Intrigen bei Nacht (wenn eh schon alle wach sind)

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          Die Seelenweberinnen konnten ihr an dem Abend keinen Besuch abstatten, denn sie hatten selbst Gesellschaft.

Kaïa stand, ihnen den Rücken zugewandt vor dem Kamin und wärmte sich die Hände. Es war nicht notwendig. Kälte hatte ihr noch nie viel ausgemacht, aber sie hatte sich die Geste über die Jahre bei den Menschen abgeschaut und nutzte jede Gelegenheit, um sie zu zeigen.
„Netter Plan, den ihr da habt. Was soll es werden? Sie bringt ihn um und endlich wird wieder ein Platz auf den Thronen der Caraiden frei, den sie einnehmen kann? Wäre es nicht schlauer, den Nachtfuchs umzubringen? Die Leute würden denken, die Rebellen hätten Erfolg gehabt."

Sie spürte die vielen Augenpaare in ihrem Rücken wie heiße Fingerabdrücke. Noch ein Grund, sie nicht anzusehen. Sie jagten selbst ihr eine Gänsehaut über die Arme, wenn sie so schnell ihr Alter wechselten.
„Wir haben vergessen, wie alt du wirklich bist."

Kaïa schüttelte sich leicht. Die Stimmen waren schlimmer. So monoton. Wie ein Echo.
„Liegt an der Maske. Hält jung." Sie starrte in die Flammen, bis ihre Augen schmerzten. Sie sah keine Bilder darin wie manche ihrer Schwestern und dafür war sie dankbar. Sie war bereits genug gestraft.

„Wir haben den Stein nicht mehr." Dieses Mal sprach nur eine und Kaïa glaubte in ihrer Stimme diese winzige silbrige Spur des Mitleids zu hören.

Sie unterdrückte ein Seufzen und drehte sich schließlich um.
„Ich weiß. Ich will von euch wissen, wie ich ihn aus Mika'ils Händen zurückbekomme."

Jedes einzelne Gesicht hatte denselben blanken Ausdruck. Desinteressiert. Teilnahmslos. Ausgewaschen durch Tausend Jahre Unsterblichkeit.
Es war Kaïas Albtraum, aber sie konnte nicht wegsehen.

Schließlich sprach die in der Mitte wieder.
„Du hast die Kraft, ihn zu überwältigen."

Kaïas Finger knackten.
„Das ist nicht mein Stil." Mika'il war ähnlich alt wie sie. Er kam aus derselben Welt.
Wahrscheinlich würde er einen Weg finden, den Stein verschwinden zu lassen. Mit irgendwem einen Tausch aushandeln, den er eh nicht einhalten würde- nur wenn es ihn nach Hause brachte. Sie hatte ihn erlebt. Er war besessen.

Die Seelenweberinnen ließen sich Zeit mit ihrer Antwort, als kämen sie nach und nach zu demselben Schluss wie Kaïa.
„Du hast den Groll des Orakels geweckt. Ihr Einfluss auf die Rebellen schadet unserem Land."

Kaïa rollte mit den Augen.
„Ihr wollt den Usurpator genauso wenig auf dem Thron wie sie. Seht es als Geschenk. Er wird eher seinen Bruder umbringen als eure Tochter. Egal wie oft ihr sie nachts besucht."

Keine Regung. Es war, als unterhielte sie sich mit Puppen. Aber sie spürte die Veränderung in der Luft, als die Frauen die unterschiedlichen Garne des Schicksals zu einem zufriedenstellenden Muster verwoben hatte. Ihre Entscheidung war gefallen.
„Es wird Zeit, etwas richtig zu stellen."

Kaïa wusste, wovon sie sprachen, noch bevor sie fortfuhren.
„Der Handel um deine Maske hat dich nicht zum Schweigen verpflichtet." Eine Welle ging von links nach rechts durch die Frauen und hinterließ sie in unterschiedlichen Altern, die Stimmen teilweise kindlich, teilweise krächzend. „Sprich und dein Plan wird aufgehen."

