98 - Sehen und gesehen werden

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Der Mittwoch Morgen dämmert herauf mit klirrender Kälte und klarem Himmel. Das Wetter wird also heute wohl mitspielen. Ich habe ausgeschlafen und erlaube mir ein gemütliches Frühstück. Meiner Gala-Liste folgend packe ich sorgfältig alles zusammen, was ich im Laufe des Tages und am Abend brauchen werde.
Die ‘Hütte’ wird heute wesentlich voller werden als an Heilig Abend. Für Akteure wie die Hiphopper oder die Bigband wird die Pförtnerei als Rückzugsort dienen. Mein Auto stelle ich am besten auch dort ab. Dann ist es nirgendwo im Weg und doch immer einsatzbereit. 

Als ich gegen 10.00 Uhr an der Villa eintreffe, sind das Gelände und beide Gebäude voller wuselnder Leute wie ein aufgescheuchter Bienenstock. Die Abgrenzung zwischen Bus und Pförtnerhaus einerseits und der Autoausfahrt andererseits ist schon aufgestellt - hölzerne Zaunelemente mit immergrünen Girlanden, die vorübergehend an improvisierten Ständern befestigt sind. So ist Jimins Bus kaum zu sehen.

Gleich in der Eingangshalle mache ich verblüfft eine Vollbremsung. Neben dem Treppenaufgang steht eine Art Laternenpfahl mit einem improvisierten Straßenschild. Absolut Stilbruch, aber hier genau richtig.
Wer hat sich das denn wieder ausgedacht? Cool!


An der gegenüberliegenden Wand der Halle hängt nun das Portrait von Harry, daneben eine Info-Tafel mit den Eckdaten seines Lebens, davor auf einem eleganten Ständer ein Blumenbouquet.

Mit einem Schmunzeln gehe ich weiter. Alles ist blitzblank und ordentlich, draußen wie drinnen verbreiten Jimins geschmackvolle Dekorationen eine festliche Atmosphäre, die Küche ist ein Hexenkessel - und Yoongi ist wieder der unerschütterlich ruhige Brummkreisel mittendrin. Da die Zimmerflucht diesmal vollständig in einen Ballsaal verwandelt ist, wird das Buffet in der Bibliothek aufgebaut sein.

Während ich mich im Erdgeschoss umschaue, fallen mir wieder meine Kekstüten mit den Sternen ein.
Wo die wohl inzwischen gelandet sind? Die darf ich nicht nochmal vergessen!
Ich mache mich auf die Suche und werde an der Garderobe fündig. Dort steht nämlich grade ein sehr nachdenklicher Taehyung mit den Keks…tüten…kisten. Egal. Bei meinem Anblick hellt sich seine Miene auf.
“Guten Morgen, Nelli. Hast du für die Dinger schon einen Plan?”
“Nicht wirklich. Aber uns beiden wird schon was einfallen.”
“Wie wolltest Du die denn ursprünglich an Mann und Frau bringen?”
“Ich wollte sie bei der Gründung verteilen lassen, während ich darüber rede, dass wir Licht ins Dunkel der Benachteiligten bringen wollen.”
“Na, das ist dir ja prima gelungen.”
“Frechdachs.”

“Bei der Arbeit. Willst du das stattdessen heute erzählen? Ansonsten könnten wir Kekse und Sterne im ganzen Haus da hinstellen, wo Jimins Deko steht.”
“Gute Idee. Und einen Korb voll hier an die Garderobe für Spätzünder.”
Tae kann seeehr empört kucken, wenn er will.
“Aber Nelli!”
Ich zwinkere ihm zu.
“Bei der Arbeit. Verteilst du die Tütchen im Haus?”
“Mach ich.”

Die Tombola soll die Gäste in den ersten Stock locken. Die Stadt Seoul hat uns einige Statistiken über soziale Probleme, Alleinerziehende, Obdachlosigkeit, Altersarmut und ähnliches zur Verfügung gestellt, die wir aufbereitet haben und nun an Stellwänden präsentieren. Außerdem werden dort zahlreiche Vereine und Betriebe ihre soziale Arbeit vorstellen. Ab 17.00 Uhr erwarten wir unsere Gäste.

