Umwerfende Persönlichkeit.

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          Die Ruine war vollkommen weiß. Kühle Luft schlug ihnen entgegen, als Kaïa die hölzerne Luke zur Seite schob. Raureif hatte sich über den Steinen ausgebreitet, die von einem lange verlassenen Ort berichteten und knirschte unter ihren Schuhen. Hinter den zusammengefallenen Wänden zeichneten sich die dunklen Stämme alter Bäume ab, zwischen denen weit entfernte Lichter schienen.

Kaïa sah ebenfalls zu ihnen hinüber. Wolken sammelten sich hinter ihrer Maske und quollen zu jeder Lücke hinaus, wie bei einem schlafenden Drachen. Ungeduldig rieb sie ihre behandschuhten Hände aneinander. „Das Dorf ist gleich dort drüben."

Ana folgte ihr zögerlich aus den deutlich wärmeren Tunneln hinaus in die Abenddämmerung. Als sich ihre Augen erst einmal ein bisschen gewöhnt hatten, erkannte sie sogar die Formen von Fenstern und Straßenlaternen hinter den Lichtern. Flackernd und einladend.

...für jemand anderen.

„Glaubst du, sie haben dort noch mehr Zettel mit meinem Gesicht aufgehangen?" Die Vorstellung gefiel ihr nicht. Sie hatte immer angenommen, dass sie erst steckbrieflich gesucht werden würde, wenn sie mental schon so weit neben der Spur war, dass es sie nicht mehr interessierte. Jetzt war sie zwar mental neben der Spur... aber es interessierte sie noch. Und das war ätzend.

Kaïa schlug ihre Kapuze hoch.
„Definitiv. Aber weil ich dich anscheinend nicht alleine lassen kann, werde ich das Risiko eingehen." Um sie herum sammelten sich alle Schatten, bis nur noch ihre Augen befremdlich in das Halbdunkel hinaus leuchteten.

Der Satz war wie ein Echo aus einer anderen Welt. Fast konnte Ana Judys Stimme hinter den Worten hören. Dass Kaïa zu demselben Schluss gekommen war, wunderte sie nicht. Dass Kaïa es allerdings vielleicht mit einem ganzen Dorf an Rebellen aufnehmen wollte, schon. Ana schluckte trocken. Sie traute ihr zu, mit mehr als nur den drei Typen von dem Wasserloch fertig zu werden. Aber ein ganzes Dorf?

Kaïa ließ keine Diskussion zu. Die Hände unter ihren Mantel geschoben und die Schultern bis zu den Ohren gezogen stapfte sie los in Richtung der Lichter. Ana warf dem Wald einen letzten, langen Blick zu. Es war so vollkommen still, wie nur der Winter still sein konnte. Schließlich beeilte sie sich, hinter Kaïa her zu kommen.

Der Weg ins Dorf war nicht so weit, wie sie erwartet hätte. Um Nutzen aus dem natürlichen Vorrat des Waldes zu ziehen, hatte man das Dorf nahe an seinen Rand heran gebaut. Einzelne Bäume hatten sich sogar zwischen den Häusern gehalten, ihre Äste kahl im Wind.

Kaïa marschierte zwischen ihnen durch wie jemand, der den Weg zur nächsten Taverne kannte. Sie sah weder nach links, wo an einem schwarzen Brett Anas und Mika'ils Gesicht sie zehnfach anstarrten, noch nach rechts, wo in einer offenen Tür jemand mir einer Herde Schafe stritt.
„Zieh deine Kapuze hoch", war alles, was sie Ana auf dem Weg zuraunte, der Straße die kalte Schulter zeigend.

Ana folgte ihr, immer leicht geduckt wie ein streunender Hund. Frost reflektierte das Licht aus kleinen Fenstern, ein Versprechen von Wärme in einer kühlen Nacht. Dahinter sah sie die Schatten der Bewohner. Es zog Ana an, wie eine Motte und sie sah nur einen kurzen Augenblick zu lange hinein, um zu bemerken wie Kaïa abrupt stoppte.

Vor ihnen teilte sich die Hauptstraße in einen runden Platz auf, dessen unebene Steine weiß überzogen waren. In seiner Mitte hatte man eine Aussparung für einen Baum freigelassen. Im Halbdunkel der Nacht sahen seine Äste grau und knorrig aus. Nur weich erleuchtet von goldenen Adern. Sie warfen unregelmäßige Schatten wie Fingerzeige auf den Boden und eine sitzende Gestalt darunter.

