78 - der Engel

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Ich bin mir sicher, dass Namjoon vor lauter Übermüdung schnell eingeschlafen ist. Und Yoongi hat zum Glück völlig die Ruhe weg. Aber mein Geist … der ist hellwach. Da mir - schmerz- und angstlos - immer weiter die Tränen laufen, finde ich auch keine Ruhe. Außerdem will ich diese Engelsgestalt verstehen.

Ich lege ein paar Kissen auf den Boden vor der Schlafzimmertür, damit kein Licht durchscheint, und mache eine kleine Lampe am Sofa an. Die beiden Sarang-Namja-Bilder liegen noch neben der Mappe. Ich versuche erneut, das Bild zu verstehen und in Bezug zu mir zu setzen. Aber mir fällt einfach nichts ein.

Hm. Kurz nach dem Mädchen im Park.
Ich suche mir noch einmal die Zeichnung raus und lese, was Harry dazu geschrieben hat.
Das war dann wohl mit Einsetzen der Pubertät. Das hat ihn sehr verunsichert. Ach, Harry. Wenn ich dir nur sagen könnte, wie viel du richtig gemacht hast! 

Wieder schaue ich das zweite Bild an.
Das bin nicht ich. Das MUSS ein Engel sein. Warum sollte ich als Zwölfjährige drei deutlich kleinere Menschen beschützen, die dazu noch wie eine normale Familie aussehen, die eigentlich größer als ich sein müsste?
Ich drehe den Engel um und fange an zu lesen.

Liebe Jutta!
Ganz egal, in welchem Alter, in welcher Phase Cornelia grade ist - ich muss dauernd Entscheidungen fällen, und ich denke jedesmal: noch schwerer kann es nicht werden. Diesmal muss ich eine Entscheidung für die religiöse Erziehung fällen.

Ihr habt Cornelia taufen lassen, als sie ein halbes Jahr alt war. Wir haben lange diskutiert damals, ob und wie eine multireligiöse Erziehung gelingen kann und welche Rolle ich als christlicher Pate dabei spielen soll. Wir waren uns schnell einig, dass wir lieber zwei religiöse Welten vorleben wollen statt gar keiner. Ganz ohne sinnvolle Werte kann ein Mensch keinen Halt im Leben finden. Nach Eurem Tod sah ich mich darum unter anderem damit konfrontiert, dass ich Vorstellungen vermitteln sollte, mit denen ich selbst gar nicht aufgewachsen bin. Wie bitte soll man einen personenbezogenen monotheistischen Glauben mit dem eher jenseitig ausgerichteten Schamanismus Deines Mannes schlüssig unter einen Hut bringen?

Ich habe den Weg gewählt, dass wir einerseits den Gottesdienst und Kindergottesdienst der "evangelischen Gemeinde in deutscher Sprache in Seoul" besucht haben. Die koreanischen Feste feiern wir mit Familie Woo zusammen. Dort kann Cornelia diese mir bis heute so fremde Form von Spiritualität im Alltag erleben und ihre Fragen stellen.

Wir reden ab und zu darüber, ich erzähle Geschichten aus der Bibel, wir beten vor dem Schlafengehen. Zu den christlichen Festen vermittele ich die religiösen Hintergründe und gewachsenen Traditionen. Allerdings kann ich nicht beurteilen, ob und wie tief das alles in Cornelia verankert ist.

Nun steht aber eine Entscheidung an, denn in diesem Jahr kommt in der deutschen Gemeinde tatsächlich ein Konfirmandenkurs zusammen. Soll ich Cornelia fragen? Soll ich sie einfach hinschicken? Oder soll ich sie in Ruhe lassen und es gar nicht erst versuchen?

Darüber hinaus rumoren aber noch ganz andere Fragen. Ich bin oft im Zwiegespräch mit meinem persönlichen Gott, aber davon merkt Cornelia wahrscheinlich nicht viel. Nach außen bin ich wahrscheinlich ein traditioneller Sonntagschrist - brav, unauffällig, leidenschaftslos. In mir drin ist viel mehr. Ohne den Halt im Glauben hätte ich weder den Tod von Mama und Papa noch den furchtbaren Verlust von Dir verkraften und verarbeiten können. Ich schaffe es aber nicht, mit Cornelia angemessen darüber zu reden. Wie soll ich ihr erzählen, dass ein Schutzengel sie umgibt, nachdem sie so früh ihre Eltern verloren hat? Das Busunglück vor ein paar Jahren - was mich davon abgehalten hat, wahnsinnig zu werden vor Angst, war der Gedanke, dass sie einen Schutzengel hat.

