74 - nach Hause

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Solange wir über Deutschland fliegen, sehen wir unter uns nur eine undurchdringliche Wolkendecke. Aber ich bin schon neugierig, wo unsere Flugstrecke eigentlich langführt. Ich greife mir das Bordmagazin und blättere ziellos darin herum, bis ich auf eine interessante Seite stoße, die meine Frage sofort beantwortet. Eine Landkarte, die unsere Flugroute zeigt. Hätte ich aus dem Kopf sagen sollen, welche Länder auf dem direkten Weg per Luftlinie liegen - ich wäre zum Beispiel nie auf die Idee gekommen, dass wir nördlich von China entlang fliegen!


Nach dem Abendessen wird es etwas ruhiger in der Kabine. Draußen fliegt uns die Dämmerung entgegen. Aber zum Schlafen sind wir alle noch viel zu wach. Die Lichter gehen an. Manche lesen, schauen einen Film oder machen einen auf work-o-holic. Die Atmosphäre ist entspannt, in unserer direkten Umgebung sitzen keine Koreaner. Das passt.

So-Ra deutet auf meine Handtasche.
"Wollen wir? Oder bist du wegen frühem Aufstehen schon reif fürs 'Bett'?"
"Klar! Wir müssen ja keine Doktorarbeit drüber schreiben."
Fast andächtig ziehe ich Harrys Bildermappe aus meiner Tasche und reiche sie rüber.
"Weißt du, wo die Einschulungsbilder sind?"
"Hab sie schon. Allerdings würde ich lieber mit deinem zweiten Umzug anfangen. Danach dann die Einschulung. Die Bilder sind so positiv."
"Na, dann los."

Meine Besti legt das erste Bild vor mir auf den Tisch. Darauf sitze ich zwischen einer Menge Kartons und sehe ... wenig begeistert aus. Wenn man es nett formuliert.


"Oje. Hab ich mich denn gar nicht auf Harry und die Villa gefreut?"
"Sieht eher nicht so aus. Irgendwie scheinen das auch viel mehr Kartons zu sein als beim ersten Umzug zu uns."
"Naja - ich denke mal, dass beim Umzug zu Euch nur alles Wichtige mitgenommen worden ist. Also das Nötige und das, woran ich sehr gehangen habe. Damit es mir leichter fällt. Zu mehr wird auch Harry gar nicht die Kraft gehabt haben."
"Dann hat wahrscheinlich meine Mutter in der Zwischenzeit alles andere in Ruhe gesichtet und mit mütterlichem Verstand entschieden, was letztlich alles zu deinem Onkel mitgehen soll."
"Ich les mal."
Ich drehe das Bild um und konzentriere mich auf den 'Brief', der wie immer an meine Mutter gerichtet ist.

"Liebe Jutta!

Nun bist Du schon fast zwei Monate fort, und ich habe das Gefühl, es will gar nicht wieder Tag werden. Ich hangele mich von Tag zu Tag, stolpere von einer Entscheidung zur nächsten und tappe die ganze Zeit wie ein Blinder im Dunklen.

Schon der erste Satz reicht, um mich aus der Bahn zu werfen. Schlagartig kommen mir die Tränen, und ich kann kaum weiter sprechen.

Ich bin ja erwachsen und kann mich inzwischen bei der Arbeit zusammenreißen. Aber unserer Cornelia kann ich nichts vormachen. Sie spürt meine Trauer, spiegelt sie, versucht, mich zu trösten. Sie benimmt sich ungewöhnlich brav und wie gedeckelt. Manchmal habe ich sogar das Gefühl, dass SIE Schuldgefühle hat. Was absurd ist. Aber wie soll ein dreijähriges Kind auch damit umgehen? Ich selbst habe inzwischen eine Therapie für trauernde Angehörige begonnen und besuche regelmäßig eine Erziehungsberatungsstelle. Aber ob das reicht?

