Erinnerungen der Stühlewerfer

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          Sie redeten für drei Tage nicht. Und Adriel war das sehr recht. Er saß auf dem Großbaum, die Beine wenige Meter über dem Deck und lehnte gegen den Mast. Es war sein Lieblingsort um drei Glasen, eine Stunde bevor die Tagwache begann. Über ihm breitete sich ein Sternenmeer aus, begleitet durch das gleichmäßige Rauschen der Wellen unter ihm.

Nirgendwo war es so friedlich. Nirgendwo war er so alleine.

Hier oben war die Welt unendlich für ihn.

Sie schlief schlecht. Ihre Emotionen waren wie Nordlichter in seinem Hinterkopf, nachts am hellsten. Wenn er sich konzentrierte, konnte er sie ausblenden, aber momentan war er zu erleichtert, dass sie überhaupt schlief. Hier draußen, den kalten Wind im Gesicht, ließ er ihre Gefühle in seinen Kopf. Sie malte Bilder für ihn. Erzählte Geschichten.

„Gewalt löst keine Gewalt. Sie pflanzt nur neue Gewalt." Er hatte die Angst in ihren Augen gesehen. Dieselbe Angst, die Kellen sein ganzes Leben begleitet hatte. Gewalt pflanzt neue Gewalt. Sein Vater war das beste Beispiel gewesen.

Ihr Traum schwankte an der Schwelle zu einem Albtraum. Er hatte ihn geweckt und hier raus gelockt. Die wechselnden Gefühle, zu schnell und sprunghaft. Er versuchte ihre Geschichte zu lesen, oder sich selbst eine auszudenken. Eine Jagd nach einem verborgenen Schatz... begraben unter Spinnen... eine Klippe... der Sturz... die Gabe zu Fliegen auf dem Wind.

Er schloss die Augen und atmete die salzige Seeluft ein. Hielt sie in sich fest, bis er Teil der Unendlichkeit wurde. Bis ihr Traum sein Traum wurde. Es wurde Zeit, dass sie endlich in Cerriv ankamen. Abstand würde ihm guttun.

Das Knarren der Luke ließ ihn ruckartig nach oben fahren. Im Mondlicht sah sie mit ihrer hellen Haut und den weißen Haaren aus wie ein Geist. Durchsichtig wie immer, einen Windstoß davon entfernt, sich aufzulösen. Sie stand einige Sekunden bewegungslos an Deck, sah sich um- die Augen leer.

Adriel sprang von seinem Platz herunter, seine Stiefel laut auf den Planken. Sie schlafwandelte? Das war neu. Vorsichtig kam er auf sie zu, einen Blick zu seinem Steuermann werfend, der mit einem stummen Nicken seine Aufmerksamkeit wieder dem Horizont zuwandte.

Noch bevor er sie erreichte, setzte sie sich wieder in Bewegung. Die Schritte unkoordiniert, aber zielstrebig. Ihr Tattoo auf dem Handgelenk hob sich stark gegen ihre Haut ab. Wie eine Warnung. Sie bemerkte ihn, drehte sich um und kam die letzten Schritte auf ihn zu, die er als Sicherheitsabstand gelassen hatte. Er wollte sie nur nicht über die Reling wandern lassen- nicht bedrängen.

Doch zu seiner Überraschung lächelte sie. Breit.
„Es ist wunderschön hier." Neben ihm legte sie den Kopf in den Nacken. Wind strich über ihre Wangen und blies Strähnen aus ihrem Gesicht.

Adriel betrachtete sie. Sie hatte Sommersprossen. Genauso blass wie sie, aber er hatte den Verdacht, dass nur wenig Sonne fehlte, bis sie übersäht von ihnen war. Und dass sie nie lange in die Sonne gehen konnte.
„Was machst du hier draußen?" Er hatte ihr nicht antworten wollen. Hatte sie schlafen lassen wollen.

Ein Lachen löste sich aus ihr und sie sah ihn wieder an.
„Weißt du, wie oft ich hier schon war?" Vollkommene Gelassenheit rollte von ihr weg und durch ihr Band zu ihm hinüber. Gelassenheit, die mit seiner eigenen Sorge kämpfte. Warum fühlte sie nachts Dinge immer so stark? Sie übertrumpften seine eigenen Emotionen wie eine Heerschaar.
„Ich hätte nie gedacht, dass ich eines Tages zurückkommen würde." Sehnsucht rollte mit den letzten Worten durch sie hindurch.

„Du warst noch nie nachts hier", erwiderte Adriel sanft und griff nach ihrem Ellenbogen, um sie zurück zur Stiege zu leiten, „Ich weiß das, weil ich jede Nacht hier bin."

Doch Ana hatte andere Pläne. Noch bevor er wusste, was passierte, fädelte sie ihre Finger durch seine und zog ihn genau dorthin, wo er sie nicht wissen wollte: Richtung Reling.
„Ich habe dich schon mal gesehen. Aber nicht hier."

