Null Komma Irgendwas nach Leave

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Ich sehe das Mädchen an dem Tag in der Schule nicht mehr wieder. In Kunst soll eine neue Schülerin vorgestellt werden, doch sie meldet sich nicht, als sie von der Lehrerin aufgerufen wird. Ich sehe mich nach ihr um. Kein verwaschener Pulli, keine rosa Haare. Sie ist nicht da und die Lehrerin erwähnt kein zweites Mal ihren Namen.

„Könnte doch auch irgendein anderes Mädel gewesen sein, Mann." Benji checkt echt gar nichts. Wie viele Menschen wechseln denn bitte während des Semesters die Schule? Ich habe keine Ahnung von Mathe, aber es können echt nicht viele sein.

„Ich weiß, das wolltest du jetzt nicht hören, aber man muss der Wahrheit ins Auge sehen", hängt er noch hinten ran und mir fallen auf Anhieb 'ne Million vermeintlich rassistische Bemerkungen über Schlitzaugen ein, aber ich bin nicht in der Stimmung, mir ein Battle mit Benji zu liefern. Außerdem muss der mich nachher noch nach Hause fahren.

Molly steht in der Haustür, als Benji mich absetzt. Als sie mich sieht, kommt sie auf mich zu und wirft mir ihre Autoschlüssel zu.

„Ich hab' auf dich gewartet", sagt sie, als wäre es das offensichtlichste der Welt. Sie nickt in Richtung ihres Wagens und ich ziehe die Augenbrauen zusammen. Ich bin nicht mehr gefahren, seit es passiert ist.

„Wo fahren wir hin?", frage ich und bleibe wie angewurzelt stehen. Kurz sehe ich nach hinten, Benji ist weg.

„Du fährst uns zum Friedhof", sagt sie und wartet, dass ich die Türen öffne. Als Antwort werfe ich den Schlüssel zurück. Sie beobachtet seine Flugbahn und lässt ihn vor sich auf den Boden fallen.

„Ich fahre nicht", erkläre ich, weil sie es scheinbar nicht versteht.

„Natürlich fährst du. Du bist von uns beiden eher der Fahranfänger."

„Das sehe ich aber anders."

„Du hast deine Schwester tot gefahren, ich nicht", könnte sie jetzt sagen, aber das macht sie nicht. Sie sieht mich nur weiter gelassen an und lehnt sich an ihr Auto. Die Arme verschränkt sie vor der Brust.

„Meinetwegen. Aber umso länger du wartest, desto wahrscheinlicher wirst du nie wieder fahren und das weißt du, Will."

„Du bist nicht meine Psychologin." Sie grinst mich an und ich ahne nichts Gutes.

„Da erzählst du deinen Lehrern aber seit Wochen was anderes." Woher zur Hölle weiß sie das schon wieder?

„Dein Musiklehrer hat mich angerufen." Der? Von dem habe ich es am wenigsten erwartet. Von allen anderen schon irgendwie, aber eigentlich beweist das ja nur das, was ich sowieso schon wusste: Ihr Mitgefühl war nur dafür da, um ihr eigenes Gewissen zu beruhigen.

„Und? Was hast' e dem Penner erzählt?" Zwischen ihren Augenbrauen entsteht eine schmale Falte.

„Er hat gefragt, ob es richtig ist, wie er dich behandelt."

„Wie ein Stück Scheiße, mit dem er glücklicherweise Geld verdient?"

„Wie alle anderen." Ich hasse meine Tante, die entwaffnet mich mental so gut wie immer. Weil ich keine Lust mehr auf die Diskussion habe, lasse ich den Schlüssel klicken und steige ein.

„Wenn der Gang nicht reingeht, musst du...", setzt Molly an, als sie sich auf den Beifahrersitz schwingt. „...die Kupplung kommen lassen, in den Lehrlauf schalten und dann in den ersten – ich weiß", beende ich ihren Satz und sie nickt zufrieden. Dann tätschelt sie die Amatur der Klapperkiste.

„Mal sehen, ob wir alle lebend ankommen." Ich glaube, ihr Galgenhumor ist mir nie so sehr aufgefallen, wie in diesem Moment.

Ich schaffe es, trotz meiner zitternden Hände, den Wagen ohne den Motor abzuwürgen, zu starten und verdränge nach ein paar Mal blinzeln das Loch in der Windschutzscheibe. Und das Blut. Und die Scherben. Und den leeren Beifahrersitz.

„Wir fahren übrigens zum Friedhof." Bei diesem Satz würge ich das Scheißauto das erste Mal ab. An der Kreuzung.

