Sechs

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Für gewöhnlich ähnelte ich nach dem Aufstehen einem T-Shirt, das bei hundert Grad mit ebenso vielen Stundenkilometern durch die Trommel einer Waschmaschine gewirbelt worden war – zerknitterte mit Kissenabdrücken auf der linken Wange und nassgeschwitzt von der viel zu warmen Bettdecke. Heute war es jedoch nicht nur mein Äußeres, das gelitten hatte. Mein Inneres war mindestens genauso aufgewühlt und durcheinander.

Meine Schicht im Café begann an diesem Tag recht spät, weshalb Chloe längst bei der Arbeit war, als ich mein Schlafzimmer verließ. Meine Cousine arbeitete als Sekretärin in der örtlichen Grundschule und hatte vollkommen andere Arbeitszeiten als ich, weshalb sie fast immer vor mir das Haus verließ. An diesem Morgen dankte ich dem Universum für diese Fügung des Schicksals.

Wenn man von meiner Selbstfindungsphase im Alter von vierzehn, fünfzehn Jahren absah, hatte ich mich noch nie zuvor derart durcheinander gefühlt. Jetzt einem anderen Menschen gegenüberzutreten, war für mich undenkbar. Seit ich aufgewacht war, hatte sich dieses seltsame Gefühl in meinem Inneren festgesetzt. Und es schwoll immer weiter an, je mehr ich darüber nachdachte. Wie ein Tumor, der allein von meiner Aufmerksamkeit genährt wurde. Doch was mir am meisten Angst einjagte, war die Intensität meines Traumes und vor allem der Erinnerung daran. Ich konnte mich nicht entsinnen, jemals so detailgenau und realistisch geträumt zu haben. Jede einzelne Farbnuance, jedes Blatt des Waldes, in dem ich mich befunden hatte, und jedes einzelne Fältchen in Duncans Gesicht bei jeder seiner Gefühlsregungen war mir im Gedächtnis geblieben. Und das Gefühl, das ich während des Träumens gespürt hatte, verschwand nicht.

Am Küchenfenster stehend, beobachtete ich die Bäume auf dem Grünstreifen, der den Gehweg von der Straße trennte. Sie wiegten sich im Rhythmus des Windes und es hatte etwas Beruhigendes, ihnen zuzusehen. Zumindest etwas hatte sich nach dieser Nacht nicht grundlegend verändert.

Ich ließ den Traum noch einmal Revue passieren, doch meine Gedanken blieben immer wieder an der Stelle hängen, an der Duncan meine Hände genommen und der Text auf dem Laptop sich verändert hatte. Natürlich wusste ich, dass mein Unterbewusstsein sich gelegentlich seltsame Sachen zusammen träumte und ich die Inhalte davon nicht immer ernst nehmen konnte, doch komischerweise erfüllte mich der bloße Gedanke an diese Szene mit Scham. Ich konnte Duncan nicht ausstehen. Gestern hatte ich mir geschworen, nie wieder mehr als das Nötigste mit ihm zu sprechen, wenn er sich nicht bessern sollte. Ich mochte ihn überhaupt nicht. Wieso also träumte ich so etwas von ihm? Ich wollte meine Hände nicht in seinen wissen. Unter keinen Umständen.

Ich war fast schon wütend auf ihn, obwohl ich insgeheim zugeben musste, dass er keinerlei Schuld an den Ereignissen der Nacht trug. Trotzdem war er es gewesen, der mit mir über Drehbücher geredet hatte. Ein Thema, das wirklich privat war, und das ich mit niemandem sonst teilen wollte. Schon gar nicht mit einem Fremden, der anzügliche Sprüche klopfte und das Mitgefühl einer Blechdose besaß. Wobei ihn wohl selbst diese an emotionaler Intelligenz übertraf.

Als es für mich an der Zeit war, den Weg zum Café anzutreten, sträubte sich alles in mir dagegen, meiner Verpflichtung nachzugehen. Nur mittels guten Zuredens gelang es mir, das Haus zu verlassen. Alle meine Ängste, Unsicherheiten und Sorgen lagen dort draußen, komprimiert an einem einzigen Ort. Alleine der Gedanke daran verursachte mir Übelkeit. Als ich mein Fahrrad schließlich vor dem Café abstellte und möglichst unauffällig durch die Scheibe nach drinnen spähte, war ich kurz davor, mich wieder auf mein Fahrrad zu schwingen und das Weite zu suchen. Egal, wohin. Nur weg. Allein Helen, die mir von der Theke aus vergnügt zuwinkte, hinderte mich daran. Jetzt war es zu spät für einen Rückzieher und eine vermeintliche Krankmeldung.