Ich würde ihr gerne ganz persönlich davon erzählen, was Gott und der Glauben für mich bedeuten. Wie sehr es mich mutiger für sie und gnädiger mit mir selbst macht. Aber wer weiß - was mich tröstet, kann für sie genauso gut eine Provokation sein. Und so mutig bin ich bedauerlicherweise dann doch nicht. 

Dazu kommt, dass sie immer deutlicher ihren wunderschönen, so sehr zutreffenden koreanischen Namen ablehnt. Sie reagiert nicht mehr, wenn man sie so anspricht, ja, manchmal habe ich sogar das Gefühl, dass sie einen Impuls, jemand etwas Gutes zu tun, unterdrückt, wenn sie sich beobachtet fühlt. Wenn sie sich nicht bremst, trägt sie noch immer Frösche und Raupen über die Straße oder hilft Freunden aus der Patsche. Aber sie flüchtet gradezu vor Lob und Dank.

Was also soll ich tun? Ich habe heute Euren Schutzengel gemalt. Euch alle drei in seine Geborgenheit gehüllt. Ich hatte das Bedürfnis, Euch unter den Schutz Gottes zu stellen. Meine Möglichkeiten sind so begrenzt. Aber je älter ich werde, je mehr Herausforderungen ich begegne, je größer die Fragen und Entscheidungen werden, desto deutlicher und lebendiger spüre ich, dass meine Möglichkeiten, mein Mut, meine Kraft und meine Liebe zu Eurem wunderbaren Kind Geschenke Gottes sind, die uns weitertragen. Ich fühle diese angenehme Wärme um Sarang Namja und mich, die dieser Engel ausstrahlt.

Fühl Dich geliebt über den Tod hinaus, Jutta. Dieser Engel ist bei Dir und bei Deiner Tochter!

Ich habe das Gefühl zu schweben.
Mehr als acht Jahre nach ihrem Tod hat Harry meine Eltern und mich gemeinsam einem Engel anvertraut und fest geglaubt, dass wir alle getragen und geborgen sind. Was ihn gehalten und im Grunde mich in Geborgenheit hat groß werden lassen, ohne, dass er darüber reden konnte, war sein Glaube! Was ihn beruhigt zurück nach Deutschland hat gehen lassen, war die Gewissheit, dass mein Leben behütet und getragen ist, auch wenn er das nicht mehr tun konnte.

Ich lehne mich zurück und betrachte den Engel. Ich möchte ihn am liebsten umarmen. Ihn und Harry und meine Eltern. Namjoon, So-Ra und ihre Eltern. Die Jungs und mich selbst.

Was ist da grade in meinem Kopf passiert? Oder in meinem Herzen? Ist das … Verrückt! Ich sehne mich nach diesem Engel. Nach dieser Geborgenheit.

Wie viel davon hat Harry tatsächlich gesät in meinem Herzen? Oder diese Gemeinde? Hat mich das geprägt, ohne dass ich mich erinnern kann? Hat das die unterdrückte Sarang Namja in mir am Leben gehalten? Ich weiß so vieles nicht mehr. Ich muss unbedingt nochmal mit Woo Rae-Jin reden. So wie das hier klingt, war sie auch in diesen religiösen Fragen intensiv in meine Entwicklung mit eingebunden.

Aber … warum weiß ich nichts mehr darüber? Wenn er zu dem Zeitpunkt über eine Konfirmation nachgedacht hat, dann … mit zwölf vergisst man doch etwas so Wesentliches nicht mehr!
Oder doch? Eine Konfirmation gab es jedenfalls nicht. Und sowas wie regelmäßige Tischgebete auch nicht. Oder nicht mehr? Egal. Was bleibt, sind diese Wärme und Geborgenheit, die mir aus dem Engelsbild entgegenstrahlen. 

Völlig überraschend höre ich hinter mir ein kurzes Stolpern und ein leises:"Au Mann."
Erschrocken drehe ich mich um und sehe einen ziemlich zerknitterten Yoongi im Dunklen stehen.
"Manchmal glaube ich, dir ist nicht mehr zu helfen, Nelli. Namjoon schläft nebenan wie ein Baby. Und du? Was machst du da!?!"
"Mensch, hast DU mich jetzt erschreckt."
"Wenn du brav schlummern würdest, wär ich schon längst unbemerkt zurück vom Töpfchen."
Brummend schlurft Yoongi an mir vorbei zum Bad.

