Fünf

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»Warum kommst du erst jetzt?« Chloe stand mit misstrauisch zusammengezogenen Augenbrauen in der Wohnzimmertür und hatte die Arme vor der Brust verschränkt, als ich das Haus betrat.

»Sorry«, murmelte ich. »Mir war nach einem Spaziergang und deshalb bin ich in den Wald gegangen.«

»Warum hast du mir nicht einfach geschrieben? Dir hätte schließlich etwas passiert sein können.« Die steile Falte in ihrer Stirn ließ keinen Zweifel daran, dass sie zumindest ein wenig wütend war, auch wenn sie sich zusammenzureißen schien. Vielleicht, weil sie nicht herüberkommen wollte wie die alte Cousine, die jedem den Spaß verdarb.

»Ja. Sorry. Mach ich nächstes Mal«, versprach ich halbherzig.

Sie nickte stumm und verschwand in die Küche. Ich starrte einen Moment lang die leere Tür an. Irgendetwas an ihrem Blick hatte mir das Gefühl gegeben, dass ich nicht der einzige Grund für ihre schlechte Laune war. Einen Augenblick lang blieb ich unentschlossen im Flur stehen, doch dann gab ich mir einen Ruck und folgte meiner Cousine in die Küche.

Ich trat neben sie an die Arbeitsplatte, wo sie gerade ein Stück Lasagne in der Mikrowelle erwärmte. »Möchtest du auch etwas?« Ihre Stimme klang nun wieder freundlich, aber etwas an der Art, wie sie sprach, wirkte aufgesetzt.

Aus Reflex wollte ich verneinen, mein Magen erinnerte mich jedoch just in diesem Moment mit einem lauten Grummeln daran, dass ich seit dem mageren Frühstück heute Morgen nichts mehr gegessen hatte. »Wenn du sowieso gerade etwas machst, gerne«, sagte ich und musterte sie von der Seite. Schien so, als behielte ich Recht. Obwohl sich ihr Ärger auf mich scheinbar verflüchtigt hatte, waren ihre Lippen noch immer fester aufeinander gepresst, als gesund sein konnte.

»Alles klar bei dir?«, fragte ich so beiläufig wie möglich.

»Ja, natürlich«, gab sie zurück – ein bisschen zu schnell und ein bisschen zu überzeugt.

Ich beschloss, ihrer Entgegnung keine Beachtung zu schenken. »Ist etwas passiert?«

»Nein, wieso sollte es?« Sie sah mir nicht in die Augen, als sie den Teller aus der Mikrowelle nahm und ihn mir reichte. Die Fröhlichkeit in ihrer Stimme hatte einen säuerlichen Unterton, den sie nicht ganz verbergen konnte.

»Weil du gereizt bist«, stellte ich schlicht fest. »Ich bin vielleicht erst siebzehn, aber genügend Menschenkenntnis habe ich, um zu bemerken, wenn jemand schlechte Laune hat.«

»Na gut, dann bin ich eben gereizt«, lenkte sie ein und pfefferte einen Topflappen auf die Arbeitsplatte. »Heute ist einfach nicht mein Tag. Vorhin bei der Arbeit hat mein Kollege einen blöden Kommentar abgegeben, und weil sowieso schon eine gereizte Grundstimmung geherrscht hat, sind alle darauf angesprungen.« Sie hob die Schultern. »Keine Ahnung, was heute los ist.«

Ich rutschte auf die Eckbank und meine Cousine setzte sich mit ihrem Teller neben mich. »Apropos Tag, wie war dein erster Arbeitstag?«

Ich ließ die Gabel, mit der ich gerade ein Stück Lasagne hatte aufspießen wollen, wieder sinken. »Ganz okay eigentlich. Mein Chef geht klar und die Mitarbeiter sind auch in Ordnung. Dieser eine benimmt sich ein bisschen komisch, aber er wird schon seine Gründe haben.« Ich verzichtete darauf, ihr davon erzählen, dass ich Duncan unglücklicherweise auf meinem Spaziergang begegnet war – wohl wissend, dass Chloe es sicherlich nicht gutheißen würde, dass ich alleine mit einem Fremden im Wald gewesen war.