Mein Herz rast und rast und rast und würde ich nicht die Handbremse ziehen, aussteigen und losrennen, würde es aus meinem Körper springen, zusammen mit meiner toten kleinen Schwester, die sich darin versteckt hat.

-

Ich weiß nicht, wie ich hier her gekommen bin. Ich weiß nicht mal genau, wo ich bin. Als ich wieder klar denken kann ist das erste, was ich sehe, als Elsa vor meinen Augen verschwindet, sind meine Oberschenkel. Mein Oberkörper ist vornübergebeugt und ich muss mich abstützen, damit ich nicht umkippe. Meine Lunge brennt, als wäre ich gerade einen Marathon gelaufen. Und endlich, endlich, ENDLICH spüre ich meinen Herzschlag wieder. Gibt mir die Sicherheit, dass es noch da ist, also mein Herz. Und Elsa mit ihm. Als ich mich aufrichte, habe ich immer noch keine Ahnung, wo ich bin. Es ist nicht mehr hell, die Sonne wird fast von der Erdoberfläche verschluckt und es ist bewölkt. Wie lange bin ich bitte kopflos durch die Gegend gerannt? Ich hätte locker von 'nem Laster überrollt werden können oder so.

Ehrlich gesagt bin ich ziemlich überrascht darüber, dass ich auf einem Hügel hinter dem Wohngebiet stehe, in dem ich aufgewachsen bin. Er ist nicht besonders hoch, ein Berg ist es auf keinen Fall. Allerdings ist er zumindest so hoch, dass man einige Straßen überblicken kann und neben mir steht ein riesiger Weidenbaum. Wusste gar nicht, dass es sowas hier gibt. Obwohl es eigentlich nicht untypisch ist für eine Vorstadt. Ich sollte öfter vor die Tür gehen. Und mehr Sport treiben.

Da ich keine Ahnung habe wie spät es ist, lasse ich mich ins Gras fallen und denke darüber nach, hier zu übernachten. Den Plan verwerfe ich ziemlich schnell. Genauer gesagt in dem Moment, als es anfängt zu nieseln. Wie lange brauche ich von hier wohl bis nach Hause?

„Also wenn du weiter da liegen bleibst, wirst du ertrinken wie ein Truthahn, der zu lange in den Regen schaut." WAS ZUR HÖLLE GEHT DENN JETZT AB?

Ich springe so schnell auf, dass ich ausrutsche und auf dem Bauch lande. In meinem Blickfeld stehen jetzt schwarze Chucks und ich weiß sofort, wer das ist. Sie hilft mir nicht auf, sie lacht. Obwohl es auch ziemlich erniedrigend wäre, wenn sie es tun würde. Okay, ich habe gerade wie ein Mädchen geschrien und mich auf die Fresse gepackt – es ist schon jetzt erniedrigend.

„Hast du auch noch vor aufzustehen?" Ich rappele mich auf und sobald ich stehe, überrage ich sie um einige Zentimeter. Wassertropfen bilden kleine Nester in ihren Locken, obwohl sie wieder die Kapuze trägt, wie heute Vormittag. Ihr Gesicht ist so außergewöhnlich, dass ich sie einfach anstarren muss. Sie hat keine Stupsnase und sie sieht auch nicht niedlich aus. Sie ist schön. Überwältigend schön. Die Nase ist schmal und gerade, die Augen sind, trotzdem sie im Schatten liegen, wach und klar und ihre Lippen – oh Gott – ihre Lippen. Die Wangenknochen liegen hoch und allgemein hat sie sehr klare Konturen in ihren Gesichtszügen. Jetzt lächelt sie.

„Und jetzt?", fragt sie und ich checke erst nicht, dass das eine Frage war, weil ihre Stimme so fest ist und geradlinig ist, obwohl sie so schmal und zart wirkt.

„Wie?"

„Du solltest nach Hause gehen, Will", sagt sie dann plötzlich und wippt leicht auf den Fußballen vor und zurück. Die Hände hat sie tief in den Taschen ihres Pullis vergraben.

„Jaaah", ist alles, was ich zustande bringe. Sie schenkt mir ein schiefes Lächeln, wie ist das möglich? Wie kann man nur eine Seite seiner Lippen hochziehen und nicht absolut dämlich dabei aussehen?

„Manchmal frage ich mich, ob Menschen sich in Wasser auflösen, wenn sie nur lange genug darin einweichen. Wie Zucker", murmelt sie dann ganz plötzlich und weil mir Wasser in die Augen läuft, sehe ich erst nach mehrmaligem Blinzeln, dass sie sich abgewandt hat und nun den Hügel runter läuft.

Sie verschwindet in der Dunkelheit und mit ihr mein „Nur die unbedeutenden lösen sich irgendwann auf, aber nicht wegen des Regens."



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