Heute ist Cornelias Dachstube fertig geworden - nach ihren Bildern und Träumen, und mit vielen geliebten Dingen aus ihrem Zimmer bei Euch. Da stehen ihre Lieblingsfotos von Euch als Familie - auch wenn ich selbst das kaum aushalte. Aber sie braucht das jetzt, und das geht absolut vor. Ich hoffe, das wird ihr gut tun. Wir waren vor ein paar Tagen zusammen in Eurem Haus und haben alles ordentlich verpackt, was noch mit soll. Aber sie wirkte die ganze Zeit so traurig und verloren. Ihre ganze bisherige Welt löst sich auf. Wie schwer muss das sein!

Erst darf sie einmal beim Onkel übernachten. Am nächsten Morgen hat sie keine Eltern mehr. Ein paar Tage später zieht sie zur Freundin. Die ist wenigstens eine Konstante in ihrem Leben. Und jetzt verliert sie die auch noch, weil sie nun zum Onkel soll. Aber immer, wenn meine Arbeit es erfordert, dann soll sie doch wieder zur Freundin. Sie wird jahrelang herumgereicht werden wie ein Wanderpokal, bis sie alt genug ist, um hier ein paar Tage auch ohne mich leben zu können.

Aber ich kann es doch nicht ändern! Ich kann dieses verhängnisvolle Telefonat nicht rückgängig machen. Ich kann nur mein bestes geben und hoffen, dass dieses ganze Drama die Kleine nicht völlig zerbricht. Ich habe so Angst um Dein Mädchen. Ich will mein bestes geben, damit es ihr immer gut geht. Das verspreche ich Dir!"

Während ich diese schmerzhaft anrührenden Worte laut übersetze, spüre ich die tiefe Trauer, die meinen Onkel gefangen hielt. Aber nebenbei geschieht noch etwas in mir. In all den Monaten, die ich nun überstanden habe, hatte ich das Gefühl von Schuld - gegenüber meinen Eltern, und gegenüber Harry. Aber NICHTS in seinen Tagebüchern, Briefen, Bildern hat auch nur den leisesten Vorwurf enthalten. Er ist mir durch jedes Wort nur immer näher gekommen. Er hat mich versöhnt, getröstet, aufgerichtet. Er hat mir gezeigt, wer er war, und wer ich bin.

Es ist, als ob in mir ein Knoten platzt. Nein, eine ganze Mauer fällt. Ich spüre zum ersten Mal in all dieser Zeit, dass ich mich für nichts schuldig fühle.
Nicht für den Unfall, nicht für Harrys unsägliches, jahrelanges Leid. Aber es zerreißt mich, dass ich IHM nicht mehr sagen kann:'auch DICH trifft KEINE Schuld!' Das ist so unsagbar grausam!

So-Ra zieht mich aus meinem Sitz und rüber auf ihren Schoß.
"Erzähls mir. Du wirkst, als ob Du ganz viel durcheinander fühlst. Und das alles will raus. Lass es raus, meine Liebe."
Es ist mir ein bisschen unangenehm trotz der Sichtwände, aber ich kann diese neue Erkenntnis, so gut sie ist, nicht genießen. Nur das Wissen um die anderen Menschen hinter diesen Wänden hilft mir schließlich doch, mich zu beruhigen und einigermaßen normal zu reden.

"Er muss unfassbar gelitten haben zwischen Trauer und Verantwortung. Das kleine Mädchen hat diese Schwingungen bestimmt aufgenommen, aber ich habe KEINERLEI Erinnerung daran, das er mich den Verlust oder die Überforderung hat 'ausbaden' lassen. Ich erinnere bewusst nur Spiel, Phantasie, Kreativität, die Faszination der Natur, die Geheimnisse der Bibliothek, das selbstverständliche Wandern zwischen zwei Kulturen und Sprachen, ganz viel Nähe, ganz viel sorgfältiges Hinspüren. Er hatte eine klare Linie und hat die unaufgeregt durchgezogen, aber ich habe mich nie eingeengt gefühlt. Ich durfte mich ausprobieren, hatte für alles seine Rückendeckung. Er war nie der strenge, alte Onkel sondern ..."
Ich kann ein Schluchzen nicht unterdrücken, weil es so sehr weh tut.
"... er war der beste Vater, ... den ein junges Mädchen haben kann."