Ein bisschen Kopfzerbrechen macht mir die schiere Menge an mir völlig unbekannten Menschen. Denn wichtig und zahlungskräftig sind sie alle. Also werden sie auch erwarten, dass ich sie kenne und mit Namen anreden kann. Davon bin ich aber so weit entfernt wie Korea vom Brandenburger Tor. Zum Glück haben unsere Webmaster sich was einfallen lassen und unsere interne Seite präpariert. Dort finde ich mit einem Klick jeden angekündigten Gast mit Bild, dazu Alter, Funktion, eventuelle Spende oder Mitgliedschaft und andere relevante Informationen. Ich kann Leute markieren und Notizen dazu schreiben.

Damit ich nicht im Weg stehe, fahre ich nach oben und besuche Namjoon in seinem Büro. Der scheint aber irgendwo durchs Haus zu schwirren. Also mache ich es mir gemütlich und genieße für einen Moment die Stille unterm Dach. Meine Gedanken begeben sich auf Wanderschaft.
Siehst du mich, Harry? Siehst du uns? Du hast uns alle mit deiner Aufgabe so reich beschenkt. Wir schauen jetzt alle so positiv in unsere Zukunft. Ich bin glücklich. DU hast mich glücklicher gemacht als jemals zuvor.

Ich komme erst wieder in der Gegenwart an, als sich neben mir das Sofa senkt. Namjoon ist reingekommen und hat sich zu mir gesetzt.
“Wo warst du denn grade in Gedanken, mein Schatz? Irgendwo gaaanz weit weg.”
Ich gebe ihm einen Kuss.
“Gööönau. Ich habe mich mit Harry unterhalten. Also war ich wohl zu Besuch im Himmel.”
“So hast du auch ausgesehen. Richtig glücklich. Freust du dich auf heute Abend?”
“Ja und nein. Ja, ich freue mich auf den krönenden Abschluss und gleichzeitig Startschuss all unserer Bemühungen. Ich hab nur ein bisschen Schiss vor einer Horde von Wichtig-Wichtig-Leuten, die alle erwarten werden, dass ich weiß, wer sie sind.”

Namjoon lacht.
“Keine Sorge. Ich verrate dir einen Trick: allen anderen geht es genau so. Deshalb lächeln alle und umschiffen jede direkte Anrede.”
“Na dann. … Äh - wie war noch Ihr Name?”
Namjoon schaltet sofort und grinst.
“Kim. Im Zweifelsfalle immer Kim. Bei Lee, Park und Jung ist die Trefferquote auch ziemlich hoch. Aber im Zweifel immer Kim.”
Jetzt lachen wir beide.
Namjoon macht sich wieder an seine Arbeit. Ich dagegen öffne unsere App und schaue nach, wen von unseren Gästen ich denn tatsächlich kenne.

Das Mittagessen für alle Fleißigen vom Staff gibt es wieder in der Pförtnerei. Diesmal hat Jin dafür gesorgt, dass niemand verhungert. Weil er ja aber auch in der Eventküche gebraucht wird, hat Jimin heute schon sehr früh seine Deko aufgestellt und sich dann aus dem Staub gemacht. Er hat den ganzen Vormittag Gemüse geschnibbelt und Reis vorgekocht, damit Jin dann ganz schnell kochen konnte. Jetzt füttert er die Massen.

Nach dem Mittagessen gehen alle wieder an ihre Arbeit. Aber allmählich lichtet sich doch das Chaos und weicht einer eleganten, festlichen, erwartungsvollen Stille. Wie geplant, pünktlich um 15.00 Uhr sind alle Heinzelmännchen verschwunden und alle Spuren beseitigt. Alle Handwerker sind weg, alle Leute vom Staff, die heute Abend fit sein müssen, in der wohlverdienten Pause, alle Jungs in ihren Zimmern, um die Ruhe vor dem Sturm zum Verschnaufen zu nutzen.

