haben am Nachmittag zwar über Heirat und Kinder gesprochen. Aber eigentlich ... nur als Möglichkeit. Ich habe die Nachricht nicht geschrieben, um zu sagen: lass uns sofort heiraten und Kinder kriegen. Gemeint hatte ich eigentlich: ich bin dabei, den Panzer von meiner Seele zu sprengen, meine Welt zu weiten, Möglichkeiten zuzulassen - und du sollst ein Teil davon sein.
Was hat er dann noch gesagt? 'Ich danke dir! Und ich habe nicht die leiseste Ahnung, womit ich dich verdient habe.'

"Nein, das klang nicht nach einer Antwort auf einen Heiratsantrag. Joon hat sich bedankt und sich gefragt, womit er mich verdient hat. Aber für einen Heiratsantrag bedankt man sich doch nicht so demütig. Hoffentlich."
"Versteh ich nicht. Wo bist du grade?"
Ich denke meinen Gedankengang einfach noch mal laut, damit So-Ra mir folgen kann. Und es hört sich richtig an. Ich entspanne mich.
"Diese Antwort heißt doch vor allem, dass er sich immer noch zu gering ansieht. Und das wäre eine denkbar schlechte Basis für eine dauerhafte Beziehung. Joon muss sich mich nicht 'verdienen'. Er kann so glücklich mit mir und über mich sein, wie er will. Aber Dankbarkeit? Das wäre ein komischer Ansatz."
"Ich seh schon - allmählich wirst du klarer im Kopf. Und sicherer. Diese - oder irgendwelche anderen - Häuschen sind ein toller, offener Schritt in die richtige Richtung. Aber fest gemauert ist noch gar nichts. Prima - los! Ich bin gespannt."

Plötzlich sitze ich senkrecht im Bett.
"Weißt du, was das noch heißt?"
So-Ra schmunzelt.
"So einiges. Was davon meinst du jetzt grade?"
Ich strecke ihr die Zunge raus, und sie schlägt sich schnell die Hand vor den Mund, damit der unbekannte Nachbar nicht doch noch die Wand durchschlägt.

"Das heißt! Dass ich nicht verrückt geworden bin und mich selbst überholt habe. Sondern dass ich meiner Seele erlaubt habe, mehrere nächste Schritte auf dem ganz normalen Weg einer Beziehung zu denken. Zu wünschen. Und: dass ich mir zum jetzigen Zeitpunkt vorstellen kann, irgendwann mit Namjoon verheiratet und glücklich zu sein. Ja, ich liebe Joonie so sehr, dass ich mir vorstellen kann, mein Leben mit ihm zu teilen. Aber bitteschön einen Schritt nach dem anderen."
"Herzlichen Glückwunsch, meine Liebe. Das ist der Jackpot. Du bist grade eine riesige Etappe weitergekommen. Ich freu mich!"
Es ist in mir, als hätte jemand an einem schönen Frühlingstag alle Türen und Fenster weit aufgerissen. Ein lauer Wind, verheißungsvolle Farben, Düfte und Geräusche umspielen mich und ziehen mich nach draußen. Ich atme tief den Geruch von Freiheit ein und laufe in Gedanken mutig los.

Ein heftiges Gähnen bringt mir meine Umgebung wieder zu Bewusstsein. Der Wecker zeigt 4:51 Uhr, draußen ist es stockdunkel, auf der Straße regt sich noch nichts - und ich sitze hellwach im Bett, den Bauch randvoll mit Glück.
"Sollen wir versuchen, weiter zu schlafen?"
"Vergiss es! Das ist die Chance, wieder in ein einigermaßen ostasiatisches Zeitgefühl zu finden. Wir werden jetzt hübsch aufstehen, den Tag mit einem heißen Cafe Latte beginnen und nochmal in der Bildersammlung stöbern. Wenn es draußen hell ist, wirst du dich beim Notar melden, wir werden durch den Schlosspark zu deinem Baum spazieren, vielleicht auf den Friedhof gehen, packen, die Wohnung aufräumen, ein letztes Mal am Adventskranz sitzen und spätestens 19.00 Uhr schlafen gehen. Wer geht zuerst ins Bad?"