»Deine Mum hat mit der neuen Psychologin telefoniert, oder? Es ist also sicher, dass du auch jetzt noch einmal die Woche zur Therapie gehst, oder?« Chloe suchte meinen Blick, doch ich tat so, als sei ich mit meiner Lasagne beschäftigt.

»Klar.« Eigentlich wollten wir doch beide nicht über das Thema sprechen.

Ein unangenehmes Schweigen breitete ich zwischen uns aus. Eilig schlang ich mein Abendessen hinunter und verschwand auf mein Zimmer, mit der Begründung, dass ich müde sei vom langen Tag.

In Wirklichkeit war der Grund jedoch die beklemmende Stille zwischen uns gewesen. Denn sie hatte mehr gesagt als tausend Worte. Wir beide wussten um die Lügen, die wir uns gegenseitig aufgetischt hatten.

***

Es dauerte tatsächlich nicht besonders lange, bis mir die bleierne Schwere in meinen Knochen ein Alibi verschaffte. Keine der Serien, die ich gerade schaute, konnte mich so wirklich fesseln und immer wieder ertappte ich mich dabei, wie meine Gedanken zu den Geschehnissen der letzten Stunden abschweiften, und ich schließlich so weit abdriftete, dass meine Augenlider mehrmals zufielen. Ich konnte gerade noch meinen Laptop zuklappen und neben mein Bett auf den Boden legen, bevor ich wieder in den Strudel aus Gedanken und Erinnerungen gezogen wurde. Bilder rauschten vor mir vorbei, wurden verzerrt, bis sie sich in etwas gänzlich anderes verwandelten, oder mehrere Sinneseindrücke und Stimmen miteinander verschmolzen. Meine Gedanken schienen so schnell an mir vorbeizufliegen, dass sie schon wieder verschwunden waren, ehe ich überhaupt nach ihnen greifen konnte, und irgendwann war ich so weit vom Strom mitgerissen worden, dass ich mich der Schwärze beherzt in die Arme warf.

Im Nachhinein konnte ich nicht sagen, ob ich tatsächlich gewusst hatte, dass ich geträumt hatte. Doch während des ganzen Traumes ließ mich das Gefühl nicht los, dass sich noch nie etwas realistischer angefühlt hatte. Nicht einmal die Realität selbst.

Wie der Traum genau angefangen hatte, wusste ich nicht mehr. Aber irgendwann fand ich mich in einem Wald wieder. Es war vollkommen dunkel. Nacht. Selbst die Silhouetten, die das schwache Mondlicht zeichnete, ließen sich nur schwerlich ausmachen. Ich saß an einen Baum gelehnt auf dem feuchten Waldboden und wartete. Auf wen, wusste ich erst, als eine große, männliche Gestalt zwischen den Bäumen hindurch trat. Sein Name war mir entfallen. Ich schien genau zu wissen, um wen es sich bei der Person handelte; da war dieses Gefühl, doch ich konnte den jungen Mann nicht zuordnen. Ohne ein Wort des Grußes ließ er sich vor mir im Laub nieder. Ein Laptop erschien auf meinem Schoß und ich gab mein Passwort ein. Hinter dem Sperrbildschirm offenbarte sich ein Dokument, auf dem bereits einige Stichpunkte vermerkt waren. Auch kleine ausformulierte Texte und Dialoge fand ich, als ich weiter nach unten scrollte.

Der junge Mann rückte näher, bis er direkt neben mir saß. Mir stockte der Atem. Sein Geruch. Der Duft, den er verströmte, traf mich direkt ins Herz. Ich kannte ihn. Und endlich nahm die Gestalt neben mir Form an, bis sie unverkennbar Duncans Statur und Ausstrahlung besaß.