Ich hole mir mein Outfit und steige in der Villa die Treppen hoch. Namjoon will in seinem Büro ein bisschen Powernapping machen, bevor er sich in Schale wirft.
Und ich? Soll ich … Warum nicht!
Ich ziehe mich ins Gästezimmer, also in mein ehemaliges Kinderzimmer zurück, entere das kleine Bad und beginne, mich durch Beautyroutine, Makeup und Co. zu arbeiten. Kurz lege ich die Beine hoch, und schon geht es weiter.
Haare stylen. Nägel feilen, damit ich mir gleich nicht die Strümpfe zerreiße. Anziehen, zurechtzupfen, alle Notwendigkeiten in meiner kleinen Clutch verstauen. Ein Blick zur Uhr - 16.30 Uhr.
Dann werden jetzt alle unten eintrudeln, ich sollte also auch runtergehen.

Wieder nehme ich die Treppe. Das grüne Organza weht im Luftzug meiner eigenen Bewegungen. Der zauberhafte Schmuck meiner Großmutter schimmert im Licht zahlloser Lampen. Das ganze Haus in all seiner wieder gewonnenen Pracht scheint wie um mich herum gebaut. Ich fühle mich besonders, lasse mir Zeit, genieße jeden Schritt und jede Stufe.

Im ersten Stock kommt grade Hoseok mir entgegen die Treppe hochgesprintet.
“Ui!”
Ein Grinsen breitet sich auf seinem Gesicht aus.
“DAS Gesicht will ich sehen!”
“Hä? Spinner!”
“Warts ab.”
Er macht auf dem Absatz kehrt und rennt wieder runter. Was auch immer er grade vorhat. Ich folge ihm langsam.

Ich lasse mich heute von nichts mehr aus der Ruhe bringen!
Von der Eingangshalle her höre ich Hobis Stimme.
“Yoongi, weißt du, wo Namjoon ist?”
“Eben war er im Saal. Wieso?”
“Der wird hier gebraucht.”
Yoongis Stimme klingt irgendwas zwischen verwirrt und amüsiert.
“Aha.”
Eine Tür klappert, und Hobi ruft energisch nach Namjoon.
“Joon, komm grade mal in die Halle.”
Frechdachs! MUSST du mich so ins Rampenlicht stellen?

Kaum bin ich auf den untersten Stufen angekommen, wird mir richtig warm. Yoongi und Hobi haben sich auf die Seite gestellt. Yoongi erhascht zuerst einen Blick auf mich und pfeift leise durch die Zähne.
Namjoon wartet vor der Saaltür und versteht gar nichts. Er sieht wunderbar aus in seinem Frack. Aufrechte Haltung, charmantes Lächeln - ich könnte mich glatt neu verlieben in diesen ganz besonderen Mann.

In diesem Moment schaut er zur Treppe, sieht mich und erstarrt. Sein Mund klappt auf - und ohne ein Wort wieder zu. Seine Augen weiten sich. Ich lächele ihn an, aber er scheint zu keiner Reaktion in der Lage zu sein. Aus der Richtung von Hobi und Yoongi kommt leises Kichern.
Also gehe ich die letzten Stufen runter und erlöse meinen überforderten Freund, indem ich ihn einfach in die Arme nehme.
“Alles in Ordnung, Joonie?”
Er schluckt. Und nickt. Und schüttelt gleich darauf den Kopf. Seine Stimme ist nur ein Flüstern.
“Weißt ich grade nicht so genau. Ich muss mich erst noch von einer wundersamen Erscheinung erholen.”
“So furchteinflößend?"
“So elfengleich schön!”