Bis er wiederkommt, bin ich in der Lage, vernünftig zu antworten.
"Ich habe hier im Dunklen gelegen und über den Engel nachgedacht. Und weil ich mit der inneren Uhr sowieso noch irgendwo zwischen Berlin und Korea hänge, habe ich gelesen, warum Harry diesen Engel gemalt hat."
Yoongi setzt sich neben mich.
"Ein Engel? Oder bist das du?"
Er zeigt auf den Engel. Ich schiebe seinen Finger einfach weiter zu dem Kind auf dem Arm vom Vater.
"DAS bin ich. Zusammen mit meinen Eltern. Und das ist tatsächlich ein Engel. Unser Familienschutzengel, der Harry die Kraft gegeben hat, all die Katastrophen zu überstehen. Oder sein Glaube. Das war ganz schön viel Text und Inhalt. Ich muss das wahrscheinlich noch dreimal lesen, damit ich alles verstehe."

Yoongi hört mir zu, nickt dabei, schaut mich an - und stutzt.
"Nelli? Du weinst nicht mehr. Du wirkst auch sehr entspannt. Aber nicht müde sondern zufrieden. Was ist da grade passiert? … Wenn ich fragen darf!"
Ich lächele und fühle mich tatsächlich zufrieden.
Er hat recht! Mein Gesicht ist trocken. Ich habe schon eine Weile nicht mehr nach den Taschentüchern gegriffen. Irgendwas an diesem Engelsbild und Brief hat meiner Seele geantwortet und ihr Frieden geschenkt.
"Die Kurzfassung - dann kann ich euch morgen die ausführliche zusammen erzählen. Es geht in diesem Brief an meine Mutter um Religionen, um religiöse Erziehung und um damit zusammenhängende nötige Entscheidungen. Das Wichtigste, das bei mir hängen geblieben ist, ist aber, dass Harry noch viel mehr, als mir bisher klar war, ein sehr introvertierter Mensch war, der mich nie hat spüren lassen, WIE sehr er gelitten hat - und wie tief und tröstend er gläubiger Christ war. Und weil er sich gegenüber meinen Eltern für mich verantwortlich gefühlt hat, hat er uns drei als Familie in die Obhut dieses Schutzengels gestellt."

Yoongi überlegt einen Moment.
"Klingt spannend. Und ist tatsächlich auch für Namjoon ganz wichtig. Aber weißt du, was ich traurig finde?"
"Na?"
"Sicher nicht aus Arroganz sondern eher aus übertriebener Bescheidenheit hat er sich selbst nicht dazugemalt - in den Schutz des Engels. Das ist sehr schade."
"Stimmt. Das wäre schön. Denn er gehört dazu, ist nicht nur Teil sondern sogar das Bindestück dieser Familie und hat ganz bestimmt auch verdient, diese Geborgenheit zu genießen. Aus dem Brief geht immerhin hervor, dass er fest daran geglaubt und sich genauso getragen und beschützt gefühlt hat."

"Und deshalb weint deine Seele jetzt nicht mehr?"
"Keine Ahnung. Ich nehme das dankend hin. Die Antwort finde ich sicher irgendwann auch noch."
"Kannst du jetzt schlafen?"
"Ich denke schon."
Ja, jetzt kann ich schlafen. Der Engel ist jetzt nicht mehr nur ein Bild sondern das Gefühl von Geborgenheit.
Yoongi ist ein Schatz. Er braucht genauso dringend seinen Schlaf. Im Grunde macht er seit zehn Tagen Namjoons Job mit. Trotzdem nimmt er sich mitten in der Nacht Zeit für mich.
"Dann nochmal gute Nacht!"
"Schlaf gut."
Yoongi schleicht zurück ins Schlafzimmer, ich lösche die kleine Lampe und hülle mich in Gedanken in die weichen Flügel dieses Engels.

…………………….


