Das Mädchen, das nach dem Mond griff

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Über Fliegen und Fallen und dem Mond

Der Morgen war noch frisch. Die rötliche Sonne erklomm gerade den Himmel und färbte ihn zuckerwatterosa. Auf der Fensterbank eines von Efeu beranktes Hauses, dass am Rande der Stadt seine Wurzeln geschlagen hat, saß Crystal. Sie ließ ein Bein herunterbaumeln, ihren Kopf stützte sie auf das Knie des anderen Beins. So starrte sie krampfhaft auf ein Blatt Papier vor sich. Präg es dir ein, Crystal, präg es dir ein. Sonst wäre alles vergebens gewesen. Wenn sie es nicht schaffen würde...
Seufzend faltete sie das Blatt und kletterte zurück in ihr Zimmer. Dabei verlor sie das Gleichgewicht und plumpste auf den Boden. Als sie den Kopf hob, blickte sie in zwei dunkelgraue Augen, die sich vor Schreck geweitet hatten. Crystal brauchte einen Moment, bis sie merkte, dass es ihre eigenen waren.
Gedanken verloren strich sie sich eine widerspenstige Locke ihres blonden Haars hinters Ohr. Sie dachte nach. Wenn sie es nicht schaffen würde, dann hätte sie kein Zuhause mehr. Dann würde sie betteln müssen. Draußen schlafen. Im Sommer ging das ja noch, aber später, im Winter?
Ihre Gedankenwege wurden von einem lauten Magenknurren unterbrochen, dass ihr bekannt gab dass sie heute noch nicht gefrühstückt hatte. Crystal richtete sich auf und machte sich auf den Weg in die Küche. Bevor sie aus der Tür ging, warf sie noch einen Blick in ihr Zimmer. Vielleicht den letzten. Ein "Zimmer" konnte man es nicht nennen, es ähnelte eher Harry Potters Besenschrank unter der Treppe. Aber es war trotzdem hübsch. Das große Fenster mit der gepolsterten Bank war mit bestickten Vorhängen geziert. Unter diesem stand ein winziger Schreibtisch, auf dem zwischen all dem Krimskrams kaum Platz war. Außerdem gab es noch ein schmales Feldbett und einen Schrank, der zugleich für Bücher und Kleidung gedacht war.
Crystal schloss die Tür und wandte sich der Treppe zu. Die Wand, an der sie sich entlangschlängelte , war mit lauter Erinnerungen beklebt: Fotos.
Auf einem lag Crystal als Baby auf dem Wickeltisch, auf einem anderen sprang ihre Mutter jauchzend in einen See. Man sah ihre fliegenden Haare und jeden einzelnen Wassertropfen, der um sie aufspritzte. Das nächste Bild zeigte ihre kleinen Zwillingsschwestern, die sich gegenseitig die Zungen rausstreckten. Crystal musste lächeln. Doch beim Anblick des nächsten Bildes erlosch es wieder. Ein Mann war darauf abgebildet. Er hat seinen Arm um die Schulter von ihrer Mutter gelegt. Beide strahlten in die Kamera. Ihr Atem beschleunigte sich, ihre Hände ballten sich zu Fäusten. Intuitiv klaubte sie es von der Wand und zerriss es zu kleinen Schnipseln, die langsam auf den Boden rieselten. Als sie sich wieder beruhigt hatte, starrte sie entsetzt auf das zerfetzte Foto vor ihr. Was hatte sie nur getan? Das würde ihre Mutter ihr nie verzeihen.
Um sich abzulenken, ging sie in die Küche. Auf dem runden Eichenholztisch stand eine Milchpackung und eine verdeckte Schüssel. An der Schüssel lehnte eine Karte aus Tonpapier. Als Crystal sie in die Hand nahm, erkannte sie die geschwungene Schrift ihrer Mutter.

Guten Morgen Schatz,
wir wünschen dir einen schönen Tag und viel Glück. Du wirst es schaffen!
Mama, Luischen, Anna und Lili

Tränen traten in ihre Augen. Ihre Familie glaubte an sie. Wieso konnte sie es nicht selbst? Sie durfte sie nicht enttäuschen. Sie musste es schaffen.
Sie würde es schaffen. Aufrecht setzte sie sich auf einen Stuhl und nahm das Küchentuch von der Schüssel. Zum Vorschein kam ihr Lieblingsmüsli, mit frischen Früchten und Nüssen. Sie kippte die Milch darüber und rührte mit dem Löffel um.