Ganz langsam gesellt sich ein Lächeln zu seinen leuchtenden Augen.
“Du bist die schönste Frau, die ich je gesehen habe. Noch besser - du bist meine Frau. Ich liebe dich!”
Ich habe keine Ahnung, ob Namjoon das überhaupt mitkriegt, aber ich blende nun das laute Lachen unserer Freunde auch aus und versinke in einem ausgiebigen, streichelzarten, sanft schwebenden Kuss. Joonies Reaktion, das Staunen in seinem Gesicht, das Glück in seiner Stimme umschmeicheln mich und lassen mich schön fühlen.

Hoseok fällt wieder ein, was er im ersten Stock wollte, doch bevor er sich mitsamt seiner Schadenfreude abseilen kann, bekommen wir unsere Revanche. Familie Woo trifft wie verabredet etwas früher als die anderen Gäste ein. Als Jeongguk unter tiefen Verbeugungen von außen das Portal für So-Ra und ihre Eltern öffnet, verstummt Hoseok schlagartig.

Hinter den Eltern, die ganz traditionell im Hanbok erschienen sind und sich direkt zu Namjoon und mir wenden, erscheint meine zierliche Freundin in einem Hauch schwarzer Spitze und wird ein bisschen verlegen, als sie Hobis überwältigtes Staunen bemerkt.

Diesmal sind es Yoongi und Namjoon, die anfangen zu lachen. Und ich kann mir einen kleinen Seitenhieb nicht verkneifen.
“Im Deutschen sagt man in solchen Fällen: ‘Wer zuletzt lacht, lacht am besten.’ Oder habe ich mich eben verhört, Hobi?”

Während wir die Eltern Woo begrüßen und mit ihnen in den Saal gehen, kommt ganz langsam wieder Leben in unseren erstarrten Freund.
“Ich … das … du … WOW! Du siehst umwerfend aus. Ich …”
So-Ra schaltet wieder in den Normalzustand und antwortet mit unüberhörbarem Grinsen in der Stimme.
“Ich nehm diese Satzfragmente mal als Kompliment. Du darfst den Mund wieder zu machen. … Es … es fühlt sich schön an, so begrüßt zu werden.”
Das letzte, was ich höre, bevor ich mich unseren ersten Gästen widme, ist ein gemurmeltes, vor Ironie nur so triefendes “muss Liebe schön sein” von Yoongi.

Eine halbe Stunde später weiß ich schon nicht mehr, wo mir der Kopf steht. Lächeln ist die Devise. Namjoon und ich als Repräsentanten der Stiftung stehen im offenen Portal und ignorieren tapfer die Kälte. Am Rondell fahren ununterbrochen teure Limousinen vor, mir völlig fremde Menschen strömen die Treppe zum Portal hoch, beglückwünschen uns zu unserem schnellen Erfolg, Bekannte begrüßen sich, Kameras klicken und surren leise, manche amüsieren sich über die unkonventionelle Hinweistafel - und ich fühle mich für einen Moment zurück versetzt an jenen Tag im Mai, als ich aus dem Saal kommend zum ersten Mal wieder diese Halle betreten hatte.
Weg sind Staub, Spinnenweben, Scherben und Trostlosigkeit. Das alte Haus sieht jetzt so prächtig aus.

Als der Ansturm vor dem Haus endlich abebbt und das Gesumm der Stimmen zu einem gleichmäßigen Hintergrundgeräusch verschmolzen ist, gehen auch Namjoon und ich zurück in den Saal. Ein Kammerorchester ist leise zu hören. Alle Kellner schwärmen aus, um den Gästen die Gläser zu füllen. Überall stehen Grüppchen und betrachten die Fülle der von Dr. Lee beigesteuerten Details im ganzen Haus. Pressefotografen schlängeln sich unauffällig durch die Menge auf der Jagd nach guten Motiven.
Namjoon schaut sich um.
“Es scheinen so ziemlich alle da zu sein. Begrüßung?”
“Begrüßung.”