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          Ana wurde nicht erwischt, als sie zurück in ihr Zimmer schlich, obwohl ihre Gedanken sich die ganze Zeit um die kleinen Fetzen Information drehten, die er ihr gegeben hatte. Die Warnung hatte etwas mit den Caraiden zu tun. Und die Seelenweberinnen wollten Adriel tot sehen.

Anstatt ihren Gang in die Bibliothek überflüssig zu machen, hatte Lord Gallowen ihn dringlicher denn je gestaltet. Sie war sich sicher, dass sie zwischen Warnungen, Caraiden und Drachen etwas finden würde, dass sie Salem weiterleiten konnte.

Und vielleicht sogar etwas, dass die Seelenweberinnen von ihrem Plan abbrachten.

Ana schlief in der Nacht nicht viel. Tagsüber bekam sie nur Besuch von Sir Ranwic, der ihr berichtete, dass Adriel versuche, die Wogen mit seinem Bruder zu glätten und Briefe an die Jägergilde schrieb. Er selbst kam nicht vorbei.
Erst zum Abendessen fand sie ein junges Zimmermädchen, das höflich genug war, ihr den Weg in die Bibliothek zu beschreiben. Sie redete sich ein, dass sie nicht wartete, die Beine überkreuzt auf ihrem Bett sitzend.

Sie wollte ihn auch gar nicht sehen. Es erinnerte sie nur daran, was für ein schreckliches Versprechen sie den Seelenweberinnen gegeben hatte und das brachte sie dann in Versuchung, ihm alles zu erzählen. Und wer wusste schon, wie er reagieren würde, wenn er herausfand, dass ihr Band nicht mehr existierte? Würde er sie rausschmeißen?

Aber sie wusste, warum er der Jägergilde schrieb. Und das wiederum machte ihre Wangen warm und sie wollte ihn fragen, ob er Erfolg gehabt hatte. Ob sein Bruder wieder mit ihm sprach. Ob er froh war, daheim zu sein.

Es war besser, dass er nicht vorbei kam.

Aber sie konnte dieses merkwürdige Gefühl nicht ganz abschütteln, als sie zum Licht des aufgehenden Mondes wieder auf den Gang hinaus schlich. Er hatte besseres zu tun und das war gut. Sie hatte schließlich auch besseres zu tun.

Der Gang sah genauso aus wie am Vorabend. Lediglich das sanfte Murmeln von weit entfernten Unterhaltungen ließ Ana auf der Türschwelle zögern. Schließlich änderte sie ihre Strategie, drückte die Schultern durch und zog die Tür hörbar in ihr Schloss. Sollte sie jemand sehen, sollten sie denken, dass sie hier draußen sein durfte.

Aber so ganz wollte ihre Idee ihr nicht gelingen. Sie zuckte immer noch bei jedem hallenden Lachen zusammen, während sie den Gang dieses Mal in die andere Richtung hinunterschlich. Und wenn sie das Gefühl bekam, dass sich jemand ihr näherte, drückte sie sich dicht an die Wand. Eher wie ein Spion aus einem von Markus alten Agentenfilmen, anstatt der selbstsicheren Gefährtin des Prinzen, die sie eigentlich darstellen wollte.

Doch jemand war auch in dieser Nacht auf ihrer Seite. Nicht nur, dass ihr schließlich niemand begegnete, als sie die kleine Nebentür der Bibliothek erreichte. Sie hatte auch stets das Gefühl beobachtet zu werden und es hätte sie nicht gewundert, wenn die Seelenweberinnen ihre langen knochigen Finger im Spiel hatten.

Die dicke Eichentür knarzte leise, als Ana sie aufdrückte, doch der leise Laut des Protests war nicht, was sie kurz darauf wie angewurzelt in der Bibliothek stehen bleiben ließ.
Sie hatte sich ähnlich gefühlt, als sie Cerriv gesehen hatte. Sie befand sich auf dem zweiten Stockwerk der Bibliothek, das nur die Hälfte des Raumes ausfüllte, ehe es in mehreren gedrehten Wendeltreppen nach unten führte. Vor ihr fiel weißes Licht durch ein rundes Buntglasfenster und malte Muster auf verteilte Regale, Tische, Stühle und Vitrinen.