Wieder halten wir eine Weile stille in diesem schmerzhaften Sturm.
"Aber weißt du, was ich eben noch kapiert habe? Oder ... sogar gespürt. Ich ... ich habe keine Schuldgefühle mehr. Ich war ein kleines Kind und er ein hilfloser Onkel. Das Unglück ist nicht durch uns passiert. Das ... Schlimme ist jetzt nur, ..."
Und schon wieder werden meine Augen zu Springbrunnen.
"..., dass du ihm das nicht mehr sagen kannst. Darum hat dich die Nachricht von seinem Tod auch so gründlich aus der Bahn geworfen. Du wusstest ja noch gar nicht - oder nicht mehr, oder so -, was alles dahinter zum Vorschein kommen würde. Aber deine Seele, die wusste, dass da leider ein ganz wichtiges Wort verpasst worden ist. Nämlich:'Du bist nicht schuld!' Ihr beide ward nicht Schuld, und ich bin unendlich glücklich, dass du das grade für dich selbst erfühlt hast."

Ich nicke und kuschele mich in ihre Arme wie ein Kind. Eine Stewardess kommt vorbei und sieht uns irritiert an. Schnell hakt So-Ra ein, bevor es allgemeine Unruhe gibt.
"Sie hat etwas nicht so schönes erfahren. Aber es wird schon wieder. Keine Sorge!"
Die Stewardess verschwindet, und meine Freundin schaut mich direkt an.
"Du hast doch das Tagebuch von Harry für Dich gelesen. Und selbst seit März ganz, ganz viel Tagebuch geschrieben. Ich glaube fast, dass du nach dieser Woche da noch mal reingucken solltest. Ich vermute, dass du sein Buch für dich jetzt mit ganz anderen Augen sehen und verstehen wirst. Oder?"

Der Bann ist gebrochen. Ich richte mich auf, putze mir möglichst leise die Nase und rutsche wieder rüber in meinen Sitz.
"Da könntest du recht haben. Jetzt verstehe ich wahrscheinlich viel mehr, wie er mich gesehen und behandelt hat, warum er welche Entscheidungen getroffen hat."
Eine Weile sitzen wir still nebeneinander und betrachten noch das Bild. Da legt So-Ra das nächste dazu, und ich mache große Augen. Sofort fühle ich mich wieder wie die kleine Prinzessin, die das Paradies entdeckt.

Spontan fangen So-Ra und ich an zu lächeln. Mein Zimmer unterm Dach der Villa hat sich ja im Laufe der Jahre immer wieder verändert. Aus dem rosa Kleinmädchentraum wurde ein Abenteuerspielplatz, ein Kinderforschungszentrum, eine Teenie-Idol-Plakate-Bude - und schließlich das Zimmer einer jungen Dame mit Geschmack und Stil.
Aber dieses erste Kleinmädchenzimmer war mein, nein, unser Ein und Alles. Mein Rückzugsort, mein Zuhause, meine Möglichkeit, ins Reich der Phantasie zu entfliehen, ein Ort konzentrierter Spiele und wilder Toberei.

"Mann, ist DAS lange her! Ich weiß noch, dass ich im ersten Moment nicht wusste, ob ich mit dir begeistert oder total eifersüchtig sein sollte, als wir an dem Tag zum ersten Mal in dieses Zimmer kamen. Es war vom ersten Moment an auch für mich ein wunderbarer Ort."
"Weißt du, was? Wenn das ein Foto wäre, wäre es auch eine schöne Erinnerung. Aber dieses gemalte Bild zeigt perfekt, wie viel Geborgenheit mir dieses Zimmer gegeben hat. Ich hoffe, ich habe mich damals ordentlich bei Harry bedankt. Denn ich habe es ja sehr geliebt."
"Steht hinten was drauf?"
Auf der Rückseite ist wenig Text, aber der tut richtig gut.