Vor Anas Augen verzerrte und verschob sich das Bild, bis der Baum eine Straßenlaterne war und die Gestalt darunter älter und blutend. Aber er blutete nicht. Nicht mehr. Da waren schwarze Krusten auf dem vereisten Stoff. Dunkle, eisige Schatten unter seinen Händen.

Kaïas Hand schob sie hinter sich zurück, als hätte sie ein Eigenleben entwickelt. Aber anstatt Ana zurück zwischen die Häuser zu folgen, machte sie einen Schritt vor. Langsam. Testend. Dann noch einen. Für jemanden, der bisher den gesamten Weg beinahe gerannt war, lief sie jetzt als hielte sie die Luft an.

Ana blieb mit Abstand stehen. Aus großen Augen beobachtete sie, wie Kaïa sich näher an die formlose Gestalt heranpirschte, eine Hand auf ihren Beinholster, in dem ein silbernes Messer wartete. Kaïa lauschte mit jedem Schritt, sah den ganzen Platz und in jede Gasse, die hier mündete. Mit ihrer freien Hand schob sie die Kapuze der Gestalt zurück, doch ihre nach vorne gebeugte Haltung verdeckte Ana die Sicht. Es dauerte nicht lange.

Anas erster Schritt knirschte viel zu laut zwischen den Häusern. Bevor sie einen zweiten machen konnte, richtete Kaïa sich wieder auf, dieses Mal schneller. In einer hektischen vogelartigen Kopfbewegung sah sie einmal in jede Richtung, ehe sie mit wenigen großen Schritten wieder bei Ana war und diese an der Hand packte.
„Er war schon hier."

Die Worte waren nur ein Atemzug, rauchig und grau. Sie zeichneten den Nachtfuchs in die Nacht wie ein silbernes Bild. Ana starrte die leblose Gestalt an. Das musste Kaïas Informant gewesen sein. Die Erkenntnis, dass er nicht aus persönlicher Vorliebe nachts im Winter unter Bäumen saß, ließ sie bewegungslos zurück. Es war, als bräuchte ihr Verstand alle Kapazitäten ihres Körpers.

Kaïa packte sie an der Hand und zog sie hinter sich her. Während Ana nur Augen für den Mann hatte, den sie nie gekannt hatte, sah Kaïa strikt nach vorne. Sie wartete nicht als Ana stolperte und strauchelte. Das Messer jetzt in der Hand, sah sie immer noch in jede Richtung, bevor sie Ana rastlos weiterzog.

Er war ...tot.
Ana versuchte den Gedanken zu fassen, wie andere Menschen mit Fingern Herdplatten testeten.
Er war tot. Horror riss genüsslich langsam ein großes dunkles Loch in ihr auf und machte es sich darin gemütlich. Ihr Puls wurde zäh, als er ihr ins Ohr flüsterte, dass der Nachtfuchs nicht weit sein konnte. Er war für sie gekommen. Sie versuchte, sich zu retten und eine weitere Person war tot. Nicht wütend. Nicht mit Kratzern im Gesicht. Tot.

Kaïa zog sie zurück zum Wald, die ersten Bäume bereits links und rechts hinter sich lassend. Doch die Blicke über ihre Schultern stoppten nicht.
„Wir müssen zurück in die Tunnel. Wenn er den Eingang nicht kennt, können wir so einen Vorsprung rausholen." Jedes Wort riss sich mit einem heftigen Atemzug von ihren Lippen.

Loser Boden gab unter Anas dicken Schuhen nach und ließ sie schwanken. Ihr Puls übertönte ihre hastigen Schritte, aber ihre Bewegungen sandten Raureif und Tannennadeln zu Boden. Kälte biss in ihre Waden wie ein zorniges Tier und ihre Finger wurden bereits taub in Kaïas klammerndem Griff.

Erst als sie die Burgruine erreichten, ließ sie Ana los. Während Ana im zerbrochenen Torbogen stehen blieb, stürzte sie auf den hölzernen Eingang der Tunnel zu und machte sich an dem Verschlussmechanismus zu schaffen.

Etwas warnte sie vor. Das Gefühl ließ jedes einzelne Haar auf Anas Armen hochstehen wie eine kalte Berührung im Nacken. Suchend drehte sie sich im Kreis, doch die Schatten zwischen den Bäumen wollten ihre Geheimnisse nicht preisgeben. Da war kein Geräusch. Kein Tier, das sich in den Büschen bewegte. Nicht einmal der sanfte Nebel eines Atemzugs.
Aber sie wusste, dass er kam.