Diesmal bin ich es, die sich den Mund zuhält.
Das ist mal wieder typisch für meine energische Freundin. Zielorientiert, keine Widerrede, zack!
Grinsend schubse ich So-Ra aus dem Bett und gehe selbst in den Wintergarten, bis sie im Bad fertig ist. Ich spüre die Kälte dort nicht. In mir drin ist es warm und gemütlich und gelassen und zufrieden wie schon seit Monaten nicht mehr. Ich fühle unendlich viel Dankbarkeit für meine Menschen, für meine Möglichkeiten, für meinen nicht tot zu kriegenden Mut, immer weiter vorwärts zu gehen.
Ja - das ist gar keine schlechte Idee, zu Harry ans Grab zu gehen. Als ich mit Joon hier war, hatte sich das Grab noch nicht genug gesenkt, und der Stein war noch nicht gesetzt worden. Ich könnte auch mit der Gärtnerei die Bepflanzung besprechen. Darin habe ich ja jetzt durch meinen Barockgarten einige Übung. Und dann kann ich Harry erzählen, was in den letzten Monaten alles passiert ist. Das wird schön!

Hm. Wenn wir heute wieder in der Bildermappe stöbern - was möchte ich denn als nächstes wissen? Ich glaube, wir sollten nach Seiten suchen, auf denen Harry tatsächlich mal über sich selbst gemalt und überlegt und reflektiert hat. Vielleicht ...
Für mich ging es gestern Abend und heute früh um Beziehungen. Dazu kann er eigentlich über mich nichts geschrieben haben - weil es da nichts gab. Aber ... Hatte Harry eigentlich jemals eine Freundin? Oder Frau? Von der ich nichts mitbekommen habe? Er war ja vierzehn Jahre älter als Mama. Seine Jahre als Student und dann als Berufsanfänger in Seoul hat er nie erwähnt. Aber er war attraktiv, ein Gentleman, bald anerkannt und gut abgesichert. Ich kann mir nicht vorstellen, dass da keine einzige Frau ihre Fühler ausgestreckt hat.

"Bad ist frei!"
So-Ra trällert über den Flur am Wintergarten vorbei. Ihre Stimme verweht in Richtung Schlafzimmer. Plötzlich fasse ich einen Entschluss.
Wenn das hier mein Zuhause ist, dann soll es so jugendstilig bleiben, aber trotzdem ein bisschen mehr meins werden. Und ein bisschen was dafür kann ich heute schon anleiern.
Ich such mir Kleidung für den Tag zusammen, gehe ins Bad und überlege unter der Dusche weiter.
Harrys Schlafzimmer ist größer, hat aber nur sein Einzelbett. Das Gästezimmer, in dem ich bisher immer geschlafen habe, ist viel kleiner und mit dem Doppelbett, dem Wäscheschrank und der Kommode total voll. Das ist eigentlich Blödsinn. Ich sollte bei diesen beiden Räumen ein bisschen rumschieben, das Doppelbett in den großen Raum stellen und mir dafür eine neue Matratze gönnen. Die Küche ist alt, aber urig. Die lass ich so. Das Bad auch.

Ich steige aus der Dusche, trockne mich ab und sehe mich dabei um.
Ich sollte nur alle elektrischen Geräte gegen deutlich Strom sparendere Exemplare austauschen.
Ich ziehe mich an und betrachte auf dem Weg zum Esszimmer die Fußböden.
Überall das Parkett abschleifen und neu versiegeln. Kann man Kacheln irgendwie gründlich reinigen und ... auch sowas wie versiegeln? Irgendwie ist mir die Wohnung auch im ganzen einen Ticken zu voll. Hm.

So-Ra wurschtelt noch in der Küche. Ich frage kurz nach, was sie vorbereitet, und decke entsprechend den Tisch.
Ich glaube, es muss gar nicht so viel raus. Es sollte nur überall heller werden.
Mit zwei Schritten bin ich an der Wand und betrachte die Tapete. Das untere Viertel der Wand ist dunkelrot gestrichen, darüber befindet sich eine gemusterte Tapete mit kräftigen Farben, großen Ornamenten - und die ist im Laufe der Jahre stark nachgedunkelt.
Ob man sowas Altes reinigen kann? Oder vielleicht kann man heute noch Tapeten von damals kaufen? Vor allem der Flur ist furchtbar duster.