So sieht das Märchenland von Cornelia aus. Sie war ganz still, als sie es gesehen hat. Aber ihre traurige Miene war verschwunden. Beinahe andächtig ist sie durch den Raum gegangen, hat jeden Gegenstand berührt, den sie schon von vorher kannte, hat sich alles angesehen, was neu war. Als sie einmal in der Runde rum war, ist sie zu mir gekommen und hat nur ihre Arme ausgestreckt. Ich habe sie hochgehoben. Sie hat mich ganz fest umarmt und leise in mein Ohr geflüstert:'Danke, Onkel Harry. Das ist genau wie in meinen Träumen. Alles ist bei mir, was ich lieb habe. Und dich hab ich ganz dolle lieb.'

Die kleine Maus hatte keine Ahnung, wie glücklich sie mich damit gemacht hat. Wie erleichtert ich war. Wie viel Mut es mir gemacht hat, immer mein Bestes zu geben - und dass ich das schaffen kann. Cornelia ist eine besondere Seele. Sie ist wirklich eine Sarang Namja!

Diesmal weine ich Freudentränen. Wie viel Hoffnung, wie viel tiefes Verstehen steckt in diesen paar Worten!
"Das macht mich richtig glücklich! Er durfte gleich ganz am Anfang erfahren, dass er durchaus vieles sehr gut gemacht hat. Und dass ich ihn immer geliebt habe. Für mich klingt das jedenfalls nicht so, als hätte ich das nur vorgespielt, um ihn zu beruhigen. Dieses Zimmer war wirklich ein wunderbares Geschenk, und ich war ehrlich dankbar."

Plötzlich reiße ich mit einem ruckartigen Gähnen meinen Mund auf. Und bin schon wieder froh über die Sichtwände. So-Ra kichert.
In der Kabine entsteht ein bisschen Unruhe. Die Stewardessen gehen herum, verteilen noch mal Getränke, dazu Decken und Kopfkissen. Einige machen sich auf zur Toilette, viele Lichter gehen aus. Wir sehen uns an.
"Dann lass uns auch schlafen. Der Tag war echt lang. Und er kann nicht schöner enden als mit diesen Bildern und Erinnerungen."
Kaum ist die Schlange an der Toilette abgearbeitet, machen auch wir uns fertig für die Nacht, kippen unsere Sitze, schnallen uns an und löschen unsere Lichter. Das allgemeine Licht in der Kabine ist inzwischen deutlich gedimmt worden, und in dem stillen Schummerlicht bekomme ich auch gleich die nötige Bettschwere.

Ich bin so dankbar für dieses Jahr, für all die Menschen und Erlebnisse. Ich habe so viel gelernt! Aus Schmerz und aus Freude. Aus Verzweiflung und aus Mut. Von Harry, von Famile Woo, von jedem einzelnen der Jungs. Von meinem wunderbaren Freund Namjoon, von den Menschen hier in Berlin und dort in Seoul. Ich habe so viel Kraft und Liebe und Vertrauen dazu gewonnen. Wie reich bin ich beschenkt!

Leise flüstere ich noch etwas, bevor ich endgültig einschlafe.
"Kannst du, allerliebste Freundin, mir verraten, ob du nach dieser Stunde immer noch glaubst, ich könnte irgendwann keinen Wert mehr auf deine unbezahlbare Freundschaft und Treue legen?"
"Keine Sorge. Ich weiß und fühle das jetzt auch wieder. Wir werden uns nie verlieren."

........................