Leider habe ich heute Nacht dem Jetlag nochmal Vorschub geleistet. Ich schlafe viel zu lange. Müde blinzele ich in den Morgen. Der Blick zur Uhr weckt mich jedoch ziemlich ruckartig auf.
Gut, dass wir erst um 10.00 gemeinsam zur Pressekonferenz aufbrechen. Sonst hätte ich jetzt 'ein bisschen' Zeitdruck.
S

ofort schwinge ich mich vom Sofa auf, greife mein Bettzeug und verschwinde im Schlafzimmer. Mit entsprechenden Klamotten bewaffnet husche ich ins Bad. Wenn ich das richtig höre, sind die beiden Jungs in der Küche und machen Frühstück für uns. Ich lasse mir Zeit für ein ausführliches Beautyprogramm, damit ich nachher wirklich präsentabel und fotogen bin. Nach einer entspannenden heißen Dusche und mit seriösem Makeup fühle ich mich gewappnet und mache mich auf zum Frühstück.

Eine nervöse Frage von Namjoon lässt mich jedoch im Flur sofort innehalten.
"Yoongi, kannst du mir bitte was erklären? Ich brauche deine Hilfe als Psychologe. Ich verstehe nicht, was mit Nelli grade passiert."
"Gerne. Schieß los."
"Du hast grade erzählt, dass Nelli irgendwann heute Nacht aufgehört hat zu weinen. Was bedeutet dieses Weinen? Warum seid ihr beide dabei so gelassen geblieben? Und warum weint sie jetzt plötzlich wieder nicht mehr? Ich möchte sie leise unterstützen, ohne sie in Watte zu packen - das würde sie nämlich nicht wollen, weil sie sich ja grade freischwimmt. Aber ich komme überhaupt nicht mit, und das macht mich echt nervös."
"Das versteh ich. Setz dich."

Mist! Soll ich jetzt hier stehen bleiben und lauschen? Soll ich mich ins Bad hocken, damit ich nichts höre? Oder soll ich da reinplatzen und damit eine mögliche Chance versauen? Eigentlich ist ein ausführliches Gespräch zu dritt vor der Pressekonferenz eher kontraproduktiv, weil es uns ablenkt. Darauf würde es aber rauslaufen, wenn ich jetzt da reingehe. Andererseits kann es Namjoon zu innerer Ruhe und Konzentration für nachher verhelfen, wenn er jetzt einiges erklärt bekommt. Örks. Lauschen ist doof. Im Bad hocken noch doofer.
Ich bleibe einfach an Ort und Stelle stehen und höre zu.

"Pass auf. Nelli ist seit ihrer frühen Kindheit eine Meisterin im Verdrängen. Freundlich, höflich, lächeln, andere machen lassen. Wie bei vielen anderen Menschen auch hat das Verdrängen einiger Dinge zu wirklich völligem Vergessen geführt. Fast wie abgespalten von ihrer Persönlichkeit. Der Weggang ihres Onkels, So-Ras Familie, die eigene Wohnung - vieles hat dieses Vergessen sogar noch begünstigt. Das einzig Authentische ihrer Persönlichkeit, was sie nicht negieren konnte, - dieser bedingungslose Gerechtigkeitssinn und ihre Liebe zu den Menschen - war gleichzeitig das einzige, was sie an sich selbst nicht mochte."
"Ja, leider. Auf dem Auge ist sie völlig blind."
"Jetzt verliert sie den Onkel, erbt die Villa, verbunden mit einer großen Aufgabe, liest monatelang Tagebücher, schaut Fotos an, hat hunderte kleiner Gegenstände und Erinnerungen in der Hand und kann ihre weggeschlossenen Erlebnisse nicht länger zurückhalten. Die kommen aber nicht chronologisch oder sinnvoll sortiert wieder ins Bewusstsein sondern total durcheinander. Je nachdem, was ihr grade in die Finger gefallen oder passiert ist. Da sie diese vielen Fetzen nicht in einen Zusammenhang sortieren kann, ist sie überfordert, verwirrt, verängstigt."

Namjoon zögert mit einer Antwort.
"Aber … ja, sie hat viel geweint in diesen Monaten. Aber ausgerechnet in dem Moment, in dem sie ihren Schlüssel zu sich selbst findet, weint sie ohne Pause, so viel wie in den letzten Monaten zusammen innerhalb von vierundzwanzig Stunden. UND ist dabei glücklich und zufrieden. UND hört nach einem Tag wieder auf zu weinen. Einfach so. Das kriege ich nicht in meinen Kopf rein."