Aus dem Frost neben ihren Schuhen hob Ana einen schweren Stock auf, den Blick niemals von den Bäumen hinter den Ruinen nehmend. Er lag kalt und schwer in ihrer Hand. Sie hatte noch nie jemandem absichtlich Gewalt angetan, aber Angst flüsterte ihr ein, dass sie nicht zwischen den Ruinen ihr Ende finden wollte.

Langsam kam sie wieder aus der Hocke hoch und eine lautlose Warnung legte ihre durchsichtige Hand auf ihren Rücken. Er war hier.

„Tu dir damit nicht weh."

Mit einem Ruck schwang Ana den Ast durch die Luft und zog sich dabei empfindlich die Schulter nach vorne. Bevor sie den Schmerz selbst spürte, sah sie ihn im Gesicht des Mannes, der zwischen den Bäumen stand, als gehöre er dort hin. Nicht mehr als ein weiterer Schatten.

Neben ihr kam Kaïa ebenfalls auf die Füße und noch im selben Atemzug segelte ihr Messer an Ana vorbei. Ana spürte den eisigen Luftzug an der Wange, sah die Reflektion des Mondlichtes an der Klinge, doch der Nachtfuchs war schneller.

Nur wenige Millimeter vor seinem Gesicht schlug er den Dolch zur Seite weg, als verscheuche er nicht mehr als eine lästige Mücke. Klappernd fiel er zwischen zwei quadratische Steine, nutzlos im Schnee. Der Nachtfuchs nahm nie seine Augen von Ana.

Er musste Anfang dreißig sein, mit dunklem kinnlagen Haar, dessen Farbe sie im spärlichen Licht nicht bestimmen konnte. Aber die grünen Augen... Kontaktlinsen leuchteten nicht so. Er sah unwirklich aus wie ein Albtraum.

Jeder einzelne von Anas Fingern schloss sich fester um die raue Borke des Asts. Hinter ihr kam Kaïa in Bewegung. Ana machte einen Schritt zurück, da war sie schon an ihr vorbei. In jeder Hand ein neues Messer, stürzte sie sich auf den Nachtfuchs.

Sie musste springen, um den ersten Schlag von oben kommen zu lassen. Er blockte ihren Arm mit seinem, doch für den zweiten Hieb war er zu langsam.

Mit einem hohen Laut ging Ana in die Knie, als das Messer seinen Oberschenkel streifte. Mit einer Hand tastete sie nach ihrem eigenen Bein, an dem sich der Stoff des Rocks bereits verfärbte. Ihr Blut war warm und klebrig und hinterließ grelle Tropfen auf dem Reifüberzogenen Gras.

Kaïa wirbelte zu ihr herum, das Messer immer noch in der Hand. Eine halbe Entschuldigung auf den Lippen, hörte sie nie Anas unartikulierte Warnung als der Nachtfuchs seinen Ellenbogen gegen ihre Schläfe schlug.

Sie klappte zusammen wie eine fallengelassene Puppe. Die Frau, die es alleine mit drei bewaffneten Rebellen aufgenommen hatte, ohne ihr Schwert zu ziehen, lag zwischen ihnen, als hätte jemand die Fäden einer Puppe gekappt.

Ana kämpfte sich wieder in eine aufrechte Position, beide Hände am Stock, als hätte sie eine Chance. Ihr Bein pochte, sandte Schmerz durch ihren ganzen Körper, bis ihre Finger zitterten. Sie würde nicht hier sterben.
„Komm näher und ich breche dir sechs unterschiedliche Knochen."

Der Nachtfuchs hob erst eine Augenbraue und dann beide Hände. Und kam trotzdem einen Schritt näher. „Du bist verletzt. Ich kann dir helfen."

Ana versuchte einen Schritt zurückzumachen, doch ihr Körper weigerte sich Gewicht auf das Bein zu bringen. In einer roten Spur zog sie es hinter sich her. Weg von ihm.
„Nein danke."

Sie musste sich zwingen, nicht zu Kaïa zu sehen, aus Angst, dass sie seinen Angriff verpassen würde. In ihrer Peripherie war sie nur ein dunkler Schatten auf dem Boden. Leblos wie die Leiche unter dem Baum.

Er lachte nicht. Sie hätte erwartet, dass ein Wahnsinniger über sie lachen würde. Er war ein Mörder. Er hatte zwei Personen umgebracht, nur weil sie zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen waren.
Stattdessen blieb er vollkommen ruhig und entschieden un-wahnsinnig, was noch gruseliger war. Wahnsinnig kannte sie gut. Mit wahnsinnig konnte sie umgehen. Doch er sprach mit ihr, wie andere mit einem scheuen Tier.
„Ich bin alleine gekommen- du brauchst keine Angst vor mir zu haben."