Eine Sache, für die ich liebend gerne mehr bezahle, ist der echte Kompfort in der Luxusklasse. Da wir von Frankfurt nach Seoul 'gegen' die Uhr fliegen, ist die Nacht entsprechend kurz. Aber während der hintere Bereich des Flugzeugs gnadenlos nach wenigen Stunden wieder aufgescheucht und mit einem höchst unwillkommenen Frühstück traktiert wurde, durften wir vorne eine kleine Tafel an unsere Sichtwand hängen mit der Uhrzeit, wann wir geweckt werden wollen. Kein grelles Licht, kein überflüssiges Gerede, kein Essenswagengeklapper. Viiieeel Rücksicht. Also schlafen wir gepflegte sechs Stunden tief und fest und werden dann von einem leisen Brummen unter den Kopfkissen sanft geweckt. Das ist nicht riesig viel Schlaf, aber genau richtig, um in den koreanischen Zeitrhythmus zu finden, abends früh schlafen zu können und am Montag Morgen fürs Büro rechtzeitig aus den Federn zu kommen.

Wir liefern Decken und Kissen ab, entern die Bordtoilette, helfen dem Kreislauf mit einer Ladung kalten Wassers auf die Sprünge und freuen uns aufs Frühstück mit frisch gebrühtem Kaffee. Wir befinden uns grade über der Grenze zwischen der Mongolei und China und haben noch gut drei Stunden Flug vor uns.

Völlig selbstverständlich greife ich nach dem Abräumen des Geschirrs zu Harrys Bildermappe und halte sie So-Ra hin. Die grinst bloß und zieht zwei Papiere heraus.
"Na? Süchtig geworden?"
"Sowas von!"
Ohne weitere Umschweife legt meine Freundin das erste Bild vor mir auf den Tisch.


Da ist es - das grüne Kleid ... Ich habe es geliebt. Wie schön, dass Hobi das retten konnte! Ich war so stolz an dem Tag. Und ein bisschen wie das achte Weltwunder wegen der typisch deutschen Schultüte.

"Boah, was war ich froh, dass meine Mutter mir auch so ein Teil gebastelt hat. Da wäre ich sonst wirklich geplatzt vor Neid."
"Mir war das auch ganz recht. Ich hatte es ja nie so mit im Mittelpunkt stehen. Aber weil wir zu zweit damit waren, war es völlig okay. Allerdings meine ich, mich dunkel zu erinnern, dass unsere Lehrerin nicht so begeistert war von der Extrawurst. Wir durften die auch nur bei der Einschulungsfeier tragen, nicht mit in die Klasse nehmen und schon gar nicht vor den anderen aufmachen."

"Stimmt. Aber weil wir hinterher mit beiden Familien zusammen essen gegangen sind, haben wir sie dann im Restaurant feierlich geöffnet."
"Harry und deine Mutter hatten sich mit Sicherheit abgesprochen. Die Süßigkeiten waren genau gleich. Was war da noch? Genau! Die ersten Armbanduhren."
"Mit Ziffernblatt. Das hat uns natürlich angespornt. Wir konnten glaube ich ziemlich schnell die Uhr lesen deshalb. Ich hatte dann noch Biegepuppen für mein Puppenhaus. Eine Lehrerin, zwei Kinder und dazu Tafel, Tische und Bänke. Was war bei dir noch drin?"

Ich muss einen Moment überlegen.
Ich hatte ja kein Puppenhaus. Aber was ...?
"Ach, ja! Bei mir waren es wasserfeste Farben, gute Pinsel, eine größere Malschürze und ein Bastelbuch zum Thema 'Steine bemalen'."
So-Ra stutzt.
"Das hatte aber auf den ersten Blick nichts mit Schule zu tun."
"Nö. Mal sehen, ob er was dazu schreibt."
Ich drehe das Bild um.

Liebe Jutta!

Du könntest nicht stolzer auf Deine Cornelia sein, als ich es heute bin. Deine kleine, inzwischen ganz schön große Maus hatte heute ihren ersten Schultag. Sie hat sich nun Wochen lang darauf gefreut, seit klar war, dass sie und So-Ra auch in der Grundschule gemeinsam in eine Klasse gehen werden.

Die Lehrerin ist eine echt harte Nuss. Woo Rae-Jin und ich mussten zu zweit beim Direktor erscheinen und richtig kämpfen dafür.