Es sah noch genauso aus wie in ihrem Traum. Bücher lagen aufgeschlagen auf den Tischen und gestapelt in kleinen Wägen, bereit am nächsten Morgen weggeräumt zu werden. Staub tanzte von der Decke herab und zeigte im Mondlicht sein glitzerndes Gewandt.

Ana fühlte sich wie eine Schlafwandlerin, als sie weiter zwischen den Regalen hindurch ging zu dem Geländer, das das zweite Stockwerk beendete und ihr den Blick auf die restliche Bibliothek freigab. Ihr Atem kam kurz und unzureichend. Sie war so in ihrer Erinnerung versunken, dass die hässlichen Bilder des Abgrundes keinen Platz in ihrer Aufmerksamkeit fanden und sie unbesorgt ihre Finger an die hölzerne Balustrade legen konnte.

Sie war schon einmal hier gewesen. Die Kirchenrose hatte sie bis in Judy und Markus Küche verfolgt und sie hatte sie bewusst anstarren müssen, damit sie verschwand. Und dort unten... Ihre Erinnerung lief aus wie ein kaputter Film, als sie das Licht unten sah.

Zwischen den Vitrinen, genau an dem Ort an dem Adriel die Neuigkeiten seiner Ernennung zum Caraiden erhalten hatte, saß ein blonder Junge und blätterte in einem Buch. Er hatte sich dabei nicht für die übliche Kombination entschieden, auf einem Stuhl zu sitzen und sein Werk auf den Tisch zu legen. Stattdessen saß er auf dem Tisch, die Füße fest auf der Sitzfläche des Stuhls platziert und balancierte das Buch auf seinen Knien.

Kellen.
Ohne die schwere Kleidung und die zu große Krone sah der Junge noch jugendlicher aus, einige Jahre jünger als Ana sogar. Versunken in seine Lektüre hatte er sie nicht bemerkt. Und es wäre auch sicher die intelligentere Entscheidung gewesen, hätte Ana sich an dieser Stelle auf leisen Sohlen zurückgezogen. Der Usurpator Anderthals war nun wirklich der Letzte, der sie hier draußen sehen sollte.

Aber wieder bekam sie den Eindruck beobachtet zu werden. Und ihren Verdacht noch weiter bestätigend, begann in ihrer Rocktasche das Monokular leise zu vibrieren. Ana griff hektisch danach, allein um das Geräusch in ihrer Hand zu ersticken.

Das Gerät ließ sich nicht beirren. Es musste eine besondere Form der Reparatur durch Adriel erfahren haben, denn es war wild entschlossen Anas Hand in ihrer Tasche hin und her zucken zu lassen, bis sie es endlich herausnahm, aus Angst, sie könnte Kellen stören.

Die dunkle Oberfläche des Monokulars glänzte selbst im Dunkel des Raums und seine Wärme grenzte an die Schwelle des Behaglichen. Ana wusste genau, was es von ihr wollte. Es war eine furchtbare Idee. Beinahe genauso furchtbar, wie nachts durch den Palast zu schleichen. Aber es wollte sie nicht in Ruhe lassen.

Sie zog eine Grimasse, als wäre sie körperlichen Schmerzen ausgesetzt und hob es vor ihr Auge. Es musste erst eingestellt werden. Der Fokus zeigte nur unscharfe Lichter, die sich überall in der Nähe der Bücher tummelten. Aber ein kleines Zahnrad behob die ersten Schwierigkeiten und mit einem Zweiten, konnte sie sogar ein Stück näher an Kellen heranzoomen.

Aber Magie war nicht, was das Monokular ihr zeigen wollte. Einen Herzschlag bevor sich das Bild zu einer lange vergangenen Erinnerung verzog, schlug Kellen das Buch in Frustration zu.

Ana hielt die Luft an. Sie konnte den Titel nicht lesen, aber das brauchte sie auch gar nicht. Der Einband war blasser, als sie ihn das letzte Mal gesehen hatte, doch der blaue Stein in der Mitte des Rückens war immer noch unverändert. Es war das Buch, in dem Kaliah vor ihrem Verschwinden geblättert hatte.