»Was machst du da?«, wollte er wissen. Seine Stimme war nur ein Flüstern, ein gehauchtes Wispern, das vom Wind sofort wieder verweht wurde und beinahe im Rascheln der Blätter unterging.

»Ich schreibe das Drehbuch für eine Serie.«

»Und worum geht es dabei?«

»Ich weiß noch nicht. Hast du eine Idee?«, fragte ich.

»Wie wäre es mit Eltern?«, schlug er vor. »Es gibt so viele verschiedene Typen von Eltern auf dieser Welt. Findest du es nicht interessant, wie unterschiedlich die Beziehungen zwischen Vätern und ihren Kindern sein können?«

Obwohl ich in der Dunkelheit keine Details erkennen konnte, wusste ich doch mit Sicherheit, dass ich ihm direkt in die Augen schaute, als ich aufsah. »Ich weiß nicht.« Wie automatisch hatte auch ich meine Stimme gesenkt.

»Was weißt du noch nicht?«

»Weniger als du vielleicht denkst. Ich habe das meiste für mich herausgefunden.« Ich wandte mich wieder meinem Laptop zu und las durch die bereits geschriebenen Zeilen.

»Was tust du hier?«, wollte ich wissen.

»Ich versuche loszulassen. Aber das ist nicht wichtig.«

»Was willst du loslassen?« Ich starrte noch immer auf den Bildschirm vor mir, doch meine Aufmerksamkeit galt Duncan.

»Die Menschen, mit denen ich wohl am meisten verbinde. Aber sie tun mir nicht gut. Das haben sie wohl noch nie. Ich bin auf der Suche nach Menschen, die ich wirklich in meinem Leben haben will.« Im kalten Licht des Laptops sah ich nur Konturen seines Gesichtes. Er starrte nachdenklich ins Leere an mir vorbei.

Als er nicht weitersprach, widmete ich mich wieder dem Dokument vor mir und ließ mir die bereits beschriebene Ausgangssituation durch den Kopf gehen, ehe ich einige Sätze tippte. Ich spürte Duncans Blick auf mir, während meine Finger über die Tastatur flogen. Als ich nach einiger Zeit einen Absatz setzte und mich zufrieden zurücklehnte, rückte er dichter an mich heran und begann, mein Geschriebenes zu lesen.

»Kann ich dir etwas zeigen?«, bat er fast vorsichtig. Seine Stimme war ein wenig rau, fast wie die Baumrinde in meinem Rücken.

»Klar.« Ich wagte nicht ihn anzusehen.

Mein Blick ruhte noch immer auf dem Bildschirm, als er seine Hände hob und die meinen mit ihnen umschloss. Meine Finger lagen unbeweglich auf der Tastatur, begannen jetzt jedoch zu zittern. Verdutzt versuchte ich ihm in die Augen sehen, doch er wich meinen Blick aus. »Schau auf den Bildschirm.« Seine Worte waren nur gehaucht und einen Moment lang glaubte ich, dass ich sie mir einfach eingebildet hatte. Als sich Duncans Händedruck allerdings verstärkte, registrierte ich, dass er von mir erwartete, seiner Aufforderung nachzukommen.

Es bedurfte nur weniger Sekunden, bis ich realisierte, was mit den Sätzen geschah, die ich soeben zu Papier gebracht hatte. Sie veränderten sich. Wörter wurden ausgetauscht, ganze Passagen gestrichen und durch neue ersetzt, Sätze umgestellt und der Sprechanteil vieler Figuren gekürzt oder gar gestrichen. Ich konnte zusehen, wie sich der Text nach und nach veränderte.

Mit vor Schreck geweiteten Augen überflog ich die Zeilen, um festzustellen, dass die eigentliche Handlung nur noch in Ansätzen vorhanden war. Irgendeine übernatürliche Kraft hatte meine Geschichte umgeschrieben. Einfach so.