Sie streckte ihre Nase in den Wind, ehe sie ihn wieder ansah und mit den Augenbrauen wackelte.
„Ich war da, als du den Stuhl geworfen hast."

Adriels Kopf drehte sich zu ihr und instinktiv packte er ihre Hand fester. Stuhl geworfen? Er hatte in seinem Leben nicht oft mit Stühlen geworfen. Und das ganz bestimmt nicht im Meer. Erinnerungen begannen an seinem Verstand zu nagen.
Sehr gründlich musterte er sie von der Seite, ehe er schließlich fragte: „Wo habe ich den Stuhl geworfen?"

Ihre Brauen schoben sich zusammen, als hätte er sie nach ihrem Namen gefragt.
„In der Bibliothek. Als sie dir gesagt haben, dass du der nächste Caraid wirst."

Ein Stein legte sich in Adriels Magen und er musste sich mit der anderen Hand an der Reling Halt geben. Vor ihm breitete sich das Meer aus, dessen Wellen das Licht der Sterne spiegelte. Er sah nichts davon. Sie konnte unmöglich in der Palastbibliothek gewesen sein. Er schüttelte den Kopf, als könne er so ihre Worte loswerden. Aber er hatte dort einen Stuhl geworfen.

Und als spüre sie seine Zweifel sah Ana zu ihm auf und sagte: „Es tut mir leid, dass sie dich nicht in Ruhe gelassen haben."

Wenn sie ihm ein Messer in den Bauch gerammt hätte, wäre es nicht schmerzhafter gewesen. Es waren weniger die Worte als das aufrichtige Bedauern dahinter. Es kostete Adriel Jahre seines Trainings, dass er aufrecht stehen blieb und sie nicht von sich stieß. Er hatte an diesem Tag eine egoistische Entscheidung gefällt. Niemand sollte ihn dafür bedauern.

Wer war sie, dass sie sowas wissen konnte?

Mit einem traurigen Lächeln drückte sie seine Hand und ließ sie los.
„Ich sollte zurück ins Bett gehen. Diese Träume sind witzig, während man sie hat- aber morgens bist du er-schla-gen. Judy konnte sie mir immer von der Nasenspitze ablesen." Und damit drehte sie sich um.

Adriel konnte sich nicht bewegen. Er sah ihr hinterher, wie sie zu ihrer Luke zurückkehrte und die Stiege hinabkletterte. Aber er folgte ihr nicht, um die Luke zu schließen.
Woher hatte sie das gewusst? Von welchen Träumen redete sie?

„Willst du sie immer noch nach Cerriv bringen?"
Seine Gedanken hatten ihn so verschlungen, dass er seinen Onkel vor der Kajütentür nicht bemerkt hatte. Er trug seinen Lieblings-Morgenmantel, eine Monstrosität in Violett. Aber sein rundes Gesicht war vollkommen ernst.

Adriel sah zu ihm hinüber, die Hand, die Ana gehalten hatte, immer noch nutzlos in der Luft.
„Woher weiß sie von der Nacht meiner Ernennung?"

Sir Ranwics Blick wurde weicher, aber er konnte nur mit den Schultern zucken.
„Ich denke, es wäre in unserem Sinne, wenn wir sie zum Reden bekommen", seine Brauen schoben sich zusammen.

„Wir können sie nicht hierbehalten", Adriel starrte seinen Onkel an, als könne er durch ihn hindurchsehen, „Wenn sie von Bord schlafwandelt..."

Doch der alte Mann ließ nicht locker. „Dann müssen wir besser aufpassen. Stell einen Matrosen auf dem Gang ab." Er sah selbst, dass er seinen Neffen nicht überzeugte.
„In Cerriv ist sie nicht sicher. In Cerriv ist sie nutzlos."

„Aber lebendig."

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          Ana fuhr mit einem Schreck aus ihrem Bett auf. Ihr Puls raste, als hätte sie einen Dauerlauf hinter sich und als sie versuchte, sich Haarsträhnen aus dem Gesicht zu schieben, zitterten ihre Hände.
Es war wieder passiert.

Um sie herum herrschte vollkommene Dunkelheit. Nur das kleine Bullauge ließ das Licht der Sterne in ihre Kajüte und erhellte die Ränder der spärlichen Einrichtung. Ana schluckte mehrmals trocken, während sie verzweifelt versuchte, sich in ihrer neuen Realität zu orientieren. Das Rauschen der Wellen. Das Ächzen des Schiffs.
Es war wieder passiert.

Sie erinnerte sich. An die Häuser, Moosbewachsen und grau. Sie war über einige der unzähligen Brücken gelaufen- gerannt. Ihre eigene Atmung schüttelte sie, als sie die Beine über die Bettkante warf. Warum war es jetzt wieder passiert?