Innerhalb weniger Sekunden waren meine Hände so feucht geworden, dass mir die Klinke beim Versuch, die Tür zu öffnen, entglitt. Ich musste meine Handflächen an meiner Jeans abwischen, ehe ich es erneut probieren konnte. Diesmal klappte es, was mir eine weitere Peinlichkeit ersparte. Während ich unsicher zwischen den Tischen hindurch auf den Tresen zusteuerte, scannte ich verstohlen die Umgebung. Besucher gab es zurzeit nicht viele und von Duncan fehlte zu meiner Erleichterung jede Spur. Vielleicht konnte ich unser nächstes Zusammentreffen also noch ein wenig hinauszögern.

Es gefiel mir nicht, wie groß der Teil meiner Anspannung war, der auf einmal von mir abfiel. Es sollten die Menschen sein, die mich Nervosität in mir hervorriefen – nicht ein x-beliebiger Typ, der sich heute Nacht ungebeten in meinen Traum geschlichen hatte.

»Hey, alles gut?«, begrüßte Helen mich fröhlich.

»Denk schon«, gab ich zurück und versuchte mich an einem optimistischen Lächeln, das sich ein wenig zu verkrampft anfühlte. »Bei dir?«

»Alles super.« Bei dem ehrlichen Grinsen, das sie mir schenkte, fühlte ich mich unwillkürlich schlecht, da ich ihr nicht genauso viel Aufgeschlossenheit und Herzlichkeit entgegenbringen konnte.

Als ich wenig später umgezogen aus dem Mitarbeiterbereich zurückkehrte, beschloss ich deshalb, eine kurze Unterhaltung in Gang zu setzen. Ungefährlicher sozialer Kontakt, wie ich ihn nannte, würde mir sicher guttun.

»Wohnst du eigentlich schon immer hier?«, war die erste Frage, die mir in den Sinn kam, als wir nebeneinander an der Theke standen und auf die nächste Bestellung warteten. Es war ein komisches Gefühl, nach so langer Zeit wieder eine normale Konversation zu führen, in der ich Fragen allein aus Interesse an meinem Gegenüber stellte, und nicht weil sie wirklich wichtig waren. Es fühlte sich nicht nur ungewohnt an, alles an meiner Frage – der Tonfall, die Wortwahl, meine Stimme – hörte sich falsch und gekünstelt an, obwohl meine Freundlichkeit Helen gegenüber tatsächlich nicht gespielt war. Ich kannte sie zwar nicht, aber bisher war mir nichts aufgefallen, das mich an ihr störte. Ihren Optimismus und ihre Fröhlichkeit konnte ich zwar nicht nachempfinden, doch insgeheim bewunderte ich sie sogar ein kleines Bisschen dafür.

»Ja, so ungefähr«, lachte Helen auf meine Frage hin. »Genau genommen sind meine Familie und ich erst hergezogen, als ich schon fünf war. Vorher haben wir in einem kleinen Kaff mit hundert Einwohnern ein paar Kilometer weiter gewohnt. Aber als ich dann in die Schule gekommen bin, wollten meine Eltern nicht, dass ich den langen Weg zum nächsten größeren Ort mit dem Bus fahren muss. Also sind wir nach Gloamwood gezogen. Und – tadaaa – hier bin ich.« Sie deutete erst mit beiden Händen auf sich und machte dann eine ausladende Handbewegung, als würde sie sich mir präsentieren. »Aber den Großteil meiner Kindheit und meine ganze Jugend habe ich hier verbracht. Falls du Schwierigkeiten hast, dich zurechtzufinden, kannst du dich also jederzeit an mich wenden. Ich kenne den Ort wie meine eigene Westentasche«, versicherte sie mir mit übertriebenem Selbstbewusstsein und zwinkerte mir verschwörerisch zu.

Unwillkürlich musste ich grinsen. »Danke, aber ich war auch schon einige Male hier, als ich meine Cousine besucht habe. Zumindest grob kenne ich mich gut genug aus, um mich nicht hoffnungslos zu verlaufen.«

Helen zuckte die Schultern und lächelte. »Ach so.« An einem Tisch in der Nähe der Theke hob ein Mann die Hand und winkte mit seinem Geldbeutel. Er musste gestern schon da gewesen sein, denn sein Profil kam mir bekannt vor. »Sorry, wir können gleich weiterreden. Passt du bitte auf die Kaffeemaschine auf?«