"Erde an Nelli!"
"Huch!"
Ich ziehe meine Hand von der Tapete, als hätte ich mich verbrannt. So-Ra steht direkt neben mir.
"Jagst du grade konzentriert antike Spinnen, oder was machst du da an der Wand? Du bist mal wieder vollkommen abwesend."
"Ich ... hab eben gedacht - wenn ich mich hier jetzt so wohl und zu Hause fühle, dann ..."
Auf einmal klingt es vermessen, an Harrys Besitz etwas verändern zu wollen. Darf ich das überhaupt?
"Dann?"
"Dann ... ich dachte - dann könnte ich die Wohnung doch ein bisschen ... naja."
"Ach Schnucki. Machs nicht so kompliziert. Natürlich darfst du die Wohnung umräumen. Du dürftest auch alles verscherbeln. Oder lassen, wie es ist. Oder Sachen mit nach Seoul nehmen. Es gehört alles dir. Oder du wartest einfach, bis du dich sicherer fühlst. Komm frühstücken."

Wir setzen uns und zünden die erste Kerze am Adventskranz an. So-Ra hat eine Suppe gekocht, aber auch Brot, Butter und Marmelade dazugestellt. Da es noch so früh morgens ist, lassen wir uns ganz viel Zeit.
"Sag mal - wenn das Haus und die Einrichtung so alt sind - darfst du dann überhaupt was verändern?"
Ich grabe in meinem Gedächtnis, ob der Anwalt im März irgendwas dazu gesagt hat.
Wie heißt das hier? Denkmalschutz oder so.
Ich muss wohl etwas skeptisch aussehen.
"Oje. Bei dem Gesichtsausdruck ... Ich ahne nichts gutes."
"Hm. Das Recht heißt hier 'Denkmalschutz'. Mich macht grade nur nervös, dass mir das Wort so geläufig ist. Erinnern kann ich mich nicht. Aber ich wollte ja heute sowieso den Anwalt kontaktieren. Der wird es wissen."

"Hoffentlich bremst das deine Gedankenspielereien von eben nicht gleich wieder aus."
"Wir werden es sehen. Aber sowas wie eine Sanierung des Originalparketts oder das Tauschen von Schlafzimmer und Gästezimmer können die mir eigentlich nicht verbieten."
"Du willst ... Eigentlich logisch. Du wirst oft zu zweit hierher kommen. Dann ist es sinnvoll, das große Bett in den großen Raum zu stellen und die Schränke umzusortieren."
"Die Matratzen werden auch nicht über hundert Jahre alt und denkmalgeschützt sein. Aber das ist Zukunftsmusik. Erst die Villa, die Stiftung, die Beziehung, die seelische Gesundheit, vielleicht Jinheung Village. Dann Berlin. Nur diese beiden Zimmer - das ist gleich fürs nächste Mal sinnvoll."
"Wann auch immer das sein wird. Ja, das klingt vernünftig."
Gemeinsam decken wir den Tisch ab.

"Und jetzt?"
Die pure Neugierde springt meiner Besti aus dem Gesicht. Ich schaue kurz auf die Uhr, dann nach draußen.
"Für den Anwalt zu früh, für den Friedhof zu dunkel, also auch zu früh. Packen? Bilder kucken?"
"Hast du denn eine konkrete Idee, nach was für Bildern du suchen willst?"
"Ich möchte mal was über den Mensch Harry erfahren, über sein Leben, seine Verarbeitung, nicht immer nur im Bezug auf mich."
"Okay. Dann stelle ich dir mal ein paar Fragen. Ich habe da jetzt schon so oft durchgeblättert, ich kenne inzwischen viel mehr Bilder als du."
"Wo setzen wir uns hin?"
"Nebenan."
Bewaffnet mit Teetassen und Kuscheldecken installieren wir uns gemeinsam auf dem Sofa.

