Neun nach Leave

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Ich sehe Leave einen ganzen Tag lang nicht. Das hört sich nicht besonders lang an, aber das ist es, weil wir uns ja auch erst acht Tage kennen.

Ich bin das größte Arschloch überhaupt.

Benji sieht das übrigens zum Teil genauso, obwohl er Leave nicht ausstehen kann. Er versteht mich, hätte es aber richtig gefunden, wenn ich wenigstens gesagt hätte, dass ich mich bei ihr melde.

„Vielleicht will ich mich ja gar nicht mehr bei ihr melden."

„Ist doch egal, darum geht' s nicht. Du sagst das, um dein Gewissen zu beruhigen und sie auch ein bisschen, aber hauptsächlich machst du das, damit du nicht siehst, wie du ihr Herz brichst, wenn du es nicht sagst." Vermutlich hat er damit Recht. Wahrscheinlich hätte ich sagen sollen, dass ich mich melden werde, auch wenn ich es eventuell nicht tue. Obwohl, dann hätte ich sie ja angelogen und wäre ich dann nicht noch ein viel größeres Arschloch?

Es ist Sonntag und ich könnte sie besuchen, falls sie noch im Krankenhaus ist.

Sie wird sterben; natürlich ist sie noch im Krankenhaus.

Woher willst du das wissen? Bevor du sie umgekarrt hast, ist sie ja auch draußen gewesen und zur Schule gegangen.

Jaaah, aber vielleicht hat sie mit diesem „Ich habe kein Zuhause" gemeint, dass sie immer im Krankenhaus ist. Vielleicht ist sie nach dem Unterricht immer sofort in die Klinik.

Ja klar, als ob.

Uncool: Die Stimmen sind wieder da.

„Ich könnte dich hinfahren", spricht Benji beim Mittagessen das aus, was ich die ganze Zeit schon in Erwägung ziehe.

„Nein", sage ich trotzdem panisch und Molly, Mom und er sehen von ihren Tellern auf.

„Wohin?", fragt Molly nach.

„Zu Leave." Benji ist so ein Pisser.

„Zu deiner Freundin?"

„Sie ist nicht meine Freundin." Leider. Oder Gott sei Dank. Weiß ich im Moment nicht.

„Wie auch immer. Ich fahre dich zu ihr", sagt Benji mit einer wegwerfenden Handbewegung. Ich will nicht. Ich hatte noch gar nicht genügend Zeit darüber nachzudenken, was ich will.

„Mach dir mal nicht ins Hemd", versucht Molly mich wenig einfühlsam zu beruhigen. Mom lächelt mich nur müde an, als unsere Blicke sich treffen.

„Sie würde sich sicher freuen, Schatz", sagt sie leise. Sie hat ja keine Ahnung. Dass meine „Freundin", wie sie sie bezeichnen, sterben wird, wissen sie nicht. Ob sie es dann immer noch befürworten würde, dass ich sie besuche, bezweifle ich. Mom weiß genau so gut wie ich, wie es sich anfühlt, jemanden zu verlieren und sie weiß, dass man dieses Gefühl, wenn man es einmal erlebt hat, nie wieder haben will.

Benji spießt die letzte Nudel auf seine Gabel, isst sie genüsslich und steht auf. Theatralisch streckt er sich, gähnt herzhaft und sieht auf seine imaginäre Uhr am Handgelenk. „Wie sieht' s aus? Bist du bereit oder muss ich dich ins Auto schleifen?", fragt er gut gelaunt.

Ja, bitte. Bitte schleif mich ins Auto. Meine Beine fühlen sich an wie Pudding. Also, noch mehr als sonst, denn meine Muskeln sind ja allgemein nicht so ausgeprägt, wie ich das gerne hätte.

„Will!"

Reflexartig stehe ich auf und kippe dabei mein Glas Wasser um.

Stöhnend schüttelt Benji den Kopf. „Muss ich dazu noch was sagen?", fragt er.

Wortlos hole ich Küchenpapier, das Molly mir aber aus der Hand nimmt.

„Jetzt fahrt schon", fordert sie, während sie den See auf dem Tisch weg wischt.

Auf dem Krankenhausparkplatz angekommen, lasse ich mir sehr viel Zeit dabei, mich abzuschnallen, meine Haare zu richten und andere unnötige Dinge zu tun, um Zeit zu schinden.

Genervt beugt Benji sich über mich, öffnet meine Tür und schubst mich aus dem Wagen. Ich kann mich gerade noch wie eine ungeschickte Giraffe abfangen, ohne mich komplett auf dem Asphalt hinzulegen.

„Hey!", beschwere ich mich.

Benji würdigt mich keines weiteren Wortes, steigt ebenfalls aus, wirft die Tür zu und wartet, dass ich das gleiche mit meiner mache, damit er abschließen kann.

Ich denk ja gar nicht dran. Der Penner soll gefälligst im Wagen bleiben!

„Das kannst du vergessen", knurre ich.