In der Nähe des Orchesters steht ein Mikrofon. Ich schnappe mir im Vorbeigehen eine besternte Kekstüte aus einer Dekoschale und überlasse dann wieder Namjoon den Auftakt. Die Musiker spielen einen Tusch und verstummen. Das Gemurmel erstirbt. Alle Augen sind erwartungsvoll auf uns gerichtet.
Namjoon begrüßt unsere Gäste, erwähnt ein paar Hauptsponsoren namentlich, macht auf die Tombola und die Versteigerung aufmerksam und bedankt sich bei allen für ihre Anwesenheit und ihre Großzügigkeit.
Immerhin haben die Eintrittskarten stolze 450,-$ pro Kopf gekostet, um diese Sause zu finanzieren.

Ich lasse meinen Blick durch den Saal schweifen. Schimmernde Gewänder, funkelndes Geschmeide, glitzerndes Kristall vervielfachen sich in den großen Spiegeln an den Wänden. Neugierige Stille. Wohlwollende Gesichter lächeln mich an. In mir drin ist es warm und zufrieden und dankbar.

Diesmal versuche ich gar nicht, mich an ein Skript zu halten. Ich habe genug tiefschürfende Reden gehalten, es darf jetzt losgehen. Ich halte also einfach mein Kekstütchen mit dem Glasstern in die Kameras.
“Auch von mir ein ganz herzliches Willkommen. Endlich ist dieses Haus wieder mit Leben und Hoffnung, mit Licht und mit Lachen gefüllt. Wie schön, dass Sie alle da sind!

Als ich mir Anfang Dezember eine kleine Auszeit nahm, musste ich sehr viel nachdenken, hinfühlen, vorbereiten. Würde das Experiment gelingen? Würde alles so werden, wie ich es mir vorgestellt hatte? Würde ich genügend Menschen für meine Idee begeistern können, damit die Stiftung ein tragfähiges Fundament bekommt?

Um meine kreisenden Gedanken und meine kribbelige Vorfreude zu kanalisieren, musste ich etwas Konstruktives tun. Also habe ich mich in meine Küche gestellt und einen ganzen Tag lang Kekse gebacken. Berge von Keksen. In mir wollte Weihnachten werden. Ich wollte Freude und Dankbarkeit verschenken. Ich wollte Licht ins Dunkel bringen. Und mir war klar: ich alleine konnte das nicht schaffen. Dazu würde es viele Hände und viele Lichter brauchen.

Ihre Anwesenheit heute, Ihre Großzügigkeit, Ihre Rückendeckung machen unsere Arbeit möglich. Sie sind unsere Hände! Darum bitte ich Sie, sich eine dieser im ganzen Haus verteilten Kekstüten zu nehmen und den gläsernen Stern als Erinnerung zu behalten. Als Erinnerung daran, dass auch Sie ein Teil dieses Lichtes sind, das zu den Menschen in dieser Stadt strahlen will.
Und jetzt wünschen ich Ihnen und uns einen vergnügten Abend!”

Mit einem Lächeln trete ich einen Schritt zurück und überlasse Namjoon wieder das Mikrophon. Der erläutert, wo heute was stattfindet, und macht neugierig, das Haus zu erkunden. Er deutet einen ungefähren zeitlichen Ablauf des Abends an und erhebt schließlich sein Glas auf das Gelingen dieser gemeinsamen Stunden. Alle stoßen miteinander an, unterhalten sich oder begeben sich auf Wanderschaft durch die Villa. Manche treten an uns heran und suchen das Gespräch, andere gehen zielstrebig in Richtung Buffet.

Zum Glück hatte Namjoon recht, was die Namen angeht. Alle reden mich brav mit meinem vollständigen Namen an. Sich selbst stellen sie immer mit Namen und Funktion vor. Aber niemand erwartet, dass ich mir das merke. Die Sorge kann ich also loslassen.