Zwischen einem Lidschlag und dem Nächsten, verschmolzen die dunklen Farben der Bibliothek zu den hellen ausgewaschenen Brauntönen von Kaliahs altem Zimmer. Der Salzgeruch des Meeres veränderte sich, wurde wärmer. Die glatten Steine der Bibliothek wichen rauem, aufgequollenem Holz.

Aber anstatt dem rothaarigen Mädchen fand Ana Kellen in ihrem Zimmer stehend. Er war kleiner als jetzt, allerhöchstens zwölf oder dreizehn Jahre alt. Seine Kleidung war sorgfältiger, von einer liebevollen Mutter oder einem guten Diener ausgesucht. Sie stand im starken Kontrast zu dem verwüsteten Raum um ihn herum. Kellen watete zwischen zerstreuten, gebrochenen Büchern hinüber zu dem umgestoßenen Schemel, auf dem Kaliah wahrscheinlich nur wenige Minuten gesessen hatte. Das rote Buch mit dem blassen Stein in der Mitter, lag noch immer aufgeschlagen auf dem Tisch, die Blätter bewegt durch den Zug des offenen Fensters.

Kellen drehte sich im Kreis, als erwarte er, dass Kaliah aus ihrem offenstehenden Schrank herausspringen würde. Er wusste nicht was vor sich ging. Doch seine angespannten Schultern und die großen Augen verrieten, dass er nicht mehr lange brauchen würde.
„Kaliah?"

Seine Stimme war dünn, kaum mehr als ein Wispern. Sein Blick glitt geradewegs über eine stocksteife Ana hinweg, ehe er das offene Buch fand. Er näherte sich, als hoffe er sie, zwischen den Seiten zu finden, beugte sich darüber und-...

Das Zufallen der Zimmertür ließ ihn und Ana herumfahren. Lady DeCries stand davor, tausend Stürme in ihren schwarzen Augen und ihren Morgenmantel um sich geschlungen wie eine Rüstung.
„Was tust du hier drinnen, Bursche?"

Ihre Stimme hätte Felsen gespalten.

Erschrocken klappte Kellen das Buch zu und machte einen Schritt zurück. Leider lag dort noch immer der umgestoßene Hocker, der ihn zu Fall brachte.

Ana machte einen unbewussten Schritt auf ihn zu, eine helfende Hand ausgestreckt, doch sie musste zurückweichen, als Lady DeCries ähnlich verblüfft in den Raum hinein wanderte. Sie hatte zuvor nur den Eindringling, aber nicht das Chaos bemerkt und es raubte ihr für Sekunden die Worte.

Sie machte erst eine halbe Drehung in die eine Richtung, dann eine Ganze in die andere. Ihre Stimme wurde kleiner, fragend.
„Wo ist Kaliah?" Ihr Blick wanderte zu dem Fenster und sie stürzte förmlich an Kellen vorbei, um auf die Straße darunter zu sehen. Doch Ana wusste bereits, dass sie dort keine Spuren finden würde.

„I-Ich weiß nicht." Kellen hatte Schwierigkeiten, wieder aufzustehen und verrenkte sich stattdessen, um sie weiter beobachten zu können, „Ich wollte Kaliah nur nach einem Bu-..."

Lady DeCries Luftschnappen schnitt ihm den Satz ab. Sie fuhr zu ihm herum, dass Kellen gerne zwischen den alten Bodenplanken verschwunden wäre.
„Sie ist fort!"

Kellens Augen wurden noch größer. Und das war nicht gut für seinen Kopf.
„Da-das sehe ich."

Lady DeCries sah anscheinend gar nichts mehr. Nicht mehr den Jungen vor sich, nicht mehr den verwüsteten Raum und all die Spuren, die auf einen Kampf hindeuteten. „Dein Bruder hat sie mir anvertraut", murmelte sie zu sich selbst, „Seine Verlobte." Ihr Kopf ruckte wieder hoch. „Was hast du ihr angetan?"

Kellen krabbelte inzwischen auf allen Vieren rückwärts von ihr dort.
„Nichts!"

„Hat dein Vater dich geschickt? Hast du sie ermordet?"