Nachdem sie das Müsli ausgelöffelt hatte, machte sie sich auf den Weg zum Wald. Sie begegnete einigen Schülern, die mit ihren Freunden oder Eltern unterwegs waren. Sie schloss sich niemanden an. Crystal war schon immer eine einsame Seele gewesen. Den Kopf gesenkt, lief sie in einigen Abstand hinterher. Der breite, mit Tannennadeln und Moos gepolsterter Weg führte auf ein offenes Feld. Das Getreide wiegte sich im leichten Wind. Mitten auf dem Feldweg stand ein improvisiertes Podium. Auf großen Steinen wurden Holzbretter befestigt. Am Bühnenrand standen Lampions, die später am Abend freundliches Licht verströmen sollen. Davor standen schon viele Eltern, Lehrer und auch Schüler, die Limonade mit den Händen umklammerten. Es duftete nach Bratwurst und frischen Waffeln.
Die Luft war von Geplapper und Gelächter erfüllt.
Da Crystal nicht wusste, was sie tun sollte, blieb sie erstmal stehen und versuchte die ausgelassene Stimmung auf sich abfärben zu lassen. Ohne Erfolg. Ihre Beine zitterten und in ihrem Hals steckte ein dicker Kloß. Wo sollte sie hin? Plötzlich trat eine ältere Lehrerin auf die Bühne und bat um Ruhe. Langsam verstummte die Menge und richtete ihre Augen auf die Frau.
"Alle Schüler, die heute auftreten, begeben sich bitte umgehend hinter die Bühne". Sie blickte die Menge aus schmalen Augen an. Crystal seufzte. Frau Maier war noch nie die freundlichste gewesen.
" Crystal Place, damit meine ich auch sie. Wir sind alle schon seehr gespannt auf Ihre Vorstellung ", fügte sie hinzu und lächelte süffisant.
Crystals Wangen liefen rot an. Mit gesenkten Kopf schlängelte sie sich durch die Menge und stellte sich zu den anderen. Frau Maier las die Reihenfolge vor. Crystal kam so ziemlich in der Mitte dran, worüber sie froh war. Sie musste keinen guten Start hinlegen und auch am Ende musste sie nicht die gelangweilten Leute aufwecken.
Sie setzte sich auf den Boden und heftete ihren Blick auf ihr Gedicht, dass sie vortragen wollte. Nacheinander wurden die Schüler aufgerufen, man hörte Harfenklänge, Gesang und Klaviergeklimper.
" Crystal Place"!
Viel zu schnell war sie dran. Langsam trat sie zum Podium. Die anderen waren alle mit einem Satz raufgesprungen, während sie eine gefühlte Ewigkeit brauchte, um raufzuklettern. Endlich stand sie oben. Die Abendsonne tauchte alles in warmes goldenes Licht und ließ es magisch erscheinen. Crystal staunte. Erst danach fiel ihr Blick auf die Menge, die sie erwartungsvoll anschaute. Ihr leichtes Lächeln war wie weggewischt, der Kloß war wieder da. Sie öffnete den Mund, doch es kam kein einziges Wort heraus. Die Leute fingen an zu tuscheln. Eine Stimme hörte man heraus. "Man sagt ja, Schweigen ist Gold. Vielleicht will sie es uns damit klarmachen." Den stichelnden Unterton war unüberhörbar.
Crystal öffnete abermals ihren Mund. Diesmal kam ein Krächzen heraus. Die Menschen lachten.
"Du schaffst das"
Sie hörte die Stimme ihrer Mutter in ihrem Kopf, sah ihr liebliches Gesicht vor sich.
Sie erhob ihre Stimme über die Menge. Kristallklar.

Ein Gedicht

Glänzendes
Glas

Strahlende
Blüten

Weicher
Sand

Betörende
Düfte

Die Zeit
Ewig

Das Publikum blieb still, als Frau Maier Crystal unterbrach. Auf ihren Lippen lag der Anflug eines Lächelns. Frau Maier fletschte die Zähne. "Sowas will das Publikum nicht hören, Crystal Place. Sieh es ein, du bist eine einzige Enttäuschung!"
Crystals Augen füllten sich mit Tränen. Aber diese Tränen waren anders. Wenn sie aus den Augen tropften, waren sie normal. Doch auf den Weg zum Boden verwandelten sie sich in kopfgroße Bälle. Bald reichte das Wasser bis zu den Waden. Die Leute schrien, packten ihre Kinder und wateten durch das Wasser. Doch das Wasser stieg schnell an. Bald hatte es alle unter sich begraben. Nur Crystal trieb obendrauf und weinte weiter. Sie weinte und weinte. Bald war die ganze Erde mit ihrem Tränenmeer bedeckt und stieg immer schneller an. Kein Mensch wurde verschont. Irgendwann fand sie sich direkt neben dem Halbmond. Sie zog sich mit letzter Kraft darauf. Ihre Tränen waren versiegt. Sie schaute zufrieden auf die toten Menschen, die auf dem Wasser herumtrieben.
Doch sie hatte den Mond erzürnt. Er zog sie auf seine dunkle Seite.

Nichts währt ewig. Auch Crystal nicht.
Am nächsten Tag war sie nur noch ein Haufen schwarzer Staub.

Glas
Zerbricht

Blüten
Zerfallen

Sand
Zerrinnt

Düfte
Verfliegen

Die Zeit
Vergänglich

1261 Wörter
~~~~~~~~~

Wiederveröffentlichung
Blackstar2711

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