Zeitlich passend, als bei den meisten Gästen einigermaßen die Neugierde befriedigt ist, ertönt plötzlich von der Treppe her ein blecherner Tusch.
Aha. Die Obdachlosen-Bigband. Jetzt bin ich gespannt. Blasmusik ist ja eher etwas Urdeutsches.
Von wegen. Die Musik kommt näher, die Menschen im Saal verstummen, die Türen öffnen sich und herein kommt eine bunte Truppe von sieben Frauen und Männern. Sie haben alle irgendeine Art von buntem Hut auf, während die Kleidung möglichst dunkel gehalten ist. Sie sind sauber, nüchtern und gut drauf. Keines der üblichen Bettlerklischees wird erfüllt. Sie wollen ernst genommen werden.

Aber das kurioseste sind die Instrumente. Der erste bläst mit Inbrunst in eine wohl vom Sperrmüll gesammelte, uralte Posaune, der zweite schlägt eine Trommel, die offensichtlich aus einem Blecheimer gebaut wurde. Zwei Frauen spielen auf Taepyeongso, die aussehen wie Gieskannentüllen aus Blech. Sie klingen wie eine Mischung aus Dudelsack und Entenquaken und sehen ebenfalls selbstgebaut aus. Zwei aus irgendwelchen Metalldeckeln zurechtgehämmerte Becken werden von einem alten Mann gespielt, dem die Freude am Musizieren aus den Augen springt. Das ‘Orchester’ wird ergänzt durch eine Daegeum-Flöte. Sie erinnert stark an westliche Querflöten, hat aber, weil sie aus Bambusrohren gefertigt wurde, einen ganz weichen, erdigen Klang. Und schließlich ist noch ein Saxophon dabei, das auch schon bessere Tage gesehen hat. Die Musik ist ein wildes Crossover aus traditionell koreanischen und amerikanisch-souligen Liedern. Einfach fantastisch.

Ich sehe mich um und erblicke nur entspannte, schmunzelnde Gesichter. Die Musik hat viel Schwung und Ausstrahlung und hebt die Stimmung. Die Musiker spazieren in einer Reihe kreuz und quer durch den Saal und erst dann zu der Bühne mit dem Kammerorchester. Nach dem dritten Lied stellt der alte Mann die Truppe vor, erzählt, was es ihnen bedeutet, gemeinsam die Instrumente zu bauen, zu üben, die Menschen auf der Straße aufzuheitern. Es verleiht ihren Leben einen Sinn.

Danach spielen sie zwei weitere Stücke und verabschieden sich winkend unter tosendem Applaus. Es ist erstaunlich, wie schnell unsere illustren, höflichen Gäste sich vom Charme der Truppe haben einnehmen lassen und einfach mal locker sein können.

Das Kammerorchester nutzt die gelockerte Stimmung aus und macht sofort mit Tanzmusik weiter. Erst jetzt fällt mir ein Problem auf. Namjoon und ich sind heute die Gastgeber und sollten darum den Tanz eröffnen. Ich habe aber keine Ahnung, ob Joon tanzen kann. Und keine Zeit, das unbemerkt herauszufinden.
Hmpf.
Ich sollte mehr Vertrauen haben. Namjoon schaltet sofort, tritt an mich heran, reicht mir seine Hand und macht eine leichte Verbeugung. Ich bin erleichtert, denn er weiß offensichtlich genau, was er tut. Ich lächele ihn an, lasse mich auf die Tanzfläche führen - und blende alles aus. Den Anlass, den Raum, die Leute - da sind nur noch Joonie und ich und ein herrlich leichter Walzer. Ich lasse mich fallen in die Musik, in seine sichere Führung, in die vertrauten Bewegungen und in seine wunderschönen braunen Augen.

Ein paar Paare sind mutig und gesellen sich zu uns, aber ich wäre jetzt am liebsten mit meinem wunderbaren Freund allein.
Es folgen ein paar weitere Tänze, bis die Musiker eine kleine Pause machen. Der Abend nimmt seinen Lauf, die Gäste fühlen sich wohl, das Interesse an den im ersten Stock vertretenen Initiativen ist groß. Das Buffet erweckt Begeisterung, die Küche sorgt unter Hochdruck für Nachschub, die Vorfreude auf die Versteigerung des Hyundai Genesis GV80 SUV steigt spürbar an, nachdem es bei der Tombola eine Gewinnerin des knallroten KIA Stinger Coupe gegeben hat. Ich gratuliere der Dame höflich. Gleichzeitig beginne ich, die Anstrengung zu spüren.