Yoongi klingt beruhigend.
"Das verstehe ich vollkommen. Es ist auch nicht ganz einfach. Sie hat sich in diesen Durcheinanderwochen ein paar Fragen gestellt. Hat Harry mich geliebt, oder hat er nur seine Pflicht getan? Wie hat er selbst das aushalten können? Trage ich irgendeine Schuld an seinem Leid? Aber auch die alten Fragen: wer bin ich, und wo will ich hin?
Erst diese Bildermappe bringt nun ganz viel Licht ins Dunkel und hilft ihr, die Puzzleteile zu sortieren. Ja, ihr Onkel hat sie unendlich geliebt. Nein, sie trägt keine Schuld. Seine Quelle der Kraft war sein christlicher Glauben. Das hat ihn und damit auch Nelli getragen.
Das ist übrigens der Grund, warum sie heute nicht mehr weint. Weil sie sich heute Nacht noch mit dem Engelbild auseinander gesetzt hat."

"Oh Mann! Manchmal …"
"Genau."
Ich höre das Lächeln in Yoongis Stimme.
"Die alte Doppelfrage hat sie witzigerweise in umgekehrter Reihenfolge selbst beantwortet. Wo will ich hin? Zu mehr Gerechtigkeit und Frieden und Solidarität in Form dieser Stiftung. Und vorgestern dann dieses 'Ich will Sarang Namja sein. Ich BIN Sarang Namja.'
Ich durchschaue noch lange nicht alles. Und sie weiß noch lange nicht alles. Aber sie weiß jetzt durch diese beiden Bilder das Wesentliche wieder: wer sie ist - und dass sie sich ohne Angst erinnern darf, weil sie beschützt ist."

"Das war ein weiter Weg bis dahin."
"Dass sie so viel geweint hat, war wirklich ein Dammbruch. Ihre dreißig Jahre lang unterdrückten Gefühle durften raus. Das Weinen galt dabei aber nicht den einzelnen qualvollen Erinnerungen sondern der Tatsache, DASS sie jetzt endlich sie selbst sein und dafür alles auspacken darf, was sie ist und kann und hat. Darum waren es praktisch Freudentränen. Und die müssen dich wirklich nicht beunruhigen."

Eine Weile ist es still im Wohnzimmer. Ich werde schon ganz kribbelig auf meinem Lauschposten im Flur. Da findet Namjoon seine Worte wieder.
"Ich … glaube, das kann ich verstehen. Frag nicht, wie viel ICH in den letzten Monaten heimlich ins Kissen geweint habe - vor Glück, wie viel Leben und Liebe und Vertrauen mir vergönnt ist, seit ich in der Pförtnerei bin."
Ich halte die Luft an.
Das habe ich überhaupt nicht mitbekommen!
"Es waren keine brennenden, schmerzenden Tränen. Das war Erleichterung und Staunen und Hoffnung und ein gaaaanz kleines, zartes Pflänzchen Selbstachtung. - Und das auf dem Bild, das ist tatsächlich ein Engel?"

"Ganz genau. Aber das möchte sie dir gerne selbst erzählen."
Plötzlich wird Yoongis Stimme lauter.
"Komm rein, Nelli. Der Flur ist doch ungemütlich."
Äh. Hä? Gott, wie peinlich! Yoongi ist einfach zuuuuu … alles.
Zaghaft betrete ich das Wohnzimmer und suche in den Gesichtern der beiden. Yoongi lächelt mich an. Namjoon sieht verblüfft aus. Mein Kopf bleibt also wohl dran.
"Danke, Yoongi. Du hast das wunderbar erklärt. Auch für mich. Entschuldigt bitte, dass ich gelauscht habe. Namjoons Fragen klangen so, als sollte ich diesen wichtigen Moment nicht unterbrechen."

Namjoon entspannt sich und schüttelt leise den Kopf.
"Entschuldigung. Blödsinn! Ohne diesen ruhigen klärenden Moment hätte ich nachher wahrscheinlich nur Müll verzapft. Jetzt sehe ich klarer und kann mich wieder konzentrieren."
Gleichzeitig steht er auf, macht die paar Schritte auf mich zu und nimmt mich lange in den Arm.
"Ich liebe dich. Ich bin stolz auf dich. Und ich freue mich sehr mit dir."