Normalerweise werden Zwillinge und Freunde nach dem Kindergarten ganz gezielt in verschiedene Klassen gesteckt. Das wäre aber sowohl für die Mädchen als auch für Rae-Jin eine Zumutung gewesen. Cornelia braucht nach wie vor unbedingt ihre Freundin an ihrer Seite. Und die unterschiedlichen Termine, Klassenarbeiten, Ausflüge, Sporttage wären logistisch ziemlich ausgeufert, da Cornelia ja noch jahrelang zwischen Woo's und der Villa wechseln wird. Damit konnten wir uns dann schließlich durchsetzen.

Dann kam die Diskussion um die Schultüte. Das Argument, dass unser Mädchen mit beiden Kulturen aufwachsen soll, hat dabei geholfen. Zum Glück durfte So-Ra dann auch eine Tüte bekommen. Gern gesehen haben sie es nicht, aber auch ein Onkel kann mal zur kämpfenden Löwenmutter werden.

Den Inhalt wollte die Lehrerin auch noch bestimmen, obwohl die Mädchen die Tüten ja gar nicht in der Schule aufmachen durften. Aber da haben wir gestreikt.

Wir haben es ja immer so gehalten, dass die Mädchen unterschiedliches Spielzeug bekommen, damit sie gerne hin und herwechseln. Also hat So-Ra neue Biegepuppen für ihr Puppenhaus bekommen. Und Cornelia hat in diesem Sommer so viele 'Edel'steine in ihren Taschen nach Hause geschleppt, dass sie ein Bastelset zum Steine bemalen bekommen hat. Dann fliegen die Kiesel wenigstens nicht mehr überall rum. Ich habe vor, auf der Fensterbank in ihrem Bibliothekserker eine Art 'Galerie' für ihre Kunstwerke aufzubauen. Dann kann ihre Kreativität auch viel besser gewürdigt werden.

Mittags haben wir gemeinsam in einem Restaurant gefeiert. Und da durften die beiden dann endlich ihre Tüten aufmachen. Die Freude war groß. Die Armbanduhren mussten sofort umgebunden werden. Ich bin sicher, es wird nicht lange dauern, bis die beiden die Uhr richtig lesen können. Und dann können sie gleich auch lernen, selbst auf die Buszeiten und andere Termine zu achten.

Es war jedenfalls ein fröhlicher und zuversichtlicher Start in den neuen Lebensabschnitt.

Eine Weile schwelgen wir in Erinnerungen über unsere ersten Monate und Jahre in der Schule. Kleine Erfolge, große Herausforderungen. Über das blaue Auto oder das Busunglück reden wir nicht. Heute bekommt vor allem das Schöne Platz.
"Du, sag mal, du ..."
"

Maldu."
"Dumme Nuss!"
"Knack!"
"Grrrr. Du hast von zwei Bildern gesprochen. Was ist denn auf dem anderen drauf?"
"Hier."


So-Ra legt das zweite Bild auf den Tisch, und ich bekomme augenblicklich Herzchen in den Augen. Zumindest klingt So-Ras Gelächter beim Blick in mein Gesicht so. Das Bild ist aber auch zu niedlich. Harry hat mich gemalt, wie ich an einem Tisch sitze, einen Stift in der Hand, und mit ernsthafter Miene auf ein Heft vor mir starre. Hochkonzentriert - und so lebendig, dass ich fast drauf warte, dass ich gleich anfange, Buchstaben zu malen.

"Wie goldig! Ich fühle mich sofort wieder wie die Sechsjährige, die 'A's und 'O's und Hangul geübt hat. Ich habe es immer so sehr geliebt, wenn Harry mir vorgelesen hat. Wahrscheinlich wollte ich das ganz schnell beherrschen, damit ich all meine Lieblingsgeschichten und noch viel mehr selbst lesen konnte."
"Das ging mir doch genau so. Ein Bild von mir aus der ersten Zeit sähe wohl ziemlich ähnlich aus. Wobei ich mich erinnern kann, dass wir unsere Namen schon vorher geübt haben. Und die von meinen Eltern und meinem großen Bruder auch."
"Aber nur in Hangul, oder?"
"Das weiß ich nicht mehr."
Ich drehe das Blatt um und fange an zu lesen.