So-Ra hat die geschlossene Mappe in der Hand.
"Wie stabil bist du inzwischen? Traust du dich allmählich an den Unfall deiner Eltern oder Großeltern ran? Oder damit, wie es Harry danach ging? Du könntest nach deiner Mutter fahnden. Ach ... und wer ist eigentlich Oh-Ryu?"
"Wer? Nie gehört."
Ich lausche in mich hinein.
Der Name ist nicht so häufig. Aber wer sollte das sein? Doch eine Freundin von Harry?
Keine Ahnung, es klingelt nichts in meinem Kopf. Also ist es jetzt nicht wichtig.
"Die Autoverbuddelgeschichte möchte ich noch nicht ansehen. Aber ... wie viele sozusagen Rückblenden hat Harry denn da drin? Also zum Beispiel zum Tod seiner Eltern oder Mamas Ankunft in Korea?"
So-Ra blättert ein bisschen.
"Da sind schon mehrere. Und die Seiten über die zwei Unfälle sind nah beieinander."
"Puh."
Ich bin etwas ratlos, ob ich mich da schon ranwagen will.

"Das klingt ja eher nach 'nein'. Pass auf. Auf der allerersten Seite geht es direkt um den Unfall deiner Eltern. Aber ziemlich bald danach kommen kleinere Gemälde auf ganz anderem Papier, zum Teil drangeheftet, irgendwie ganz alt. Wie ... Bilder aus der Schule."
"Das klingt interessant. Vielleicht verrät Harry da, wie er auf die Idee mit dem Malen gekommen ist."
"Moooment. So. Ich glaube, wir fangen mit dem hier an."
Sie legt eine Doppelseite vor mir auf den Wohnzimmertisch. Ich bin etwas überrascht sowohl von dem bunten als auch dem Sammelsurium.
"Wo war das in der Mappe?"
"Fast ganz vorne. Danach kommen noch so eine Bilderseite und dann ein reiner Text. Ich verstehe aber natürlich nicht, ob der zu diesen Bildern oder zu den nächsten gehört."
"Hm."
Etwas unschlüssig greife ich zu den ersten Bildern und übersetze laut.

'Kleine Übungen zwischendurch, damit ich nicht durchdrehe vor lauter Schmerz. Familie Woo hat sich angeboten, mich zu unterstützen. Bei Deiner Freundin ist Cornelia wirklich gut aufgehoben.'
'Die Arbeit lenkt mich ab, das Malen auch. Sonst würde ich dauernd mit Cornelia um die Wette heulen.'
'Beim nächsten Besuch in Eurem Haus werde ich auch ordentliches Aquarellpapier mitnehmen. Bunte Farben gegen das Grau in mir drin.'

"Das scheint etwas aus dem Zusammenhang gerissen zu sein. Zeig mir doch mal das nächste."
So-Ra legt mir noch eine Seite mit Bildern hin, die alle alt und hier nur aufgeklebt sind.


'Meine Version von C. D. Friedrichs 'der Wanderer'. Ich erinnere mich, dass mir das damals viel Spaß gemacht hat.'
'Danke, dass Du das aufgehoben hast.'
'Übungen zur freien Perspektive.'

Einen Moment lang bestaunen wir das gute Auge, die leichte Hand und die scheinbar mühelos hingelächelten Skizzen.
"Ich bin echt beeindruckt. Seine Bilder aus der Schulzeit sind schon richtig gut. Aber wenn DAS kleine Übungen sind für ihn - dann wundert mich nicht, wie leicht und treffsicher er all die anderen Szenen und Zeichnungen aus dem Gedächtnis gemalt hat."
"Naja - dieses Mädchen im Park hat ihm ja wohl unwissentlich Modell gesessen."
"Stimmt. Aber immer, wenn ich mit drauf bin, muss er das abends aus dem Kopf gemalt und geschrieben haben, um den Tag zu verarbeiten. Ich habe ihn nie mit Farben und Malblöcken oder einer Staffelei gesehen. Das wäre ja unterwegs auch gar nicht gegangen."

So-Ra nickt.
"Du hast allerdings recht. Das wirkt alles etwas ziellos und ohne Zusammenhang. Ich meine ... wenige Tage nach dem Unfall war er offensichtlich total überfordert und neben der Spur. Ich schau mal, was ich hier noch habe. Kannst du die Inhaltsliste nach der Textseite durchforsten? Das fängt an mit ... ik ertr...trage di fotoss nikt mer."
Ich bin so in den Moment vertieft, dass ich keine Zeit habe, über ihre niedliche Aussprache zu lächeln. Während ich das Inhaltsverzeichnis absuche, zieht So-Ra weitere Bilder aus der Mappe.
"Hier. Das muss verrutscht sein. Vom Datum her gehört diese Seite eigentlich zwischen die Malereien und die Textseite."
"Zeig mal. ... Ja, das passt. Hier stehen erst 'meine alten Bilder', dann 'Umzug zu So-Ra', danach 'Gedanken vor der Beerdigung'."