»Ja, klar.« Innerlich schmunzelte ich. Das störrische Küchengerät hatte es also geschafft. Mittlerweile erhielt es bereits so viel Aufmerksamkeit von seinen Mitarbeitern, dass es wie ihr eigenes Haustier behandelt wurde – Streicheleinheiten und gutes Zureden inklusive. Doch während ich so neben unserem Sorgenkind stand und es eingehend musterte, kam ich nicht umhin, daran zu denken, wie Duncan gestern mit ihr beschäftigt gewesen war, als ich die ersten Schritte in das Café gemacht hatte. Immer wieder schweiften meine Gedanken zu ihm ab, und ich fürchtete mich vor dem Moment, in dem er den Raum betreten und mich mit seiner Anwesenheit konfrontieren würde. Der Traum hatte mich so durcheinander gebracht, dass ich nicht einmal einschätzen konnte, wie ich auf unser Wiedersehen reagieren würde. Von Gleichgültigkeit bis hin zu einer Panikattacke konnte ich mir alles vorstellen.

»Wie lange hast du eigentlich noch Schicht?«, erkundigte ich mich möglichst beiläufig bei Helen, als ich sie einige Zeit später in einem ruhigen Moment abpasste.

»Noch bis um drei, so wie morgen und am Freitag auch«, gab diese bereitwillig Auskunft.

»Und wer kommt danach?«

»Heute Robin«, sagte sie. »Er bleibt dann bis zum Schluss und macht den Laden um zehn zu. Aber mach dir keine Sorgen, er ist wirklich ein cooler Typ. Du wirst ihn bestimmt mögen.«

Dieser Robin war tatsächlich das, was mir momentan noch am wenigsten Kopfzerbrechen bereitete. Ich wusste nicht, wie ich es finden sollte, dass ich Duncan heute nicht sehen würde. Zum einen war ich natürlich froh, ihm nach dieser aufwühlenden Nacht aus dem Weg gehen zu können, doch zum anderen wusste ich, dass das Durcheinander in meinem Kopf nicht verschwinden würde, bevor ich ihn das nächste Mal gesehen und erfasst hatte, was da in mir verrückt spielte. Diese Ungewissheit trieb mich fast in den Wahnsinn.

Es dauerte jedoch nicht lange, bis der Tag eine neue Wendung für mich nahm. Nach und nach trudelten immer mehr Gäste ein. Und ausgerechnet jetzt schlitterte die Kaffeemaschine geradewegs in eine Trotzphase der besonders üblen Sorte. Zuerst verweigerte sie jeden Dienst und als ich es auf Helens Rat hin mit Schlagen versuchte, wollte der Kaffee nicht mehr aufhören zu laufen – und das aus allen Löchern und Ritzen, die sich nicht unmittelbar über der Tasse befanden.

Auf mein herzhaftes Fluchen hin drehte Helen sich alarmiert zu mir um. »Was ist passiert?« Bevor ich antworten konnte, war sie meinem Blick bereits gefolgt. Sie seufzte, als sei sie schwer enttäuscht von ihrem Sorgenkind. Mich persönlich überraschte das ein wenig, denn eigentlich hatte ich nie etwas von der Maschine erwartet. Helens Enttäuschung konnte ich also nicht nachempfinden. Nur Frustration und Verzweiflung.

»Und jetzt?«

»Jetzt muss Duncan ran«, murmelte Helen unheilschwanger und griff grimmig dreinblickend nach ihrem Handy, das in ihrer Hosentasche steckte. Trotz dem Ernst der Lage, gelang es ihr Humor zu bewahren. »Er ist der einzige, der uns jetzt noch retten kann.«

Wenn nicht gerade Stoßzeiten und die Schlange hinter uns nicht riesig gewesen wäre, hätte ich ihren Humor vielleicht geteilt. Doch bei dem Anblick der vielen Menschen war mir mehr nach Heulen zumute. Schon sah ich die ungeduldigen Kunden wütende Beschimpfungen mit ihren Lippen formen und aus dem Laden stürmen. Vehement versuchte ich, das Bild aus meinem Kopf zu verdrängen.

»Ich schau, ob ich das irgendwie wieder geradebiegen kann«, beschloss Helen und drückte mir ihr Handy in die Hand. »Wenn Duncan ran geht, sag ihm, dass er herkommen soll. Und zwar sofort.«

Mein Herz setzte einen Schlag aus. Ich sollte mit Duncan telefonieren? Jetzt?! Ich fühlte mich ganz und gar nicht bereit dazu, mit ihm zu sprechen. Und schon gar nicht übers Handy. Am liebsten hätte ich das Teil von mir geschleudert. Einzig und allein meine Zweifel daran, dass Helen in diesem Fall noch immer optimistisch und entspannt sein würde, hielten mich davon ab.