Nach einigen weiteren Tänzen folgt die mit Spannung erwartete Auktion. Drei Interessenten für den Genesis treiben sich am Ende gegenseitig hoch, während der fantastische Auktionator geschickt die Stimmung lenkt. Kein Wunder. Das Auto hat in normaler Ausführung einen Marktwert von rund 95.000$. Bei diesem Exemplar sind aber noch ein paar Extras eingebaut, die es so auf dem Markt noch gar nicht gibt. Und darum landet der Zuschlag schließlich für 125.000$ oder umgerechnet 172.000.000 Millionen Won bei einem Herrn Jeon. Der Mann strotzt nur so vor Selbstbewusstsein und Selbstgefälligkeit und verkündet stolz, dass er den Wagen seinem Sohn Junghyuk zum Staatsexamen schenken wird.

In dem Moment fällt bei mir der Groschen. Jeon Junghyuk. Jeongguks Bruder. Das kann kein Zufall sein! Das ist sein Vater. Schnell suchen meine Augen den Saal ab, aber Jeongguk ist nirgendwo zu entdecken. Stattdessen begegnen meine Augen denen von Yoongi, der mir mit ernster Miene zunickt.
Tatsächlich! Seit wann ist der Mann da? Ich sehe keine Frau an seiner Seite. Und warum hat uns Junghyuk nicht darauf vorbereitet? Wusste er das selbst nicht?

Namjoon wurde grade in ein Gespräch verwickelt und steht, für mich unerreichbar, ein paar Meter weiter weg. Allerdings ist Tae in meiner Nähe. Ich schicke ihn los auf die Suche nach Jeongguk.
Er taucht erst eine halbe Stunde später wieder auf, als Herr Jeon den Ball schon wieder verlassen hat.
“Keine Sorge, Jeongguk hat die Stimme seines Vaters im Foyer erkannt und sich ungesehen ins Pförtnerhaus abgesetzt. Der Vater ist offensichtlich nur für die Versteigerung gekommen und gleich danach wieder verschwunden. Guk gings leider nicht gut da drüben alleine. Also habe ich Jimin und Hyebit aus dem Bus geholt und zu Guk geschickt. So ist es besser.”
“Danke für deine Geistesgegenwart. Das ist wirklich besser so.”

Zum Glück hat niemand im Saal etwas von unseren Hintergrundaktivitäten mitbekommen. Die Stimmung ist ungebrochen, die Musik spielt, die Menschen tanzen. Mir hat diese Aufregung allerdings erstmal einen Dämpfer verpasst.
Das war knapp. Gut, dass Jeongguk so wachsam war und so geschickt reagiert hat!
Beeindruckend, was so eine Gala für Schrecksekunden enthalten kann. Ich merke, wie ich müde werde. Aber ich muss heute durchhalten, ob ich will oder nicht.

Der nächsten Einlage steht nichts im Wege, und ich freue mich einfach auf Hoseok und seine Truppe, weil ich dabei hoffentlich meine ganze Anspannung und Müdigkeit fallen lassen kann. Und die jungen, hoch motivierten Tänzer enttäuschen mich nicht. Ihre freche Musik ist schon von der Halle her zu hören. Stilecht trägt Hobi einen riesigen Ghettoblaster auf der Schulter, während seine Schützlinge um ihn drumrum zur Bühne tanzen. Dort zeigen sie dann so richtig, was sie drauf haben. Hobi unterbricht zweimal - einmal um eine gefahrenträchtige Bewegung zu korrigieren, einmal bringt er den Jugendlichen etwas cooles neues bei, was diese dann üben. Wir erleben also sozusagen eine Trainingsstunde. Hobi ist in seinem Element. Er strahlt eine Freude aus, die mich richtig berührt.