Ihn beeindruckt das nicht im Geringsten. Tonlos läuft er um den E30 herum, schließt selbst die Beifahrertür und lässt den Schlüssel klicken.

„Benji!", fahre ich ihn an, weil er mich jetzt wartend ansieht.

„Was? Du glaubst doch wohl nicht ernsthaft, dass ich dich allein da rein gehen lasse. Du versteckst dich doch nur wieder stundenlang auf dem Klo", stichelt er, womit er leider nicht unrecht hat. Genau das war bis gerade eben mein Plan gewesen.

Missmutig verschränke ich die Arme vor der Brust und starre auf meine Schuhspitzen.

„Na komm schon, Kumpel. Wenn du brav bist, kauft Papi dir danach auch ein Eis", zieht Benji mich auf und klopft mir väterlich auf die Schulter.

Seufzend setze ich mich in Bewegung.

Am Empfang ist eine lange Schlange, die mich während es Wartens immer wieder dazu einlädt, die Biege zu machen, aber sobald ich mich auch nur einen Millimeter in Richtung Ausgang bewege, boxt Benji mich in die Seite. Die irritierten Blicke der Leute hinter uns jucken ihn kein Stück.

Selbst, als ein kleines Mädchen mit dem Finger auf uns zeigt und ihre Mutter darauf aufmerksam macht, dass der „komische Chinese den anderen komischen Jungen die ganze Zeit haut", lässt ihn das kalt. Er betont nicht mal, dass er Amerikaner ist.

Nach einer gefühlten Ewigkeit sind wir endlich ganz vorne in der Reihenfolge angelangt. Die genervte Schwester schenkt uns einen fragenden Blick, als Benji sie nur breit angrinst und ich krampfhaft versuche, nicht allzu schlecht gelaunt auszusehen.

„Wir würden gerne zu Leave...", setzt Benji an und betrachtet mich fragend.

„Ich hab immer noch keine Ahnung, wie sie mit Nachnamen heißt", brumme ich genervt.

„Was kannst du eigentlich?", zischt Benji, richtet sich dann aber wieder an die Schwester, die uns mit hochgezogener Augenbraue beobachtet. „Ja, also sie heißt wie gesagt Leave und wurde wegen eines Autounfalls eingeliefert", erklärt er.

„Und Sie sind?", fragt die Schwester desinteressiert. Automatisch verdrehe ich die Augen. Hatten wir diese Diskussion nicht schon? Nur mit einer anderen Schwester?

„Wir sind der Weihnachtsmann und sein verdammter Wichtel, meine Fresse", rutscht es mir heraus. Irritiert verengt die Krankenschwester die Augen zu zwei Schlitzen. Jetzt könnte sie Benjis Schwester sein. Oder Bruder.

„Wir sind Freunde von ihr. Er heißt Will Kingston und ich bin Benji Yong Joon Bae", erklärt Benji ruhig und versucht die Stimmung etwas zu beruhigen.

Erstaunlicherweise scheint das zu funktionieren, denn die Krankenschwester beginnt zu kichern.

„Bae? Sie wissen aber schon, was das auf Dänisch heißt, oder?"

„Nee. Ich spreche nur Chinesisch und Englisch", antwortet Benji unbeeindruckt. „Also, was ist jetzt? Ich muss pünktlich zum Reiskochen heute Abend wieder Zuhause sein, sonst schlagen mich meine strengen Eltern."

Das Lächeln vergeht der Schwester, dafür schleicht es sich auf meine Lippen.

Stumm hämmert sie auf ihre Tastatur ein und nennt uns dann endlich die Station und Zimmernummer von Leave, nachdem ich ihr mit meinem Ausweis versichert habe, dass ich wirklich Will Kingston bin. Was für eine Schnepfe!

An Leaves Zimmer angekommen, ist meine Laune schon wieder sehr durchwachsen. Ich bin unsicher, habe irgendwie Angst vor dem, was mich gleich erwartet und wütend bin ich auch ein bisschen. Und ich weiß nicht mal auf wen.

„Jetzt geh schon rein", murmelt Benji.

„Kommst du nicht mit?", rutscht es mir raus.

Benji schüttelt den Kopf. „Das ist deine Sache. Ich bin nur der Aufpasser, dass du nicht weg rennst."

Noch ehe ich antworten kann, klopft er für mich an die Tür. Ein leises „Ja?" ist von drinnen zu hören. Nervös greife ich nach der Türklinke und drücke sie runter.

Benji schiebt mich ins Zimmer, bevor ich es mir anders überlegen kann.

Und dann sehe ich sie. Sie steht am Fenster – dramatischer könnte es nicht sein – und sieht nach draußen. Barfüßig, in Stoff-Shorts und ihrem Pulli. Langsam dreht sie sich um und lächelt mich an. Erst jetzt fällt mir die Sonde in ihrer Nase auf, die zu einer Maschine führt. Auch aus dem langen Ärmel ihres Pullovers klettert ein Schlauch, der an einer Infusion sein Ende findet.

„Endlich bist du da! Ich hab schon gedacht, du hast keine Lust mehr auf mich."


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