Mit klopfendem Herzen wartete ich auf das Freizeichen. Als es nur einen Wimpernschlag später ertönte, musste ich ein Fluchen unterdrücken. Ich zählte meine Herzschläge, während ich auf das nächste Tuten wartete, und kam auf drei.

Tuut.

Poch, poch, poch.

Tuut.

Poch, poch, poch.

Geh nicht ran. Um Himmels Willen, geh nicht ran!

Tuut.

Poch, poch, poch.

Bitte.

Tuut.

Poch, poch -

»Der gewählte Gesprächspartner ist zur Zeit nicht erreichbar. Bitte versuchen Sie es später noch einmal oder hinterlassen Sie eine Nachricht nach -«

Panisch riss ich das Handy herunter und legte auf.

»Er ist nicht da«, informierte ich Helen und hoffte, dass die Erleichterung in meiner Stimme nicht allzu deutlich wurde.

»Oder er hat sein Handy aus«, fügte sie hinzu. Ihre Finger tippten eifrig auf ihrem Handy.

»Und jetzt?«

»Jetzt halte ich hier die Stellung, während du zu Duncan fährst und schaust, ob er zu Hause ist. Und dann schleppst du ihn hierher. Wenn nötig, auch mit Gewalt.« Ich wollte schon protestieren, doch der entschlossene Zug um ihren Mund erstickte jeden Widerspruch im Keim. »Wenn wir die Kaffeemaschine heute nicht wieder zum Laufen kriegen, haben wir ausgeschissen.«

»Klar«, war alles, was ich herausbrachte. Dann: »Aber ich weiß gar nicht, wo er wohnt.« Ein halbherziger Versuch, das Schicksal in eine andere Richtung zu lenken.

»Ich schon. Gibst du mir deine Nummer? Dann schicke ich dir einen Screenshot von seinem Kontakt.«

»Klar«, krächzte ich und diktierte ihr die Zahlenfolge, von der ich glaubte, dass sie zu meinem Handy gehörte. »Und was mache ich, wenn Duncan gerade schläft?«

Sie zuckte die Schultern. »Dann weckst du ihn eben. Er wird′s verkraften.« Helen sah von ihrem Display auf und schenkte mir ein flüchtiges, wenn auch gestresstes Lächeln. »Schon versendet.«

Gerade noch konnte ich mir ein »Danke« abringen. Wie ferngesteuert lief ich in den Mitarbeiterbereich, um mein Handy aus dem Spind zu holen. Als ich die Schranktür wieder zuschloss, lehnte ich meine Stirn gegen das kühle Metall und schloss die Augen.

Ich hatte mir erhofft, dass es besser wurde, sobald ich in Gloamwood war. Wenn ich ganz tief in mich hineinhorchte, hatte ich es sogar geglaubt. Mit jeder Faser meines Körpers. Aber wie auch alles andere, war es nur meine Wunschvorstellung gewesen. Eine Illusion. Wie sollte ich mir ein neues Leben aufbauen? Wie, wenn mir das stabile Fundament fehlte? Ich konnte mir nicht länger etwas vormachen. Ich war noch immer krank. Natürlich war es besser geworden und meinen jetzigen Zustand konnte man nicht mehr mit dem in der Psychiatrie vergleichen. Trotzdem war ich alles andere als geheilt und die Narben lagen noch immer gut sichtbar an der Oberfläche. Sowohl auf physischer als auch auf psychischer Ebene. Und ein jedes Mal, wenn meine Narben erneut verletzt wurden, rissen sie mir den Boden unter den Füßen weg. Den Boden, auf den ich unter Schweiß, Tränen und größten Mühen Stein auf Lehm und Lehm auf Stein geschichtet hatte, nur um wenig später zusehen zu müssen, wie alles in sich zusammenfiel. Zurück blieb eine Ruine.

Ich hatte mir einen Neuanfang immer als etwas Leichtes, Befreiendes vorgestellt, doch nun war ich lediglich frei von meinem alten Leben, während das neue mich überfuhr.

»Hey, alles gut bei dir?«

Ich schreckte auf und stand nur den Bruchteil einer Sekunde später wieder kerzengerade da. Ich war so in Gedanken versunken gewesen, dass ich gar nicht bemerkt hatte, dass Helen den Raum betreten hatte. »Klar. Ich bin nur ein bisschen müde.« Betont optimistisch wedelte ich mit meinem Smartphone in der Hand. »Dann statte ich Duncan mal einen Besuch ab.«

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