Er machte noch einen Schritt. Ana machte ebenfalls einen. Beinahe hätte sie gelacht. Über seine erhobenen Hände. Und darüber, dass er sie wirklich für so dumm hielt.
„Du hast zwei Menschen ermordet. Du verstehst, wenn das mein Vertrauen ein klein wenig hemmt?" Sie konnte nicht anders als vorwurfsvoll klingen. Tränen brannten hinter ihren Augen, doch sie blinzelte sie mit Macht weg. Sie würde nicht klein vor ihm beigeben. Er hatte ihren Wegweiser nach Hause ermordet. Zwei Mal.

Ein Muskel an seinem Kiefer zuckte und er blieb tatsächlich stehen.
„Das ist wahr."

Er stritt es nicht mal ab. Oder gab ihr eine Art Ausrede wie die Jungs es sonst immer getan hatten, wenn sie Ana zu nahekamen oder sie berühren wollten. Er stand einfach dort.
„Aber ich nehme an, dass du mit Mord vertraut bist?"

Ana scannte den Wald nach Fluchtmöglichkeiten. Wenn sie zur Seite rannte und in den Tunnel flüchtete... nein. Der Verschlussmechanismus war immer noch nicht geöffnet. Und sie konnte Kaïa nicht dort liegen lassen. Außerdem war sie sich sehr sicher, dass er schneller war als sie. Selbst auf die Distanz zwischen ihnen musste er sicher einen halben Kopf größer sein als sie.

Sie musste ihn hinhalten, zumindest bis Kaïa wieder aufwachte. Aber wie? Erst zeitverzögert fiel ihr auf, was er zuletzt gesagt hatte.
Mit Mord vertraut?" Hatte er etwa die Gerüchte von Dr. Neill und dem Ohr gehört? Sie war ganz bestimmt nicht mit Mord vertraut und sie wollte es auch nicht werden. Aber das musste er ja nicht wissen.
„Komm näher und wir testen deine Theorie."

Er nahm die Hände nicht herunter als er einen weiteren Schritt auf sie zu machte. Langsam. Geduldig.
„Ich will sichergehen, dass du nicht verletzt wirst."

Natürlich. Die Lüge passte nicht zu ihm. Sie hing bitter wie abgelaufene Medizin zwischen ihnen und ließ Ana den Stock heben.
„Du willst, dass du nicht verletzt wirst."

Er verzog keine Miene. „Ana. Ich bezweifle, dass du überhaupt sechs Knochen benennen kannst, die du mir- uns- brechen willst. Lass den Stock los. Ich werde dir nicht wehtun. „Aber er war zu nah. Nur noch drei oder vier große Schritte und er hatte sie eingeholt.

„Ich dir schon." Sie ließ den Ast noch einmal schwingen und stoppte ihn damit das erste Mal in der Bewegung. Kaïa würde nicht rechtzeitig aufwachen. So lange konnte sie ihn nicht aufhalten.

„All meine Verletzungen werden auch dich verletzen." Sie sah es in der leichten Neigung seines Kopfes. Es war nicht so, als würde er aktiv versuchen sie in Sicherheit zu wägen- sie war sich ziemlich sicher, dass er generell wenig Emotion betrog. Aber irgendetwas sagte ihr, dass sie das Ende seiner Geduld erreicht hatte. Es echote in ihr wieder wie eine lange vergessene Erinnerung.

Ana lächelte.
„Mit nur einem Unterschied." Das erste Mal nahm sie den Blick von ihm und betrachtete den Ast in ihren Händen. Er war schwer und solide. Kühl von dem Frost um sie herum. Als sie schließlich den Nachtfuchs wieder ansah, hatte sie mit ihrem kleinen Schicksal abgeschlossen. „Du bist alleine gekommen. Mich holt jemand bald hier weg." Und bevor er zuckte, holte sie aus und schlug sich selbst den Ast gegen die Schläfe.

Der Schmerz war nicht schnell genug. Sie sah für einen Lidschlag noch, wie er in ihre Richtung startete, eine Hand ausgestreckt. Doch als ihre Knie nachgaben, ging auch er nieder. Und dann wurde alles dunkel.꧁꧂

"Manche Menschen lösen das Bedürfnis aus, sich schwere Gegenstände wiederholt gegen den Kopf zu schlagen. Leider gehen nicht alle davon weg." - Ana. Definitiv nicht wahnsinnig. 

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