Hektisch befreite ich meine Hände aus Duncans Griff, klickte mitten in den Text hinein, versuchte Sätze zu löschen und zu ersetzten, doch der Cursor blinkte immer wieder auf der selben Stelle auf und ließ sich nicht bewegen. Auch als ich Absätze markieren und entfernen wollte, hatte ich keinen Erfolg. Die Wörter blieben unveränderlich und voller Hass. Der Sinn der gesamten Geschichte hatte sich zum Negativen gewandelt. All die Liebe war zu Abscheu geworden, Zärtlichkeiten zu Gewalt, Komplimente zu Beleidigungen. Kampfszenen überwogen, die Menschen wechselten kaum ein freundliches Wort. Dabei hatte ich doch genau das verhindern wollen.

»Shit, was ist das?«, fluchte ich. Meine Stimme gewann an Lautstärke und hallte ungedämpft in dem weiten Wald. Die Bäume warfen ganz sanft und leise ein Echo zurück wie eine zurückhaltende, gar eingeschüchterte Antwort der Waldbewohner. Aber so sehr ich auch versuchte meiner Wut und Verzweiflung Ausdruck zu verleihen, es wollte den Inhalt meines Drehbuchs nicht ändern. Noch nie in meinem Leben hatte ich mich auch nur annähernd machtlos gefühlt wie jetzt.

»Was hast du gemacht?« Erst als ich erschrocken von ihm abrückte, wurde mir bewusst wie nah er mir gewesen war. Ich starrte ihn verstört an und warf den Laptop auf den Boden. Anstatt kaputt zu gehen, wie ich es mir erhofft hatte, landete er jedoch sicher in einem Laubhaufen.

»Jules, ich weiß auch nicht.«

»Was?! Du wirst doch wohl wissen, was du mir da zeigen wolltest! Erklär mir sofort, was das sollte.« Ich hatte mich so sehr in Rage geredet, dass ich Duncans Hände, die erneut nach meinen griffen, zu spät bemerkte. Obwohl sich alles in mir dagegen sträubte, ließ ich ihn gewähren. Er hatte eine beruhigende Wirkung auf mich, wenngleich ich alles andere als das war. Dabei konnte ich mir selbst nicht erklären, weshalb das veränderte Dokument eine solche Panik in mir auslöste. Es ging schließlich nicht um mein eigenes Leben. Trotzdem spürte ich die Angst tief in mir und mit ihr eine so große Verzweiflung, dass sie fast meinen Hals und Brustkorb zu zerfetzen drohte. Ich wollte und konnte nicht mit der Wendung leben, die meine Geschichte genommen hatte.

»Weißt du, Jules...?«, begann Duncan und räusperte sich.

»Was?«, flüsterte ich jetzt wieder, aber vielleicht klang ich auch nur so leise, weil ich auf einmal gleichermaßen heiser war und krächzte wie ein erkälteter Rabe.

»Das ist deine Geschichte. Du kannst sie schreiben und wie sie ausgeht, liegt in deinen Händen«, wisperte er, als wollte er mich in ein Geheimnis einweihen, das er vor den Ohren des Waldes hüten musste. Schließlich hob er den Kopf und sah mir in die Augen. In den seinen spiegelte sich eine solche Aufrichtigkeit wieder, dass es fast schmerzte. »Einige Dinge kannst du nicht vorherbestimmen und genauso wenig ändern. Aber du kannst andere Steine ins Rollen bringen, die der Geschichte eine neue Wendung gebe, und das zuvor Unmögliche auf einmal möglich machen.« Ein ernster Zug lag auf seinem Gesicht, während er meine Händen noch immer festhielt und die Kälte der Nacht vertrieb.

Meine Lippen waren trocken und klebten fast aneinander. Trotzdem sprach ich den Gedanken aus, der soeben seinen Weg in meinen Kopf gefunden hatte.

»Ich dachte, du wolltest loslassen?«

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