Ana musste sich beeilen, dass sie Kellen und Lady DeCries auswich, keinen Kontakt und die möglichen Folgen riskieren wollend. Sie verpasste Kellens Antwort, aber nicht, wie sich die Spannung im Raum änderte. Wie Lady DeCries zu ihrer alten Form zurückfand.

Sie war stehengeblieben, doch ihre massige Gestalt blockierte sämtliches verwaschenes Licht, das von draußen hereinstahl. Sie saß größer aus als sonst. Bedrohlich, wie die Geschichten, die Ana über sie gehört hatte. Die Hände wringend, versuchte sie logische Schlussfolgerungen zu ziehen, während Kellen wieder auf die Beine kam.

Ana erinnerte sich. Lady DeCries hatte sich erhofft, dass sie mit Adriels Gunst wieder zu ihrem Mann aufs Festland gelassen werden würde. Die Familie wieder vereint. Jetzt allerdings zerbrachen ihre Hoffnungen um sie herum wie Glaskugeln am Boden.
„Ich werde deinem Onkel schreiben müssen", sagte sie mit grabestiefer Stimme und fast einem Hauch von Mitleid, als sie Kellen ansah, „Du musst mir sagen, was mit ihr geschehen ist."

Eine Hand legte sich um Anas Oberarm und das Bild verfloss. Für einige Sekunden orientierungslos, versuchte sie zwischen Blinzeln ihre Gedanken zu ordnen. Kaliah hatte in dem Buch etwas gefunden, zu dem sie ohnehin Nachforschungen angestellt hatte. Und jemand hatte einen Weltenwandler geschickt, um sie loszuwerden. Aber Kellen war noch ein Kind in der Erinnerung. Er hatte nicht ausgesehen, wie jemand, der einen Tatort inspizierte, ob sein Plan Erfolg gehabt hatte.

„Bist du hier, um mich umzubringen?"

Ana blinzelte noch einmal und stellte fest, dass ein deutlich älterer Kellen auf sie hinunter starrte, ihren Oberarm gepackt. Er hatte sie erwischt.

Ana blinzelte noch einmal, sein altes Bild mit dem neuen vergleichend. Obwohl er deutlich gewachsen war und einen halben Kopf über Ana stand, sah sie immer noch das ängstliche Kind dahinter, das jetzt versuchte, sie unter bösen Blicken in die Hölle zu schicken.
„Du warst es nicht."

Die Worte waren raus, bevor sie vollkommen wieder in ihren Körper zurückgekehrt war. Und offensichtlich auch nicht das, was Kellen erwartet hatte. Überrascht lehnte er sich von ihr fort und erst jetzt sah sie den Dolch in seiner Hand.
„Was?"

Ana schüttelte den Kopf, um ihre Gedanken zu klären. Aber der Pfad vor ihr war deutlich. Seine Abneigung gegenüber seinem Onkel. Sie hatten ihm die Schuld gegeben. Und noch wichtiger: Das Buch, das immer noch unten auf dem Tisch lag.
Sie sah wieder zu ihm.
„Du hast Kaliah nicht verschwinden lassen."

Kellens Augen verengten sich zu Schlitzen. Unsicherheit ließ ihn das Messer fester packen.
„Woher würdest du das-..."

Ana öffnete ihre Faust und hielt ihm das kleine dunkle Monokular entgegen, das sich unter seinem verdutzten Blick noch kleiner machte. Sie hatte keine Zeit für seine Paranoia. Es gab einen Grund, warum das Monokular ihr diese Erinnerung gezeigt hatte.
„Du hättest es ihnen beweisen können, dass du die Wahrheit gesagt hast."

Kellen ließ sie los, als hätte er sich an ihr verbrannt. Sein Mund nahm einen verächtlichen Zug an, doch Ana erkannte den Schutzmechanismus dahinter.
„Das geht dich nichts an."

Ana wollte einen Schritt auf ihn zu machen, seine Hand nehmen, doch ein Blick von ihm genügte, um diesen Plan noch einmal zu überdenken.
„Warum hast du es nie geradegebogen?"