Sie hatte seit Jahren nicht mehr von der gespaltenen Stadt geträumt. Sie hatte alles versucht. Sie hatte ihre Erlebnisse in ihr in einem Tagebuch niedergeschrieben und sich selbst vor dem Schlafengehen vorgelesen. Von Lady DeCries und ihrem Königreich aus Kriminalität. Dem Marktplatz in der Höhle. Der tausend Brücken. Sie hatte Cassy jeden Abend von ihren Abenteuern erzählt, bis die Verzweiflung sie die Wahrheit sagen ließ.

Sie war wirklich dort gewesen. Ein Jahr lang jede Nacht. Sie hatte die Leute beobachtet, wie sie ihre eigenen Abenteuer erlebten. Die Mutproben der Klippenspringer. Die Bandenkämpfe und ihre Territorien. Irgendetwas hatte sie mit diesem Ort verbunden und sie immer wieder zurück gelockt. Und sie hatte Nächte damit verbracht, herauszufinden was es sein konnte.

Cassys Bericht und ihr Tagebuch hatten ihr den ersten Termin bei Dr. Neill eingebracht. Und selbst danach hatte sie nicht aufgeben wollen. Sie hatte das Problem gegoogelt. Hatte versucht, luzid zu träumen. Hatte ihre Medikamente weggelassen. Hypnosetechniken erlernt.

Ana sah zu dem Bullauge, die Hände um den Rand ihres Bettes geklammert. Unter ihr wog der Boden sie sanft hin und her, als wolle sie das Meer überreden, wieder einzuschlafen. Wieder in die gespaltene Stadt zurückzukehren, die sie jahrelang gesucht hatte. Aber die nie wieder gekommen war, als wäre sie wirklich nur ein Traum gewesen.

Bis heute Nacht.

Ana merkte nicht, dass sie weinte, bis die Tränen auf ihre Oberschenkel fielen. Sie träumte. Ihre Fingerspitzen schoben den Saum ihres Nachtgewands zur Seite, doch sie stoppte sich selbst und zog ihn stattdessen energisch weiter herunter. Sie wollte nicht wissen, ob dieser Traum Spuren hinterlassen hatte.

Sie träumte wieder. Ihre Finger krallten sich in den Stoff und sie stieß einen beherzten Fluch aus. Unfähig, ruhig zu bleiben, sprang sie auf und begann durch den Raum zu laufen. Zum Tisch und wieder zurück zum Bett. Zum Fenster und zur Stiege.

Wenn sie träumte, würde sich früher oder später alles wiederholen. Irgendjemandem würde es auffallen- am wahrscheinlichsten Adriel. Wahrscheinlich spürte er es bereits jetzt. Und wie sollte sie es ihm erklären? Es gab keine Erklärung, die ihre Träume logisch darlegten. Er würde sie einsperren.

Die Gedanken ließen sie schwindeln. Ana packte mit einer Hand eine Stiege der Stufe, um sich zu stabilisieren und legte die andere auf ihr Brustbein. Sie musste sich beruhigen. Bevor er sofort herunterkam.

Zwanghaft kontrollierte sie ihren Atem. Holte langsamer Luft, als es ihr lieb war und hielt sie solange sie konnte in ihrer Lunge. Sie durfte sich nicht auffällig verhalten. Nicht auffälliger als sonst.
Rastlos wanderte ihr Blick durch ihr Zimmer. Aber was würde sie ihm sagen, wenn er mitten in der Nacht von blauen Flecken geweckt wurde?

Sie musste von hier fort. Mehr als noch davor. Sie würde Adriel nicht ewig alles verheimlichen können. Sie musste in ihre eigene Welt zurück, bevor er sie einsperrte. Und dazu brauchte sie Mika'il. Lebendig.

Draußen warf eine Welle ihre Schaumkrone gegen die Scheibe ihres Bullauges und brachte weitere Erinnerungen ihres Traums zu Ana zurück. Die gespaltene Stadt. Ein befremdliches Gefühl breitete sich in ihr aus und ließ ihren Herzschlag flattern.

Ihr Blick wanderte zu ihrem Bett. Sie war wieder dort gewesen. Lady DeCries Tochter war erwachsen geworden. Ana schloss die Augen und rief sich ihr Gesicht in Erinnerung. Sie hatte gedacht, sie würde sie niemals wiedersehen. Nie herausfinden, warum sie immer wieder dorthin zurückkehrte.

Mit leisen Tapsern schlich sie sich zu ihrem Bett zurück und krabbelte unter die Decke. Vielleicht nur einen letzten Blick-...꧁꧂

"Legt noch ein paar Sterne zu der Sternenverhangenen Nacht." - Adriel. Nicht sicher, was gerade passiert ist.

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