Obwohl dieser abrupte Genrewechsel zwischen klassischer Tanzmusik und modernem Hiphop echt heftig und ungewohnt ist, verschwinden nur wenige Gäste in Richtung Buffet aus dem Saal. Die meisten lassen sich drauf ein und zeigen ihre Bewunderung. Sie sehen sowas mit großer Wahrscheinlichkeit zum allerersten Mal. Für mich ist das keine Überraschung - die jungen Tänzer fälschen den Altersdurchschnitt der Anwesenden deutlich nach unten. Ihre Ausstrahlung beim Tanzen ist intensiv und konzentriert. Die Zuschauer sind also in weiten Teilen nicht mal entfernt so gelenkig und enthusiastisch wie die Truppe und zollen den Jugendlichen darum Respekt.

Hoseok sagt ein paar Worte zu ihrem Auftritt. Zwei Mädels trauen sich sogar selbst ans Mikro. Sie erzählen, aus was für Verhältnissen sie kommen, wie unendlich weit ein Schulabschluss, eine Lehre und ein Job entfernt sind, von dem man leben könnte. Dass sie im Tanzprojekt so ernst genommen und einbezogen werden, hat wieder Hoffnung aus ihnen rausgekitzelt. Sie werden das letzte halbe Jahr in der Schule um einen guten Abschluss kämpfen, weil sie sich gesehen fühlen. Das intensive Tanzen tut ihnen unglaublich gut.
Schließlich demonstrieren sie noch ein paar verschiedene Hiphop-Stile und üben Improvisation. Dann verabschieden auch sie sich und hopsen aus dem Saal.

Gegen Mitternacht ist die Tombola ratzefutz leergefegt, die Aussteller im ersten Stock haben ihre Stände geschlossen und ihre Mitarbeiter nach Hause geschickt. Auf dem Buffet werden die Reste zum letzten Mal attraktiv angerichtet, Hoseok ist plötzlich wieder im schicken Anzug aufgetaucht und hat mich zu einem langsamen Walzer auf die Tanzfläche geführt. Sein allerletzter Tanz gehört allerdings So-Ra, die selig ist, während ich meine Reste von Energie zusammenraffe und noch eine Runde mit Joon genieße. Jetzt packt auch das Kammerorchester seine Sachen zusammen, und die verbliebenen Gäste stehen in kleinen Grüppchen beisammen. Sie trinken ihr Glas leer und verabschieden sich von uns.

In dem Moment, als der letzte Gast in sein Auto steigt, kicke ich meine Schuhe in den Saal und seufze zufrieden.
“Geschafft! Im wahrsten Sinne des Wortes. Heute gehe ich keinen einzigen Schritt mehr.”
Namjoon grinst, und ich ahne nichts gutes.
“Dann muss ich Eure Hochwohlgeboren wohl ins Bett tragen.”
Schnell straffe ich meine Schultern.
“Nene, schon gut. In mein Bett schaff ichs schon noch alleine.”
“Na gut. Also rüber tragen, ins Auto setzen, nach Hause fahren, in den Fahrstuhl tragen und dann ins Bett tragen. Geht auch.”

Ich will schon empört protestieren, als in meinem müden Kopf doch ankommt, dass Namjoon offensichtlich mit zu mir kommen will.
"Genehmigt. Dir sei verziehen. Lasst sofort den Griffel fallen, Jungs. Ab in die Betten. Morgen wird gebruncht und dann gemeinsam aufgeräumt. Tausend Dank und gute Nacht!”

Im Handumdrehen sind alle Speisen in den Kühlschränken gelandet, alle Fenster und Türen geschlossen, alle Lichter ausgemacht und alle Heinzelmännchen verschwunden. Ich bin zu faul, mich nochmal umzuziehen, darum friere ich erbärmlich auf dem kurzen Weg zum Auto. Aber irgendwann ist der lange Abend doch vorbei, ich liege in meinem Bett und darf warm und geborgen in Joonies Armen einschlafen.

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18.9.2024

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