„Warum bemühen? Wenn ihnen mein Wort nicht reicht, was interessiert mich dann ihre Meinung?"
Er musste entschieden haben, dass sie wahrscheinlich keine große Gefahr darstellte, denn mit einem Ruck kehrte er ihr den Rücken zu und stampfte zu einer der hölzernen Wendeltreppen, um sie zu seinem Platz zurückzukehren.

Ana folgte ihm.
„Ihre Meinung interessiert dich jetzt, wo sie dir nicht mehr zuhören."

„Sie werden lernen, mir zuzuhören."

Er erreichte den unteren Teil zuerst und wurde schneller. Doch Ana wollte nicht aufgeben. Sie war so nahe daran, ein Geheimnis zu lüften, das ihr Blut förmlich vibrierte. (Oder es war das Monokular in ihrer Hand, das den tausend versammelten Erinnerungen der Bücher nicht widerstehen konnte.)
„Ich könnte es richtig stellen. Ich habe gesehen, dass du es nicht warst. Ich habe Kaliah-..."

Er drehte sich so abrupt zu ihr um, dass sie beinahe gegen ihn gelaufen wäre. Lediglich seine ausgestreckten Hände fingen sie ab und stellten sie nicht unsanft wieder auf ihre eigenen Füße. Sein Ausdruck blieb jedoch abweisend.
„Müh dich nicht. Es ist Vergangenheit."

Er würde in dem Punkt nicht nachgeben. Verzweifelt warf Ana dem Buch hinter ihm einen langen Blick zu. Was hatte Kaliah darin gelesen, dass sie verschwinden musste?

Vor ihr rollte Kellen mit den Augen und sie glaubt etwas wie schlimmer als mein Bruder zu hören.
„Wenn ich nicht schlafen kann, versuche ich, Rätsel zu lösen. Sie hat vor ihrem Verschwinden in dem Buch gelesen. Warum?" Er machte einen Schritt zur Seite und nickte zum Buch hinüber.

Ana war schneller an ihm vorbei, als er seinen Satz zu Ende bringen konnte. Das war die Frage!
„Weißt du welche Seite?" Das Buch in ihren Armen, drehte sie sich wieder zu dem Jungen um, der vorsichtig in den Seiten zu blättern begann.

„Nein. Nur grob den Abschnitt. Es war mittig aufgeschlagen, aber das Fenster stand offen. Vielleicht hat der Wind die Seite geändert." Seite für Seite schlug er um. Es war ein Buch über Prophezeiungen. Reich illustriert durch bunte Bilder, die Ewigkeiten gedauert haben mussten, bis sie endlich aus einer Feder geflossen waren.

„Hier." Ana stoppte seine Hand. Ihr Magen sank wie ein Fahrstuhl, als ihre Augen über die Zeilen huschten. Es war eine alte Prophezeiung. So alt, dass sie sich vorstellen konnte, dass die meisten Menschen sie vergessen hatten. Aber nicht jeder...

Kellen lehnte sich näher, die Stirn gerunzelt.
„Der schlafende Drache? Woher weißt du das?" Der misstrauische Unterton schlich sich wieder in seine Stimme.

Ana Blick verlor seinen Fokus und die Buchstaben verschwammen. Jemand hatte Kaliah hierfür verschwinden lassen. Jemand wollte, dass diese Prophezeiung vergessen blieb. Und sie hatte eine furchtbare Ahnung warum. Ihr Hals wurde eng, doch die Worte mussten trotzdem irgendwie raus.
„Zu viele Zufälle." Es war eine Halbwahrheit, doch sie kam langsam, wehrte sich mit jedem Wort. „Ich sehe das Symbol überall ein deinem Palast." Überall. Jeder der Broschenträger konnte hinter Kaliahs Verschwinden stecken.

Er nahm das Buch aus ihren Händen und begann selbst zu lesen, während Ana sich rückwärts gegen den Tisch lehnte und ihre Stirn massierte. Sie fühlte sich wieder wie im Fall auf den Pool zu. Mit den Armen rudernd, ohne Halt zu finden.