Allgemeine Erleichterung macht sich breit, als wir uns zum Frühstück hinsetzen. Erst jetzt schauen die Jungs genauer hin und machen mir Komplimente für mein Outfit. Aber ich staune auch nicht schlecht, denn beide sind - ihrer Funktion innerhalb der Stiftung entsprechend - ausgesprochen professionell gekleidet, rasiert und gestylt, Namjoon im dunklen Anzug mit Krawatte, Yoongi im helleren Anzug mit Pullover. Beide haben eine Brille auf und wirken seeeehr seriös.
"Jetzt sollten wir bloß aufpassen, dass wir uns nicht total bekleckern, damit wir auch so präsentabel bleiben."
Wir müssen alle drei grinsen.
Die Vorstellung, dass wir da auflaufen mit Kaffeeflecken und Brotkrümeln - bloß nicht!
Entspannt frühstücken wir zu Ende und räumen gemeinsam die Küche auf.

"Sagt mal, Jungs, wir kommen wir da gleich eigentlich hin, in welcher Konstellation, mit welchem Fahrzeug? Taucht Namjoon heute offiziell wieder auf? Wollen wir anschließend direkt Nachlese halten? Wer wird da alles dabei sein? Und wer geht hinterher wie und wo hin?"
"Stoooop! Hol doch mal Luft zwischendurch."
Namjoon sorgt auf charmante Weise für Ruhe mit einem Kuss.
Yoongi geht zum Fenster und beobachtet einen Moment lang die Straße.
"Alle schon da."

"Pass auf. Wenn wir losfahren, ist Joon noch versteckt. Irgendwann müssen wir ihn unbeobachtet in ein Taxi setzen. So kommen wir getrennt dort an, und sein Aufenthaltsort ist hoffentlich weiterhin unklar. Hoseok kommt alleine, mit Öffentlichen.
Der Leiter der für uns zuständigen Abteilung, den du ja schon kennst wird die Pressekonferenz eröffnen und versuchen, Spekulationen im Keim zu ersticken. Ab da übernimmt Namjoon das Ruder, moderiert unsere Beiträge und deren Fragen."

"Ich hoffe einfach, dass meine Person und Vergangenheit nicht mehr so wichtig sind. Ich werde auch ziemlich am Anfang dich vorstellen. Wie gesagt - lächeln. Auf Fragen antwortest du aus dem Herzen heraus. Wie und wohin ich hinterher fahren werde, hängt vom Verlauf ab. Die Hoffnung ist, dass wir Ruhe reinkriegen und ich einfach mit einem Taxi zur Villa fahren kann. Yoongi bringt dich nach Hause und kommt normal zur Arbeit. Hobi fährt zu seiner Tanzschule. Jeder von uns ist endlich wieder da, wo er hingehört."

Der letzte Satz verpasst mir unerwartet einen Stich.
Nein, Joonie. Das stimmt so nicht. Du gehörst zu mir. Und ich zu dir. Und wir zusammen in unsere drei kleinen Häuschen oder irgendwo sonst. … Und wie sag ich das jetzt?
"Ich habe mir übrigens gestern Vormittag das Portfolio zu den Häuschen angesehen. Meinst du, wir können da bald einen Besichtigungstermin machen?"
Yoongi stutzt und mustert mich intensiv, während Namjoon sofort protestiert.
"Na, DAS war aber jetzt ein abrupter Themenwechsel!"
"Hm - gar nicht so sehr, Joon. Ich höre da ein ziemlich eindeutiges 'Ohhhhh nein, mein Lieber. Du gehörst nicht mehr in die Pförtnerei - du gehörst zu mir.' Stimmts, Nelli?"

Es ist einfach …
"Manchmal bist du mir unheimlich, Yoongi."
"Damit kann ich leben."
Er grinst breit.
"Knabberleiste polieren und los?"
Nacheinander drehen wir noch eine Runde durchs Bad und putzen uns die Zähne. Dann bringt der Fahrstuhl uns ungesehen in die Tiefgarage, wo wir Namjoon auf der Rückbank meines Autos verstecken und ans Tageslicht fahren. In der folgenden halben Stunde spielen wir ein ziemlich bescheuertes, aber erfolgreiches Katz und Maus Spiel mit den Paparazzi und schmuggeln Joon tatsächlich ungesehen in ein Taxi.
Jetzt kanns losgehen.

........................
16.8.2023    -    28.3.2024

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