Etwas ratlos sitzen wir da mit den ganzen rausgeholten Seiten in den Händen.
"Ach, gib her. Erst der Umzug."
"Schätzchen?"
"Ja?"
"Du bist mir grade zu pragmatisch und verkopft. Vergiss bitte das Fühlen nicht."
Autsch!
Verlegen trinke ich meinen lauwarmen Tee und höre nach innen.
Wo sie recht hat ...
"Danke für deine scharfe Beobachtungsgabe. Ich muss langsamer machen."

Sie legt mir eine Seite mit zwei Bildern auf die Decke über meinen Beinen. Schlagartig zieht sich alles zusammen in mir, weil die beiden Bilder so ähnlich und doch so unterschiedlich sind.


So-Ra schaut mir über die Schulter und nimmt mich spontan in die Arme.
"Du kannst jederzeit aufhören. Das weißt du."
"Hm. ... Will aber jetzt nicht. Da klingelt was ganz hinten im Kopf."
Still lese ich die wenigen Worte unter den Bildern.

'Cornelia in ihrem Zimmer, beim Packen mit Rae-Jin.'
'Sie sieht so verloren aus.'
'Meint Cornelia, sie muss mich trösten?'
'In dem Moment, als sie mich bemerkt hat, hat sie angefangen zu lächeln. So traurig.' 

"Kannst du dich erinnern, wie das war, als ich zu euch gezogen bin?"
"Ich weiß vor allem noch, dass das seeeehr plötzlich kam. Ich fand die Idee toll. Aber ich hatte wohl überhaupt nicht kapiert, was der Auslöser war. Ich wollte jubeln und spielen. Aber du hast dauernd geweint. Vor allem nachts. Also bin ich zu dir ins Bett gekrabbelt. Da hat es meistens aufgehört."

"Wir haben in einem Zimmer geschlafen, oder?"
"Ja. Mein Zimmer war ja groß genug. Nachdem der schlimmste Schmerz voüber war, ha..."
"... Hab ich das genau so geliebt wie du. Ja, ich denke, es war eine gute Entscheidung. Und deine Mutter hat dann wohl mit mir zusammen meine Sachen gepackt."

Noch einmal sehe ich die beiden Bilder an. Mir bleiben die Worte fast im Halse stecken.
"Was muss Harry gelitten haben. Mir war nicht bewusst, wie sehr er Mama geliebt hat. Und dann musste alles auf einmal organisiert werden. Und gearbeitet hat er in den Wochen anscheinend auch noch. Und die Schuldgefühle. Und das kleine Kind auf der verzweifelten Suche nach Halt und Normalität."
So-Ra hört mir aufmerksam zu.
"Und ich hatte ja auch Schuldgefühle. Deswegen hab ich wohl versucht, für ihn fröhlich zu sein."
"Was dir, wie du hier siehst, ganz hervorragend ... nicht ... gelungen ist."

Mir kommen die Tränen.
Wie anders hätte alles werden können, wenn wir damals offener... Naja. Schnee von gestern. Ich war ein kleines Kind. Er MUSSTE mich beschützen vor seinen Gefühlen. Aber es tut gut zu wissen, wie sehr Harry mich geliebt hat. Er hat lange weit über seine Kräfte hinaus alles Erdenkliche getan, um mir Geborgenheit zu geben und den Verlust auszugleichen.

Tränenblind wende ich meinen Blick durch den Wintergarten hinaus in den großen alten Innenhof. Da wird mir bewusst, dass es inzwischen hell geworden ist und also Vormittag sein muss.
"Ich ... glaube, ich hab für den Moment genug. Lass uns was Praktisches machen und in Bewegung kommen."
"Gute Idee! Anwalt? Friedhof?"
"Erst Anwalt, dann eventuell Friedhofsgärtnerei, dann Friedhof."

........................
1.7.2023    -     27.3.2024

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