Als sie die Augen wieder öffnete, bemerkte sie Kellens Blick auf ihr. Ohne Licht war es schwer einzuordnen, ob er besorgt oder misstrauisch aussah.
„Fühlst du dich nicht gut?"

Nein. Ana wollte bereits abwinken. Sie tat einen tiefen Atemzug, bereit ein stoisches Gesicht aufzusetzen, als es ihr auffiel. Er wusste, dass er Kaliah nicht zu einer freiwilligen Flucht verholfen hatte. Sie konnte mit ihm reden. Und das war ein so absurdes Gefühl, dass sie sich auf den Stuhl setzten musste.
„W-Weißt du, wer der zweite Caraid war, während dein Großvater gestorben ist?"

Kellen runzelte die Stirn.
„Der vergessene Caraid. Aber der ist inzwischen tot."

War er nicht. Anas Magen sank wieder und sie stand auf.

Die Bewegung war schnell. Unkontrolliert. Das Messer erwischte ihre Haut und schnitt gerade so über den Oberarm, dass Blut quoll. Kellen hatte nicht einmal hingesehen. Ausgeholt in einer Geste, deren Antwort erstarb, als er Anas erschrockenen Laut hörte.

Blut quoll zwischen ihren Fingern hervor. Beißend und sengend.

Kellens Brauen schoben sich zusammen.
„Tut mir leid. Das... ich habe nicht nachgedacht..."

Es war nur ein oberflächlicher Schnitt. Kaum mehr als mit einem Papier.
„N-nichts passiert", es war eher die Art wie er die Wunde betrachtete, die Ana ein klein wenig aus dem Tritt brachte. Aber sie war selbst zu aufgewühlt, um klar zu denken. „I-Ich sollte zurück auf mein Zimmer gehen. Aber wenn du deine Meinung änderst, wegen Kaliahs Verschwinden..."

'Töte den Caraiden. Um unser Land zu retten.' Sie hatten niemals Adriel gesagt. 

Er hielt sie nicht auf. Selbst in Gedanken versunken, kam seine Antwort dumpf.
„Nein, ich denke, ich löse diesen Abend noch ein Rätsel und gehe dann selbst schlafen."

Ana rannte in ihr Zimmer. Es war ihr gleich, wer sie sah oder wem davon erzählt werden würde. Sie riss die Tür auf und stürzte sich auf ihre Bücher. Sir Ranwic hatte Recht gehabt. Und Lord Gallowen ebenfalls. Aber sie kannten nicht die ganze Bedeutung. Nicht, was es bedeutete.

Ana wusste, wer hinter dem Mord von Adriels Großvater steckte.

‚Ich habe den zweiköpfigen Drachen als Symbol der wahren Caraiden ausgesucht. Schlafend wacht er über ihr Herrscherrecht. Ein zweiköpfiger Drache weiß, dass er keine Macht erlangt, indem er den zweiten Kopf abbeißt. Wecke ihn nicht mit dem Versuch, denn wenn er vollständig erwacht ist, werde ich meine Höhle verlassen und das Land in meinem Zorn ertränken.' Die Worte flüsterten mit jeder umgeschlagenen Seite in ihrem Kopf nach. Wieder und wieder.

Aber der vergessene Caraid hatte es doch versucht. Die Broschen hatten das erste Auge geöffnet. Ein Siegel war gebrochen und Anderthal dem dunklen Schicksal einen Schritt näher, als es den Seelenweberinnen lieb war. 

Kaïa hatte es gewusst und Mika'il hatte versucht, Adriels Vater zu warnen. Aber warum? Adriels Vater war kein Caraid gewesen. Von dem, was Ana über ihn gehört hatte, war er nicht besonders nett gewesen, aber sein Mord an einem Caraiden hätte kein zweites Auge geöffn-... 

Ana stockte und stolperte. Es sei denn, der vergessene Caraid war noch im Palast. Und Ana hatte den Auftrag, ihn aufzuhalten.

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Ich bin im Urlaub! Also hoffentlich... ich plane diese Kapitel voraus und eigentlich sollte ich gerade am Strand liegen oder mich über den Tatendrang meiner zwei besten Freundinnen ärgern :D

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