Liebe Jutta!

Wenn Du Cornelia doch sehen könntest! Sie marschiert nun seit drei Monaten jeden Morgen voller Stolz mit ihrem Ranzen auf den Schulhof. Die Schule macht ihr wirklich Spaß. Im Koreanisch-Unterricht lernen sie zunächst Hangul. Die Romanisation kommt dann im nächsten Halbjahr. Sie geht gerne hin und will nach den Hausaufgaben oft noch weiter lernen. Das nutze ich, um mit ihr doch schon die lateinischen Buchstaben für das Schreiben auf Deutsch zu üben.

Neuerdings will sie immer Zettelchen schreiben und im ganzen Haus aufhängen. Ich habe schon gar kein Tesafilm mehr. Alle koreanischen Wörter, die sie in der Schule lernt, schreiben wir zusammen mit dem deutschen Wort auf und kleben es an den Gegenstand. Schränke, Türen, Vasen, Spielzeug - alles ist inzwischen beschriftet. Und wehe, jemand von uns macht einen Zettel ab, weil der im Weg ist. Da fängt sie richtig an zu schimpfen.

Zahlen und rechnen fällt ihr überhaupt nicht schwer. Ich bin sehr froh, dass der Start so gut gelungen ist. Der Kampf wird noch früh genug einsetzen. Ich merke jetzt schon, dass das Lerntempo hier viel höher ist als bei uns damals. Aber Cornelia kommt überall gut mit. Wenn wir durch die Stadt fahren, versucht sie ununterbrochen, Werbung und Straßenschilder am Straßenrand zu lesen. Sie liebt rote Ampeln, weil ich dann halten muss und sie mehr Zeit zum Lesen hat.

Spontan fangen wir beide an zu lachen, halten uns dann aber ganz schnell den Mund zu. Eine Stewardess kommt und lächelt beim Blick in unsere Gesichter. Sie bietet uns Getränke und einen Mittagsimbiss an und informiert uns über das Timing vom Rest vom Flug.
"Dann lass uns mal unseren Krempel zusammenpacken. Ich freue mich jetzt auf zu Hause."
"Und auf Namjoon. Gibs doch zu. Du hast jetzt seeeehr viel zu erzählen."
Ich muss lächeln.
Ja, natürlich freue ich mich auch wie wild auf meinen wunderbaren Freund!
"Überhaupt nicht freue ich mich allerdings auf die Paparazzi und das ganze Theater um diese unselige Fernsehsendung. Hoffentlich ist das ganz bald vorbei."
"Das verstehe ich sehr gut. Ihr habt inzwischen genug Kraft gelassen. Die sollen euch bloß in Ruhe lassen!"

Die Vorfreude verkürzt die Zeit, und bald schon sind wir im Landeanflug auf Seoul. Unser Flieger kommt sicher runter, und nach den Kontrollen verlassen wir zügig das Terminal, weil wir nicht wie alle anderen auf unsere Koffer warten müssen. Ich habe sofort mein Handy eingeschaltet und bekomme nun eine Wegbeschreibung, wo wir mein Auto finden können. Bald schon steigen wir zu Yoongi ein und fahren unbehelligt los. Im Rückspiegel kann ich jedoch erkennen, dass uns zwei Fahrzeuge hartnäckig folgen.
Egal. Wir setzen So-Ra ab und fahren dann zu mir. Dass Joonie da schon seit einer knappen Woche hockt, scheinen sie immer noch nicht begriffen zu haben. Und er wird mir sicher nachher verraten, wie es jetzt weitergehen wird.

Yoongi bringt mich noch mit dem Fahrstuhl nach oben, schließt die Tür auf und greift drinnen nach seiner eigenen Tasche.
"Wir sehen uns. Schön, dass du wieder da bist."
Weg ist er.

......................
16.7.2023    -    27.3.2024

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